Filippovščina

Logo
Suche
Filippovščina
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 28. November 2025

Das ehemalige Dorf Filippovščina [Deutsch: Filippowschtschina] im Nordwesten Russlands gehörte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Gutsbesitz der deutschstämmigen Adelsfamilie von Berends, deren Herrenhaus (usad’ba) samt umliegendem Park sich in unweiter Nachbarschaft befanden.1„Usad’ba Berendsa“. Nach der Oktoberrevolution wurde Filippovščina Teil des Dorfsowjets Ščepec im Rajon Gdov, Oblast Leningrad (heute Oblast Pskov). Im Zuge des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa“) wurde der Rajon Gdov zwischen dem 15. und 18. Juli 1941 von der Wehrmacht erobert und blieb gut zweieinhalb Jahre unter deutscher Besatzung. Administrativ wurde Filippovščina Teil des rückwärtigen Heeresgebiet Nord und lag im Zuständigkeitsbereich der 207. Sicherungsdivision.

Besatzung

Der Raum Gdov wurde in den ersten Monaten der Okkupation zu einem Sammelbecken für tausende Zivilist:innen, die von der 18. Armee aus den frontnahen Gebieten vor Leningrad abgeschoben wurden oder von dort flohen, was die ohnehin angespannte Versorgungslage noch weiter verschärfte.2Hürter, „Die Wehrmacht vor Leningrad“, 412–413. Nach Ermittlungen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (ASK) deportierten die Deutschen 1941 auch 26 Rom:nja, darunter zehn Kinder, von Luga aus nach Filippovščina und brachten sie bei einheimischen russischen Bauern:Bäuerinnen unter, um die arbeitsfähigen Erwachsenen unter ihnen als landwirtschaftliche Hilfskräfte einzusetzen. Die Zwangsverschickung war in diesem Fall also auch ökonomisch motiviert.

Allerdings blieb der Arbeitseinsatz nicht von langer Dauer, denn die Rom:nja von Filippovščina fielen wenig später einer gezielten Mordaktion zum Opfer. Im Februar 1942 durchkämmten Einheiten, die aus „Deutschen, Finnen und Esten“ bestanden haben sollen, Teile des Rajons Gdov, um Partisan:innen und deren mögliche Unterstützer:innen unter der einheimischen Bevölkerung aufzuspüren. Die Zusammensetzung der Einheiten deutet darauf hin, dass Angehörige einer der sechs estnischen Sicherungsgruppen oder der mehrheitlich aus Ingermanland-Finnen bestehenden Sicherungsgruppe 187, die vom Armeeoberkommando 18 aufgestellt worden waren, involviert waren.

Ermordung der Rom:nja

Ende Februar 1942 kam eine 60 Mann starke Einheit unter Führung eines deutschen Offiziers schließlich auch in das Dorf Filippovščina. Bei minus 30 Grad Frost trieben sie sämtliche Rom:nja halbbekleidet aus ihren Häusern zu einer Brücke am Dorfeingang. Anschließend mussten sich auch die übrigen Einwohner:innen nahe der Brücke versammeln. In einer Ansprache vor den Versammelten bezichtigte ein deutscher Soldat die Rom:nja des Kontaktes zu Partisan:innen, obwohl im Vorfeld keinerlei Untersuchungen oder Verhöre durchgeführt worden waren. Anschließend wurden die romani Familien „zur alptraumhaften Unterhaltung“ [radi kašmarnogo razvlečenija] der Mörder gezwungen, vor den Augen des versammelten Dorfes zu tanzen, ehe sie aus drei Maschinengewehren erschossen wurden.

Nach der Erschießung mussten die russischen Dorfbewohner:innen die Leichen begraben. Ein zehnjähriger romani Junge, der von den Kugeln lediglich an der Hand verwundet worden war, versuchte vergeblich, mit Hilfe der Dorfbewohner:innen zu fliehen. Er wurde gefangen und auf Befehl des deutschen Offiziers lebendig begraben. Auf die gleiche Weise wurde mit Kleinkindern und schwerverletzten Erwachsenen verfahren.3GARF, f. 7021, op. 39, d. 457, ll. 1–17ob, hier ll. 6ob–7, Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über Verbrechen, die von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Komplizen während der Okkupation verübt wurden, ohne Datum [Mai 1944].

Der Ablauf der Ereignisse lässt Rückschlüsse auf die Motivation der Täter zu. Zum einen richtete sich die Mordaktion in Filippovščina gezielt und ausschließlich gegen Rom:nja, was ein rassistisches Motiv erkennen lässt, das durch die zynische Inszenierung eines ‚letzten Tanzes‘ der Opfer auf einer ‚Bühne‘ (Brücke) eine explizit antiziganistische Ausprägung erfuhr, indem romantisierende Stereotype als ethnisch-kulturelle Zuschreibung aufgerufen und zur Demütigung der Opfer eingesetzt wurden.

Zum anderen ging es den Tätern um die Einschüchterung der russischen Dorfgemeinschaft von Filippovščina, die gezwungen wurde, die gesamte Gräueltat mitanzusehen. Der erhobene Vorwurf des Partisan:innenkontakts verfing dabei jedoch keineswegs. Noch über zwei Jahre nach den Ereignissen zeigten sich die Dorfbewohner:innen von dem grausamen Mord an „vollkommen unschuldigen“ [ni v čёm ne povinnych] und „wehrlosen Zigeunern und ihren Kindern“ [nad bezzaščitnymi cyganami i ich det’mi] bestürzt.4Ebd.

Kriegsende

Am 18. Dezember 1943 führten die deutschen Besatzer Zwangsevakuierungen der Ortschaften im Bereich des Dorfsowjets Ščepec durch. Die verbliebenen russischen Einwohner:innen versuchten jedoch, sich dem Zugriff zu entziehen, indem sie in die umliegenden Wälder flohen. Daraufhin wurden mehrere Dörfer niedergebrannt. So auch Filippovščina, wo die Deutschen zudem vier aufgegriffene Personen bei lebendigem Leib verbrannten und drei weitere erschossen.

Filippovščina wurde nach seiner Zerstörung im Krieg nicht wiedererrichtet und ist heute eine Dorfwüstung. Im Zuge ihrer Leningrad-Novgorod-Operation befreite die Rote Armee den Rajon Gdov Anfang Februar 1944. Kurz darauf setzten die Ermittlungen der ASK zum Massenmord an den Rom:nja in Filippovščina ein, die im Mai 1944 abgeschlossen wurden. Nach derzeitigem Kenntnisstand konnten jedoch keine beteiligten Einzeltäter ermittelt und juristisch belangt werden.

Einzelnachweise

  • 1
    „Usad’ba Berendsa“.
  • 2
    Hürter, „Die Wehrmacht vor Leningrad“, 412–413.
  • 3
    GARF, f. 7021, op. 39, d. 457, ll. 1–17ob, hier ll. 6ob–7, Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über Verbrechen, die von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Komplizen während der Okkupation verübt wurden, ohne Datum [Mai 1944].
  • 4
    Ebd.

Zitierweise

Martin Holler: Filippovščina, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 28. November 2025.-

1942
Ende Februar 1942In dem russischen Dorf Filippovščina, deutsch besetzte Sowjetunion, werden 26 Rom:nja erschossen, darunter zehn Kinder. Die mutmaßlich deutschen, estnischen und Ingermanland-finnischen Täter zwingen die nicht-romani Dorfbewohner:innen, der Erschießung beizuwohnen und die Leichen anschließend zu begraben.