Der als ‚Festsetzungserlass‘ bekannte Schnellbrief des Reichssicherheitshauptamtes vom 17. Oktober 1939 mit dem Betreff „Zigeunererfassung“ erging, um die zu dieser Zeit beabsichtigte Deportation aller Sinti:ze und Rom:nja im Deutschen Reich vorzubereiten. Im Schnellbrief heißt es dazu: „Auf Anordnung des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei wird binnen kurzem im gesamten Reichsgebiet die Zigeunerfrage im Reichsmaßstab grundsätzlich geregelt. Ich ersuche daher, sofort folgende Maßnahmen einzuleiten […]“.1Schnellbrief des Reichssicherheitshauptamtes – Tgb. Nr. RKPA. 149/1939 -g- – vom 17.10.1939 betr. Zigeunererfassung, in: Reichskriminalpolizeiamt (Hrsg.), Vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Erlasssammlung (= Schriftenreihe des Reichskriminalpolizeiamtes, Bd. 15), Berlin o.J., 156-156R, Zitat 156.
Über die Kriminalpolizei(leit)stellen – also den zwischen dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) und den Polizeibehörden vor Ort zuständigen Mittelinstanzen – wurden sämtliche Ortspolizeibehörden und Gendarmerien angewiesen, den in ihrem Bereich lebenden Sinti:ze und Rom:nja „die Auflage zu erteilen, von sofort ab bis auf weiteres ihren Wohnsitz oder jetzigen Aufenthalt nicht zu verlassen“. Explizit wurde darauf hingewiesen, dass bei einem Verstoß gegen diese Auflage der Erlass zur Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung anzuwenden war, der die Einweisung in ein Konzentrationslager vorsah. Über diejenigen, die gegen die Auflage verstießen, legte das RKPA eine gesonderte Fahndungsliste an.
Um eine schnellstmögliche und umfassende Erfassung zu erreichen, wurden vom 25. bis 27. Oktober 1939 Fahndungstage durchgeführt. Die Erfassung der Personalien hatte nach einem bestimmten Schema familienweise zu erfolgen. Während der Erfassung sollte zugleich die Identität der erfassten Personen anhand bereits vorhandener „Zigeunerausweise“ übergeprüft werden. Sofern Einzelne noch keinen solchen Ausweis besaßen, sollte dieser während der Aktion ausgestellt werden.2Vgl. LHAK, 517,1/209, Geheimes Rundschreiben der KPLSt Köln betr. Zigeunererfassung, 20.10.1939, 10-13. Das erhobene Material war parallel von den unteren Instanzen an die Kriminalpolizeistellen (KPSt) und das RKPA zu übermitteln. Aufgabe der Sachbearbeiter bei den KPSt war es, die Meldungen zu ergänzen (u.a. mit erkennungsdienstlichem Material), nach Gebieten zu ordnen und über die ‚Dienststellen für Zigeunerfragen‘ bei den Kriminalpolizeileitstellen (KPLSt) an das RKPA zu senden.
Das RKPA wertete das Material „im Einvernehmen mit dem Reichsgesundheitsamt“ aus. Dies bedeutete, dass die Rassenhygienische Forschungsstelle hinzugezogen wurde, um im Zuge der Erfassung auch die rassistische Kategorisierung jeder einzelnen Person vorzunehmen. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit bei gleichzeitiger rassenbiologischer Erfassung zeigt die rassenpolitische Zielrichtung dieses Erlasses an.
Nach Durchführung der Erfassung hatten Sinti:ze und Rom:nja eine „Eröffnungsverhandlung“ mit folgendem Wortlaut zu unterschreiben: „Mir ist heute eröffnet worden, dass ich und meine Angehörigen meinen Wohnsitz oder jetzigen Aufenthaltsort bis auf weiteres nicht verlassen darf und dass ich im Falle der Nichtbefolgung dieser Anordnung in ein Konzentrationslager untergebracht werde. Jeden Wechsel der Wohnung am Wohnsitz- oder Aufenthaltsort habe ich vor dem Wechsel der Ortspolizeibehörde zu melden. Die Eröffnung dieser Auflage wird von mir und meinen Familienangehörigen durch Namensunterschrift bestätigt.“3Beispiele in Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. R, BR 2034/20, 344 und 1127. Die unterschriebene „Eröffnungsverhandlung“ wurde nicht ausgehändigt, sondern zu den Akten genommen, womit die Kriminalpolizei über ein für die weitere Verfolgungspraxis zentrales Sanktionsmittel verfügte.
Die Kriminalpolizeileitstellen wurden in dem Schnellbrief außerdem darüber informiert, das für „die später festzunehmenden Zigeuner“ bis zu ihrem „endgültigen Abtransport“ Sammellager einzurichten seien und sie „schon jetzt“ alle dafür notwendigen Voraussetzungen (Bewachung, Fahrzeuge, Verpflegung) zu schaffen hatten. An welcher Stelle und wie viele derartige Lager einzurichten waren, hatten die KPLSt selbstständig nach Lage der Dinge vor Ort zu entscheiden.
Die mit großem bürokratischem Aufwand verbundene Festsetzung wurde über Wochen und Monate im Hinblick auf die angekündigte Deportation reichsweit unter Hochdruck betrieben. Anders, als von den Verfolgungsinstanzen erwartet, folgten bis auf die rund 2.500 Menschen betreffende Mai-Deportation von 1940 weitere Deportationen zunächst nicht. Auch danach erteilten die Polizeibehörden das Verbot des Ortswechsels immer dann, wenn sie jemanden antrafen, den sie als ‚Zigeuner‘ oder ‚Zigeunermischling‘ identifizierten. Die Einschränkung der Freizügigkeit behielt bis Kriegsende Gültigkeit. Die Festsetzung erwies sich als ein „mehrjähriges Provisorium“ (Michael Zimmermann), das den Verfolgungsinstanzen eine engmaschige Kontrolle und einen umfassenden Zugriff auf die Angehörigen der Minderheit erlaubte. Sobald ein Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung festgestellt wurde, folgte in der Regel die Verschleppung in ein Konzentrationslager.