Editorial

Suche
Editorial

Die Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa hat es sich zur Aufgabe gemacht, das vorhandene Wissen über dieses Menschheitsverbrechen zu sammeln, aufzubereiten und übersichtlich zur Verfügung zu stellen. Mit diesem Vorhaben sind wir schon weit gekommen, sind aber längst nicht fertig. Wenn Sie wissen möchten, was Sie bereits jetzt auf dieser Website finden können, lesen Sie die Tipps, die unter „Aktuelles“ bereitstehen.

Hier erfahren Sie mehr über das Konzept der Enzyklopädie, und darüber, wie die veröffentlichten Informationen in Zusammenarbeit mit mehr als 90 Autor:innen derzeit entstehen. Außerdem wird erläutert, wie die Inhalte für die Website aufbereitet werden.

Idee und Arbeitsweise

Die Verfolgung und Ermordung von Sinti:ze und Rom:nja während der Zeit des Nationalsozialismus erfuhr über Jahrzehnte keine Aufmerksamkeit und die begangenen Verbrechen wurden, nach langjährigem politischem Engagement von Selbstorganisationen, allzu spät als Völkermord anerkannt. Auch die Geschichtswissenschaft hat das Thema sehr vernachlässigt; erst seit den 1990er-Jahren entstanden vermehrt quellenbasierte Untersuchungen, die jedoch in allen Ländern im Hinblick auf die Aufarbeitung des Tatgeschehens lückenhaft bleiben.

Dies alles führt dazu, dass das Wissen über den Völkermord sehr gering ist, zumal der Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja im schulischen Unterricht wenig bis keinen Raum einnimmt. Welche Folgen dies hat, zeigt beispielhaft eine Umfrage aus dem Jahr 2022: 70 Prozent der Jugendlichen in Deutschland können keinen Ort benennen, der an die während des Nationalsozialismus verfolgten Sinti:ze und Rom:nja erinnert.1Memo. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2022, bearb. von Michael Papendick, Jonas Rees, Maren Scholz, Andreas Zick. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Berlin, Bielefeld: Universität Bielefeld 2022, 25. Dieser Befund ist umso alarmierender, als es seit 2012 ein dieser Opfergruppe gewidmetes zentrales Denkmal in Berlin gibt, und zudem an verschiedenen Gedenktagen, oftmals organisiert und getragen von Angehörigen der Communitys, die Ermordung von Sinti:ze und Rom:nja im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in den Mittelpunkt gerückt wird. Dass selbst diese beiden bedeutenden Erinnerungsorte kaum wahrgenommen werden, zeigt einmal mehr, wie notwendig eine niedrigschwellige und zuverlässige Bereitstellung von Fakten ist.

Doch wie können die Fakten zusammengetragen werden? Seit 2015 gibt es eine Übersicht über die bis dahin erschienene Forschungsliteratur, die im Auftrag der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erstellt wurde.2Anna Abakunova, Ilsen About. The Genocide and Persecution of Roma and Sinti. Bibliography and Historiographical Review. Ed. International Holocaust Remembrance Alliance, 2016. Diese Bibliografie ist nicht vollständig und auch nicht mehr auf dem neuesten Stand der Forschung. Aber sie gibt einen Eindruck davon, wie vielfältig die internationale Literatur zum Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja ist. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass es viele Forschungslücken gibt und dass es nicht möglich ist, sich auch nur annähernd einen Einblick in die in vielen Sprachen vorliegende, oft auch entlegen veröffentlichte Literatur zu verschaffen.

Wie kompliziert das Vorhaben ist, zeigt sich auch daran, dass der gesamte europäische Raum zu bearbeiten ist, denn alle Länder waren von dem Zweiten Weltkrieg, wenn auch auf unterschiedliche Weise, betroffen, und somit auch die Angehörigen der Minderheit in diesen Ländern. Ausgehend von der heutigen europäischen Landkarte sind es 46 Länder, die zu betrachten sind. Zu 33 Ländern liegen derzeit zumindest hinreichende Kenntnisse vor, um diese in der Enzyklopädie zu veröffentlichen: Belarus, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Italien, Kosovo, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Moldawien, Montenegro, Niederlande, Nordmazedonien, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ukraine, Ungarn und das Vereinigte Königreich. Aufgrund bestehender Forschungsdefizite wurde die Bearbeitung der folgenden 13 Länder vorläufig zurückgestellt: Albanien, Andorra, Griechenland, Irland, Liechtenstein, Malta, Monaco, Portugal, San Marino, Spanien, Türkei, Vatikanstadt, Zypern.

Am Beginn der Enzyklopädie stand daher die Gewissheit, dass ein so komplexes Vorhaben nur in Zusammenarbeit mit Autor:innen umgesetzt werden kann, die selbst in öffentlichen oder Familienarchiven geforscht und/oder Publikationen zum Thema vorgelegt haben. Deshalb wurden seit Ende 2020 insgesamt 18 Arbeitsgruppen zu einzelnen oder mehreren Ländern3So gibt es eine Arbeitsgruppe zu sechs post-jugoslawischen Ländern. organisiert, in denen ein Austausch zwischen dem Team der Enzyklopädie und den Autor:innen über die Themen und die Anzahl der zu schreibenden Lemmata – wie die Stichwörter in einem Nachschlagewerk heißen – stattfindet. Dieser Austausch bildet die Grundlage dafür, dass die europäische Dimension des NS-Völkermordes in all seinen Facetten abgebildet werden kann. Die entstehenden Texte der Autor:innen werden sukzessive auf der Website veröffentlicht, sobald sie redaktionell bearbeitet sind. Da die Enzyklopädie auf Deutsch und auf Englisch bereitgestellt wird, wird das gesammelte Wissen zu und aus den vielen verschiedenen Ländern erstmals öffentlich zugänglich.

Anders als in einer Monografie, die meist eine Gesamtdarstellung anstrebt und sich dabei thematisch begrenzen muss, ermöglicht es das Format einer Enzyklopädie, den Wissensbestand nach und nach zu einem größeren Gesamtbild zusammenzufügen. Dies gilt auch dann, wenn – wie im Hinblick auf den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa – aufgrund fehlender Forschung an der einen oder anderen Stelle ein Mosaikstein fehlt. Auf bestehende Forschungslücken soll in den Lemmata möglichst explizit hingewiesen werden. Da die Online-Enzyklopädie jederzeit eine Aktualisierung der vorhandenen Lemmata oder die Veröffentlichung weiterer Lemmata erlaubt, kann und soll das vorhandene Wissen nicht festgeschrieben, sondern als ein Wissensbestand verstanden werden, der einer stetigen Überprüfung, Umschreibung und Ergänzung unterliegt.

Rassismuskritische Perspektive

Das Projekt Enzyklopädie ist einem anti-rassistischen Ansatz verpflichtet. Vor dem Hintergrund eines über Jahrhunderte währenden Antiziganismus, der mit stigmatisierenden Zuschreibungen zu gewaltförmiger Ausgrenzung, gesellschaftlicher Ungleichheit und einer Missrepräsentation der Angehörigen der Minderheit geführt hat, müssen die vorhandenen Wissensbestände kritisch überprüft werden. Dies gilt umso mehr, als die Quellen, die über die Verfolgung und Ermordung der Sinti:ze und Rom:nja zur Verfügung stehen, zu einem überwiegenden Teil aus der Perspektive der Täter:innen stammen. Doch auch wissenschaftliche Publikationen bieten keine Gewähr, dass sie die historischen Sachverhalte hinreichend kritisch durchdringen. Viele Studien, selbst wenn sie nach 1945 erschienen sind, tradieren oftmals rassistische Perspektiven weiter. Wir müssen uns daher, wie es die Wissenschaftlerin Jane Weiß formuliert hat, auch mit der „toxischen Wirkung von Wissen“ auseinandersetzen.4Jane Weiß, Bildungsteilhabe von Sinti und Roma im Spannungsfeld von Geschichte, Wissensproduktion und Biographie. Habilitationsschrift, Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2022, 129.

Hinzu kommt, dass Wissenschaftler:innen an den begangenen Verbrechen nicht unwesentlich beteiligt waren. Sei es, dass sie die ideologischen Grundlagen für die Ermordung der Minderheit gelegt oder die Verbrechen legitimiert haben, sei es, dass sie an der Organisation von Verfolgung und Mord oder an der Durchführung der Verbrechen aktiv mitgewirkt haben. Nach 1945 wurde kaum jemand dafür zur Rechenschaft gezogen, sodass sie ihre Karrieren fortsetzen konnten und ihre Perspektiven weiterhin den gesellschaftlichen Diskurs über Sinti:ze und Rom:nja dominierten – zumindest so lange, bis die Bürgerrechtsbewegungen seit den 1970er-Jahren einen Perspektivwechsel einläuteten.

Die Enzyklopädie begegnet dieser Problematik mit mehreren Strategien. Grundlegend ist, sich als Wissenschaftler:in dem vorhandenen Wissensbestand kritisch zu nähern und sich der Wirkungsmacht von Wissenschaft bewusst zu sein. Wesentlich ist zudem, verwendete Begriffe kritisch zu beleuchten. Dies gilt vor allem für die rassistische Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘, verschleiernde Begriffe wie ‚Zigeunerlager‘ und exkludierende Zuschreibungen wie ‚nichtsesshaft‘. Solche Begriffe werden nicht nur in distanzierende Anführungsstriche und kursiv gesetzt, sondern es gibt zu jedem dieser Begriffe ein eigenes Lemma, das den semantischen Gehalt, die Historizität und die Wirkmächtigkeit dieser Begriffe reflektiert.

Eine weitere Strategie besteht darin, die Sichtbarkeit der von Verfolgung Betroffenen zu erhöhen. Sofern es möglich ist, werden bei der Beschreibung konkreter Verfolgungsmaßnahmen auch Namen von Betroffenen genannt, ergänzt um deren Geburts- und Todesjahr. Widerstand und widerständiges Verhalten, etwa Flucht aus einem Lager oder Protestschreiben, sowie die Vielfalt an Überlebensstrategien sollen ebenfalls nicht nur abstrakt dargestellt, sondern konkret anhand von individuellen Beispielen veranschaulicht werden. Darüber hinaus wird die Enzyklopädie etwa 150 eigenständige biografische Texte zu Sinti:ze und Rom:nja enthalten. So können die Individualität der von Verfolgung Betroffenen und ihre Agency aufgezeigt werden und es ist sehr konkret zu erkennen, wie zerstörerisch und todbringend die Verfolgung für die Familien der Sinti:ze und Rom:nja war und wie sehr die Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg über 1945 hinaus fortwirkten. Die Lebensgeschichten werden auf diese Weise auch in den Wissenskanon eingeschrieben.

Fotografien

Zu einem rassismuskritischen Ansatz gehört auch ein reflektierter Umfang mit der fotografischen Repräsentation des Völkermordes. Fotografien, insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus und aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft, sind problematische Quellen, weil sie die Opfer oftmals herabwürdigen und einen falschen Eindruck von der Lebensrealität und insbesondere von den Macht- und Gewaltverhältnissen vermitteln. Dieser Thematik wird in der Enzyklopädie ein eigenes Lemma gewidmet.

Zudem ist die Wirkmächtigkeit von Fotografien zu bedenken, die das geschriebene Wort bei Weitem übertrifft. Deshalb soll der Umgang mit Fotografien in der Enzyklopädie in hohem Maße reflektiert und behutsam sein.

Die Auswahl der Bildmotive folgt daher einem kuratorischen Konzept. Die Motive sollen nicht der Illustration eines Lemmas dienen, sondern werden als historische Quellen ausgewählt, die auf einer zusätzlichen Ebene Informationen zum Tatgeschehen vermitteln. Generell ist nur ein sehr begrenztes Bilderreservoir überliefert, das die Dimension der Verbrechen vermitteln kann. Aber gerade diese wenigen Fotografien aus der Zeit vor 1945 sind von großer Bedeutung, weil sie neben der Abbildung des Tatgeschehens zugleich eine Beweiskraft haben, auf die angesichts der Leugnung oder Bagatellisierung des Völkermordes zurückgegriffen werden soll. Relevante Motive sind in dem Zusammenhang: Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen, Sinti:ze und Rom:nja als Häftlinge in Zwangs- und Konzentrationslagern (Appelle, medizinische Experimente) oder in Zwangsarbeitsbataillonen, Sinti:ze und Rom:nja als Opfer der Erfassung der Rassenhygienischen Forschungsstelle und dergleichen. Bei solchen Motiven werden naturgemäß ethische Fragen berührt, die uns ständig begleiten. Manche Fragen sind geklärt, etwa, dass Aufnahmen von entblößten Menschen nicht abgebildet werden. Aber dürfen Menschen, die ihrem Tod entgegensehen, abgebildet werden? Ist jede Polizeiaufnahme abzulehnen oder gibt es Aufnahmen, die verwendet werden können, weil es das einzige Bild ist, das es von der abgebildeten Person gibt? Gibt es Angehörige, die gefragt werden können, ob sie mit einer Veröffentlichung einverstanden sind?

Im Hinblick auf die Abbildung von Täter:innen gilt, dass eine sehr enge und begrenzte Auswahl getroffen werden soll. Zum einen soll deutlich werden, dass der Völkermord kein abstraktes Geschehen, also keine „Tat ohne Täter“ war. Andererseits vermitteln die einschlägig bekannten Porträtfotografien aus den NSDAP- oder SS-Personalakten wenig bis nichts über die Täterschaft. Abbildungen sollen die Betreffenden möglichst in dem Wirkungskreis zeigen, der Einfluss auch auf das Leben und Sterben von Sinti:ze und Rom:nja hatte. Auch muss eine Balance bei der Repräsentation verschiedener Tätertypen, von Schreibtischtäter:innen bis SS-Schergen, gefunden werden.

Von den meisten Tatorten gibt es keine Darstellungen, die das Tatgeschehen veranschaulichen könnten. Jedoch kann die „Architektur der Gewalt“ auch durch solche Abbildungen erfahrbar gemacht werden, die Lager oder andere Tatorte in ihrer Topografie zeigen. Dies gilt etwa für zeitgenössische Fotografien des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, des Gettos Litzmannstadt oder der vielen Zwangslager in mehreren Ländern.

Ein besonderes Augenmerk wird auf die Repräsentation von Sinti:ze und Rom:nja gelegt. Ihnen wird vielfach bis heute Zugehörigkeit, Individualität und Agency abgesprochen. Das vorhandene Bilderreservoir stigmatisiert sie meist als fremd, heimatlos, unzivilisiert, kulturlos und verelendet, und solche Motive werden in der Enzyklopädie nicht gezeigt. Stattdessen soll dieser Form der Stigmatisierung aktiv entgegengewirkt werden. Private Fotografien von Sinti:ze und Rom:nja können die Individualität und Heterogenität der von Verfolgung Betroffenen veranschaulichen. Zudem zeigen Fotografien aus dem privaten Alltag die Betroffenen in ihren sozialen Zusammenhängen, bevor ihnen von den Täter:innen das Menschsein abgesprochen wurde. Zugleich ist darauf zu achten, dass in der Enzyklopädie keine Bilderwelt erzeugt wird, die die Verbrechen überblendet.

In einem begrenzten Umfang sollen auch Fotografien aus der Zeit nach 1945 gezeigt werden. Aufnahmen von Täter:innen vor Gericht oder von Gedenkstätten an Tatorten, von Protestaktionen mit Bezug zur Anerkennung und Entschädigung des Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja oder Gedenkveranstaltungen veranschaulichen die Bedeutung der Nachwirkungen der NS-Verfolgung bis in die Gegenwart.

Jede Fotografie wird mit einer Bildbeschreibung versehen, die so umfassend und detailliert wie möglich den Kontext der Aufnahme beschreibt. Neben den üblichen Copyright-Angaben werden zudem so ausführlich wie möglich Informationen über Ort, Abgebildete, Datum der Aufnahme und Urheber:innen angegeben. Auch kann die Geschichte der Überlieferung der fotografischen Quelle relevant sein. Auf der Website werden die Fotografien in einem eigenen Bereich als „Fotografische Perspektiven auf den Völkermord“ präsentiert. Einzelne Fotografien werden kontextgebunden auch in Lemmata eingefügt. In den Lemmata sind die Fotografien jedoch nur dann sichtbar, wenn die Leser:innen diese aktiv einschalten. Damit soll die Dominanz der Bilder gegenüber der Schrift ein wenig eingehegt werden.

Präsentation der Inhalte

Während in einem gedruckten enzyklopädischen Werk geblättert werden kann und sich über den Index behandelte Inhalte erschließen lassen, bietet eine Online-Enzyklopädie vielfältigere Formen der Strukturierung und Bereitstellung des Wissens. Hier wird erläutert, welche Zugangsmöglichkeiten – über die Steuerleiste oben rechts – angeboten werden.

Die Lemmata können von A bis Z angesteuert werden. Auf dieser Ebene ist auch eine Schnellauswahl nach Ländern möglich, mit der rasch der Haupttext zu einem Land gefunden werden kann.

Die Lemmata können zudem in einer Sortierung nach Rubriken ausgewählt werden. Diese Rubriken verweisen sowohl auf zentrale Themenfelder im Zusammenhang mit dem NS-Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa als auch auf inhaltliche Schwerpunkte der Enzyklopädie. Durch die Zurverfügungstellung der Lemmata auch in dieser Sortierung ist insbesondere ein vergleichender Blick auf die Entwicklungen und Verfolgungsmaßnahmen in den europäischen Ländern möglich, und zwar nach Räumen, Tatorten, Biografien von Sinti:ze und Rom:nja, dem Verfolgungsapparat und im Hinblick auf die Nachwirkungen des Völkermordes. Eine weitere Rubrik dient als Glossar.

Eine besondere Herausforderung ist die Entwicklung der Chronologie, in der alle Ereignisse aus den einzelnen Lemmata zusammengeführt werden. Hier zeigt sich immer wieder, wie ungenau manchmal die Kenntnisse über wichtige Aspekte der Verfolgung sind, und oftmals sind intensive Recherchen notwendig, um ein bestimmtes Datum zu ermitteln. Doch erweist sich dieser Aufwand als lohnenswert: Allein das Scrollen durch die einzelnen Ereignisse lässt Taträume und Taten in vergleichender europäischer Perspektive sichtbar werden, wie es bislang nicht möglich war. Da die Ereignisse nicht nur aus den Lemmata heraus auf die Chronologie führen, sondern bei jedem Ereignis auch nachgesehen werden kann, in welchen Lemmata es verwendet wird, entsteht eine neue Vernetzung von Wissen, das auch für zukünftige Forschungen von Bedeutung ist. Auch in der Chronologie wird Wert darauf gelegt, dass die von Verfolgung Betroffenen sichtbar werden.

Der Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja ist ohne eine lange Vorgeschichte der Stigmatisierung und Ausgrenzung und ohne den rassistischen Umbruch, der im 19. Jahrhundert in vielen europäischen Gesellschaften einsetzte, nicht möglich gewesen. Diese Vorgeschichte wird in zahlreichen Lemmata auch thematisiert. Doch es wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf den thematischen Schwerpunkt der Enzyklopädie, bewusst entschieden, die Chronologie erst mit dem Jahr 1933 zu beginnen, also dem Jahr, in dem das nationalsozialistische Regime in Deutschland entstand, das fortan die entscheidenden Schritte hin zum Völkermord in Gang setzte. Ebenso bewusst wurde entschieden, nicht mit dem Jahr 1945 aufzuhören. Wie die Gesellschaften mit dem Völkermord umgingen und umgehen und welche Nachwirkungen der Völkermord für die Überlebenden und deren Nachkommen hatte und hat, ist ein so schwerwiegendes und gegenwärtiges Kapitel, das es nicht unterschlagen werden soll.

Mit jedem Lemma, das in der Enzyklopädie veröffentlicht wird, wächst die Chronologie an, und es droht eine gewisse Unübersichtlichkeit. Da die Chronologie jedoch auch durch die Volltextsuche erfasst wird, kann aus der Fülle von Daten bei Bedarf gezielt ein Suchergebnis kreiert werden, etwa nach einem bestimmten Land, einem Lager oder einer Person.

Der Index versucht, alle Orte, Personen und Schlagworte zu erfassen. Die sorgfältige Indizierung ist in einem Forschungsfeld, das lückenhaft und im Wissenschaftsbetrieb nach wie vor unterrepräsentiert ist, von großer Bedeutung. Durch die Erschließung im Index werden beispielsweise auch Orte sichtbar, von denen bekannt ist, dass sie ein Tatort waren, die jedoch aufgrund fehlender Kenntnisse nicht in einem Lemma dargestellt werden können. Hier wird dem Grundsatz gefolgt, dass keine Information verloren gehen soll. Vielleicht stößt jemand auf diesen Ort und kann Wissen beisteuern, vielleicht kennt jemand die Person, von der uns die Geburts- oder Todesdaten fehlen.

Ebenfalls im Index ist eine Liste aller Autor:innen zu finden. Hier kann in Erfahrung gebracht werden, welche Lemmata die:der jeweilige Autor:in geschrieben hat, und es wird angezeigt, in welcher Sprach- und in welcher Textversion die von ihr:ihm verfassten Lemmata vorliegen.

Die „Fotografischen Perspektiven auf den Völkermord“ sind bereits erläutert worden, nicht aber die „Kartierung der Verbrechen“. Dies ist eine dynamische, stetig ergänzte Karte, in der alle Tatorte – unterschieden nach Massakerorten, Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie anderen Haftstätten – dargestellt sind. Jeder einzelne Punkt auf der Karte kann angesteuert werden, und von dort gelangt man auf das Lemma, in dem es Informationen zu dem Tatort gibt. Eine solche Übersicht existiert für die Opfergruppe der Sinti:ze und Rom:nja bislang nicht, und es wird sich mit dem Fortgang der Arbeiten an der Enzyklopädie vermutlich zeigen, dass das bisherige Bild über die Dimension der Verfolgung und Ermordung von Sinti:ze und Rom:nja korrigiert werden muss.

Daneben gibt es eigens für die Enzyklopädie produzierte „Thematische Karten“. Insgesamt sind 18 Karten geplant, aktuell sind sechs davon zu sehen (März 2024). Neben einer Übersicht über Europa im Jahr 1942 werden die Zwangslager im Deutschen Reich und in Frankreich sowie die Verfolgung in Italien und den Benelux-Ländern kartografisch dargestellt. Eine weitere Karte über Massakerorte im Generalgouvernement verweist auf eine gravierende Leerstelle in der Forschung: Über die meisten Stätten ist wenig bekannt, und die Zusammenstellung von Informationen zu diesen Tatorten stellt eine der großen Herausforderungen für die Enzyklopädie dar.

Schließlich ist die Volltextsuche zu erwähnen, die es erlaubt, zu prüfen, ob ein bestimmtes Wort in einem der Lemmata oder in der Chronologie erwähnt wird.

Der Gestaltung der Website liegt der Anspruch zugrunde, die Inhalte so übersichtlich wie möglich zu präsentieren. Bei der Farbgebung waren die Werke der Überlebenden, Schriftstellerin und Künstlerin Ceija Stojka eine Quelle der Inspiration.

Umgang mit Länder- und Ortsbezeichnungen

Die Enzyklopädie behandelt einen Zeitraum, in dem es – vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg – zu Grenzverschiebungen und staatlichen Neugründungen gekommen ist. Territoriale und administrative Veränderungen sowie die Umbenennung von Orten müssen daher berücksichtigt werden.

Ausgangspunkt für die Überblicks-Lemmata zu einzelnen Ländern ist das heutige Staatsgebiet (wie etwa Frankreich, Polen oder Tschechien). In diesen Überblicks-Lemmata wird allerdings erläutert, welche Staatsform und welche räumliche Ausdehnung das Land vor der deutschen Besatzung (oder Besatzung durch Verbündete) beziehungsweise vor dem Zweiten Weltkrieg hatte. Im Falle von Besatzung wird dann dargelegt, welches Okkupationsregime herrschte und in welche Territorien das Land gegebenenfalls aufgeteilt wurde. Weiterhin wird das Verfolgungsgeschehen in den einzelnen Territorien kurz dargestellt. Jedes Territorium, das sich durch ein spezifisches Besatzungsregime auszeichnet, wird außerdem zusätzlich in einem eigenständigen Lemma ausführlicher bearbeitet. Durch die Indexierung, Verlinkung und mithilfe von Karten bleibt der Gesamtzusammenhang erhalten.

Die Transformationsprozesse seit 1989/90 haben zur Auflösung Jugoslawiens, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei geführt. Gleichwohl sind wesentliche historische Prozesse während des Zweiten Weltkrieges und danach nur in Bezug auf die damals bestehenden Staaten darstellbar, weshalb sie in der Enzyklopädie mit Überblicksbeiträgen vertreten sein werden.

Bei Ortsnamen werden (in der deutschen wie in der englischen Version) die im Kontext der Enzyklopädie relevanten historischen Namen verwendet. Das sind in der Regel die vor der deutschen Besatzung völkerrechtlich gültigen Bezeichnungen. Es folgen im Lemmatext Angaben zur geografischen Lage, bei Bedarf auch zum heutigen Namen und zur heutigen staatlichen Zugehörigkeit. Umbenennungen und Varianten, die für den Zeitraum, den das Lemma behandelt, relevant sind, werden ebenfalls genannt. Lediglich die Namen von Hauptstädten und anderen bekannten Orten, deren deutsche Bezeichnungen im heutigen Sprachgebrauch fest verankert sind, werden in der deutschen Version so bezeichnet, etwa Belgrad oder Moskau. Davon abweichend werden die vom deutschen Okkupationsregime eingeführten Namen bei Lagern, Gettos oder anderen Haftstätten (etwa Auschwitz, Belzec, Litzmannstadt oder Hodonin bei Kunstadt) verwendet, um strikt zwischen dem Lagerregime unter deutscher Besatzung und den (polnischen oder tschechischen) Orten zu unterscheiden.

Schlussbemerkungen

Es gibt einige Aspekte, die erst im Laufe der weiteren Bearbeitung Gestalt annehmen werden. Dies betrifft etwa die Geschlechterverhältnisse. Frauen und Männer waren von der Verfolgung unterschiedlich betroffen. Studien über geschlechtsspezifische Aspekte sind im Hinblick auf Sinti:ze und Rom:nja jedoch kaum vorhanden. Es wurde im Rahmen der Bearbeitung der Lemmata darauf geachtet, jeweils konkret zu benennen, ob Frauen (Pl. Sintize bzw. Romnja) oder Männer (Pl. Sinti oder Roma) betroffen waren. Eine differenziertere Ausarbeitung zu diesem Thema soll erfolgen, wenn der Fortgang der Arbeiten einen besseren Überblick erlaubt. Gleiches gilt für eine zusammenfassende Darstellung des Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja, der erst auf der Basis aller Lemmata geschrieben werden kann.

Am Beginn eines solchen Vorhabens wie einer Enzyklopädie stehen immer Konzepte, die darauf zielen, eine gewisse Einheitlichkeit in den Beiträgen herzustellen. Das betrifft etwa die Ausführlichkeit, mit der auf Entwicklungen vor 1933 beziehungsweise vor den territorialen Veränderungen der Jahre 1938 bis 1941 eingegangen wird, ob in einem Lemma über Konzentrationslager immer auch die Kommandanten genannt werden sollen, oder welche Angaben in biografischen Lemmata zwingend erforderlich sind. Von solchen Vereinheitlichungen ist die Herausgeberin nach und nach abgerückt. Viel zu verschieden sind die Forschungsstände in einzelnen Ländern und zu den verschiedenen Themen, viel zu verschieden auch die Quellenlage und das Verfolgungsgeschehen.

Ebenfalls sehr heterogen sind die Autor:innen, die allerdings neben ihrem großen Engagement für die Arbeit an der Enzyklopädie in der Regel etwas Zweites teilen: Dass sie sich dieses Themas nicht im Rahmen ihrer hauptberuflichen Tätigkeit annehmen können, sondern dafür ihre Freizeit verplanen. Dieser Umstand verweist nochmals darauf, wie randständig das Forschungsfeld leider immer noch ist und dass es keine akademischen Positionen gibt, die der Forschung über den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa gewidmet sind.

Ohne einen gewissen Grad an Pragmatismus konnte daher diese Enzyklopädie nicht begonnen werden, und sie wird sich auch nur mit pragmatischem Vorgehen weiter entwickeln können. Das heißt keinesfalls, dass die Inhalte nicht sorgfältig abgewogen und ausgewählt würden, sondern das heißt vor allem, dass es keine normierten Beiträge gibt bzw. geben wird. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass trotz größter Sorgfalt immer Fehler entstehen können, und dass jede Anregung, etwas zu verbessern oder zu ergänzen, dankbar aufgegriffen wird.

Am Ende seien noch einige Bemerkungen zu den Zielen des Vorhabens erlaubt. Die Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa ist ein Werk kollektiven Wissens, das dieses kollektive Wissen stetig kritisch ergänzen, erweitern und vertiefen möchte. Sie zielt darauf, neue Forschungen anzuregen. Gedenkpolitische und erinnerungskulturelle Diskurse sollen durch quellenbasierte Forschungen eine Vertiefung und Erweiterung erfahren. Die Enzyklopädie will eine breite Öffentlichkeit erreichen, um das Wissen über den Völkermord stärker in der Gesellschaft zu verankern. Ein weiteres Ziel ist es, dem nach 1945 ungebrochen weiterwirkenden Antiziganismus zu begegnen und so einen Beitrag zu seiner Überwindung zu leisten. Schließlich ist die Enzyklopädie ein Symbol für die Anerkennung des an Sinti:ze und Rom:nja begangenen Völkermordes, das nicht nur, aber insbesondere für die Opfer und deren Nachkommen wichtig und notwendig ist.

Wenn wir etwas davon mit unserer Arbeit erreichen, hat sie sich gelohnt.

Karola Fings, 3. März 2024