Rom:nja und Sinti:ze stellen die größte nationale Minderheit in der Tschechischen Republik dar. Gesetzlich wird als nationale Minderheit eine Gruppe definiert, die sich von den anderen Einwohner:innen des Landes „durch ethnische Herkunft, Kultur, Sprache und Tradition“ unterscheidet. Qualifizierten Schätzungen zufolge leben derzeit etwa 250.000 Rom:nja und Sinti:ze in der Tschechischen Republik.
Ungefähr 80 Prozent von ihnen haben ihre Wurzeln in der Slowakei, da eine beträchtliche Anzahl slowakischer Rom:nja nach 1945 in das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik gezogen ist, meist aus wirtschaftlichen Gründen. Die Übrigen bestehen aus einer Gruppe von Vlach-Roma und Nachkommen der böhmischen und mährischen Rom:nja und Sinti:ze, von denen nur wenige den Völkermord während des Zweiten Weltkrieges überlebt haben. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften sprechen verschiedene Dialekte des Romanes und vertreten unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die Frage einer übergreifenden Identität als Rom:nja.
Politische Veränderungen und Antiziganismus
Anfang 1993 teilte sich die ehemalige Föderation der Tschechischen und der Slowakischen Republik in getrennte Staaten auf. Dies brachte in der Tschechischen Republik für viele Menschen mit slowakischen Wurzeln Komplikationen mit sich. Vor allem Rom:nja, die in der Slowakei geboren worden waren, mussten ein kompliziertes bürokratisches und diskriminierendes Verfahren durchlaufen, um die tschechische Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Nach einer positiven Phase Anfang der 1990er-Jahre, als Rom:nja als nationale Minderheit anerkannt wurden und ihre Vertreter:innen am politischen Leben teilnahmen, begann der soziale Status eines großen Teils der Minderheit rapide zu sinken. Ein großer Teil der Rom:nja und Sinti:ze ist von erheblicher sozialer Ausgrenzung, hoher Arbeitslosigkeit und Segregation im Bildungsbereich betroffen.
Trotz der langjährigen staatlichen Politik zur Integration und Inklusion der romani Bevölkerung haben anhaltender Rassismus, Diskriminierung vor allem in den Bereichen Beschäftigung und Wohnen sowie das Versagen der staatlichen Behörden zu einer anhaltenden Marginalisierung und Segregation von Rom:nja geführt. Die unbefriedigenden Lebensbedingungen haben seit Ende der 1990er-Jahre einen Teil der Rom:nja dazu bewogen, in einige westliche Länder (vor allem in das Vereinigte Königreich und nach Kanada) auszuwandern.
In den 1990er-Jahren zeigte sich die Zunahme des Rechtsextremismus in zahlreichen physischen Angriffen auf Rom:nja, die in einigen Fällen zum Tod der Angegriffenen führte. In der Mehrheitsgesellschaft herrschen immer noch Vorurteile und Stereotypen vor, was zu antiziganistischen Erscheinungsformen führen kann. Antiziganistische Einstellungen verbreiten sich derzeit auch zunehmend im Internet in sozialen Netzwerken. Gegen Rom:nja, Sinti:ze und ihre Kultur gerichtete Hassreden sind nicht nur bei rechtsextremen Gruppen, sondern auch bei populistischen Politiker:innen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene weit verbreitet.
Aktivitäten, Forschung und Entschädigung
Andererseits gibt es ein breites zivilgesellschaftliches Engagement von Rom:nja in der Tschechischen Republik, um soziale Teilhabe und gleiche Rechte zu erreichen. Seit den 1990er-Jahren wurden zahlreiche nicht staatliche Verbände und Organisationen gegründet, die sich mit Kultur, Bildung und sozialen Angelegenheiten befassen. Neben gedruckten Zeitschriften wie „Romano Hangos“ und „Romano Voďi“ gibt es auch Online-Nachrichtendienste und Videoplattformen (z. B. ROMEA, TukeTV). Romani Autor:innen veröffentlichen literarische Werke in einer Vielzahl von Genres.
Seit den 1990er-Jahren hat sich auch das Gedenken, die Forschung und die Aufklärung über die nationalsozialistische Verfolgung der Rom:nja und Sinti:ze während des Zweiten Weltkrieges im Protektorat Böhmen und Mähren spürbar entwickelt. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte das Museum der Roma-Kultur in Brno [Brünn], das historisches Material sammelt, öffentliche Vorträge anbietet, verschiedene Publikationen herausgibt und eine Dauerausstellung eingerichtet hat.
Der Historiker Ctibor Nečas (1933–2017) blieb weiterhin eine wichtige Persönlichkeit für die Forschung, aber auch jüngere Forscher:innen begannen, sich stark zu engagieren. Die Öffnung von Archivbeständen für tschechische und internationale Forscher:innen und die Entwicklung neuer methodischer Ansätze ermöglichten die Erschließung neuer, bisher wenig erforschter Aspekte der Geschichte. Seit 1991 spielt auch die Abteilung für Romani-Studien an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag eine wichtige wissenschaftliche und pädagogische Rolle auf dem Gebiet der Geschichte und Kultur der Rom:nja.
Seit den 1990er-Jahren werden in der Tschechischen Republik ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager und ihre Nachkommen entschädigt. Das Gesetz Nr. 217/1994 Slg., das eine Pauschalentschädigung vorsah, bot den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung die Möglichkeit einer finanziellen Entschädigung. Seit Ende der 1990er-Jahre wurden Entschädigungen auch auf der Grundlage des Programms des Schweizerischen Humanitären Fonds für die Opfer des Holocaust, des Programms der deutschen Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (Stiftung EVZ) über die Partnerorganisation Tschechisch-Deutscher Zukunftsfonds und des Programms der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gewährt.
Gedenkstätten
Dank der öffentlichen Debatte über die tschechische Verantwortung für den Völkermord an den Rom:nja, die in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre begann, fand insbesondere das ehemalige ‚Zigeunerlager‘ Lety bei Pisek zunehmend Beachtung in den Medien. Wichtig waren auch die öffentlichen Debatten über die Funktion der Lager Lety bei Pisek und Hodonin bei Kunstadt, d. h. darüber, ob sie ‚nur‘ Zwangsarbeitslager oder doch Konzentrationslager gewesen sind.
Die kontinuierlichen Langzeitaktivitäten von romani und nicht romani Aktivist:innen, Nachkommen der Opfer und einigen Nichtregierungsorganisationen führten allmählich zu einer grundlegenden Umwandlung der Areale der ehemaligen ‚Zigeunerlager‘ im Protektorat Böhmen und Mähren in Orte der Erinnerung.
In Hodonín bei Kunštát und in Lety bei Písek finden auf den ehemaligen Lagerfriedhöfen jährliche Gedenkveranstaltungen statt und es wurden Denkmäler eingeweiht. Zwischen 2008 und 2017 erwarb der tschechische Staat beide Orte von ihren privaten Eigentümer:innen, um dort Gedenkstätten mit Dauerausstellungen einzurichten. Die Gedenkstätte Hodonín bei Kunštát wurde 2021 eröffnet, während die Eröffnungsfeier der neuen Gedenkstätte in Lety bei Písek am 12. April 2024 stattfand.
Gedenken
Neben den traditionellen Gedenkveranstaltungen in Lety bei Písek und Hodonín bei Kunštát finden jedes Jahr an vielen Orten in der Tschechischen Republik weitere Veranstaltungen zum Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Rom:nja und Sinti:ze statt (vor allem anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags am 27. Januar, des Internationalen Roma-Tags am 8. April und des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und Roma am 2. August). Die Namen der Opfer werden jedes Jahr in vielen tschechischen Städten zusammen mit den Namen der jüdischen Opfer des Holocaust im Rahmen der Gedenkfeiern zu Yom Hashoah öffentlich verlesen. Dies ist dem Institut der Theresienstädter Initiative zu verdanken, das die Veranstaltung in der Tschechischen Republik organisiert.
Trotz bedeutender Fortschritte im Bereich der Forschung zum Thema des nationalsozialistischen Völkermordes an den Rom:nja und Sinti:ze hat die tschechische Geschichtsschreibung noch viele Aufgaben vor sich. Der Geschichte der Rom:nja, insbesondere dem Thema des nationalsozialistischen Völkermordes, wird im Schulunterricht in der Tschechischen Republik nicht genügend Raum gegeben. In der Regel finden sich in den Schulbüchern nur einige kurze und oft unpassende Passagen über Rom:nja und Sinti:ze. Vielen Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung ist das Thema der nationalsozialistischen Verfolgung der Rom:nja und Sinti:ze nach wie vor unbekannt.




