Kalevi-Liiva

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Kalevi-Liiva
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 28. März 2025

Kalevi-Liiva, gelegen ca. 33 km östlich von Tallinn in Estland, war unter deutscher Besatzung eine Massenhinrichtungsstätte für Juden:Jüdinnen und Rom:nja.

Bis 1940 nutzte die estnische Armee die Dünen von Kalevi-Liiva als Artillerieschießplatz. Am 30. August 1942 informierte der damalige Leiter der Politischen Abteilung der deutschen Sicherheitspolizei (Sipo) in Estland, Heinrich Bergmann (1902–1980), seinen Amtskollegen Ain-Ervin Mere (1903–1969) von der estnischen Sicherheitspolizei über die Entscheidung, zwei Transporte mit Juden:Jüdinnen aus dem Deutschen Reich nach Estland umzuleiten. Im Gespräch wurde Kalevi-Liiva als möglicher Ort für die Massentötung der ankommenden deutschen und tschechischen Juden:Jüdinnen genannt. In den ersten Septembertagen musste eine Gruppe von Häftlingen aus dem Tallinner Zentralgefängnis in Kalevi-Liiva ein Massengrab ausheben. An zwei Tagen, dem 5. September und dem 1. Oktober 1942, ermordete ein Erschießungskommando der estnischen Sicherheitspolizei 1 754 Juden:Jüdinnen in Kalevi-Liiva.

Morde an Rom:nja

In der Folgezeit diente Kalevi-Liiva als Ort der Massentötung estnischer Rom:nja. Bislang liegen Informationen über fünf Erschießungen von Rom:nja vor, die mit Kalevi-Liiva in Verbindung gebracht werden.

Zweiundvierzig jugendliche Rom:nja, die in dem Erziehungslager für Jugendliche in Laitse inhaftiert waren, verloren zwischen dem 15. Oktober 1942 und März 1943 in Kalevi-Liiva ihr Leben. Einzelheiten zu diesem Massenmord stammen aus den Akten eines sowjetischen Kriegsverbrecherprozesses 1960/61. Dem Kontext nach muss dieser Massenmord etwa zur gleichen Zeit stattgefunden haben wie die erste größere Massenexekution von Rom:nja in Estland am 27. Oktober 1942 in Harku.

Wahrscheinlich war Kalevi-Liiva auch der Ort, an dem diejenigen Rom:nja ermordet wurden, die zwischen dem 8. und 14. Februar 1943 aus ganz Estland in das Zentralgefängnis von Tallinn gebracht wurden. Am 10. Februar tötete die deutsche Sipo 110 der inhaftierten Rom:nja und am 17. Februar weitere 337. Im offiziellen Sprachgebrauch wurden diese Personen aus dem Arbeitserziehungslager Tallinn in die Obhut der deutschen Sicherheitspolizei überführt“. Das bedeutete nur eines – Massenmord.

Mindestens sechs Angeklagte in sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen erwähnen eine weitere Massentötung von Rom:nja in Kalevi-Liiva, die Anfang März 1943 stattgefunden haben soll. Anhand dieses Beweismaterials und der verfügbaren Polizeiakten konnten 36 Rom:nja (22 Frauen, vier ältere Menschen und zehn kleine Kinder) identifiziert werden, die damals ermordet wurden. Zu den grausamen Details, die ans Licht gekommen sind, gehören die Umstände des Todes einer älteren Frau, die die Letzte war, die an diesem Tag ihr Leben verlor. Sie hatte keine Beine mehr; das Opfer hatte den Wachleuten sein letztes Geld und einen goldenen Ring für das ‚Privileg‘ gegeben, zum Massengrab getragen und nicht geschleift zu werden. Höchstwahrscheinlich handelte es sich bei dem Opfer entweder um die 70-jährige Anastasia Tsubulski oder die 67-jährige Maria Ivanov, beide aus der Provinz Petseri.

Noch ein weiteres Mal wurden Rom:nja in Kalevi-Liiva erschossen: Im Frühjahr 1944 erhielt der Direktor der Jugendstrafanstalt Laitse von der deutschen Sipo den Befehl, die verbliebenen romani Kinder auszuliefern. Angeblich wurde ihm mitgeteilt, dass die Kinder ihre Eltern treffen und innerhalb einer Woche zurückkehren würden. Wie er später erfuhr, wurden sie jedoch in Kalevi-Liiva ermordet.

Vertuschung und Prozess

Im Frühjahr 1944 begann das Sonderkommando 1005 unter der Leitung von Paul Blobel (1894–1951), die Spuren der Massenmorde in Kalevi-Liiva durch das Verbrennen der Leichen zu beseitigen. Im März 1961 wurde vier Angeklagten, die an den Verbrechen in Kalevi-Liiva und im Tallinner Zentralgefängnis beteiligt waren, der Prozess gemacht, ein Ereignis, das von den sowjetischen Behörden weithin publik gemacht wurde.

Denkmal

Am 6. Mai 2007 errichtete die Romani Association of North Estonia ein Denkmal an der ehemaligen Massenhinrichtungsstätte in Kalevi-Liiva. Dies ist das erste und einzige Denkmal, das an die ermordeten Rom:nja Estlands erinnert.

Citation

Anton Weiss-Wendt: Kalevi-Liiva, in: Encyclopaedia of the Nazi Genocide of the Sinti and Roma in Europe. Ed. by Karola Fings, Research Centre on Antigypsyism at Heidelberg University, Heidelberg 28 March 2025.

1942
1 – 4 September 1942A group of inmates from Tallinn Central Prison is forced to dig a mass grave at Kalevi-Liiva (German-occupied Estonia) for planned shootings in the first days of September.
27 October 1942Between 15 October 1942 and March 1943, presumably around the time of the first larger mass killing of Roma in German-occupied Estonia on 27 October 1942, 42 Roma teenagers held in Laitse Juvenile Correctional Facility are murdered in Kalevi-Liiva.
1943
10 February 1943Mass shooting of 110 Roma previously imprisoned in Tallinn Central Prison (German-occupied Estonia) by the German Security Police, probably in Kalevi-Liiva. Among the victims is Lonny Indus from Narva, wife of Willem Indus, together with their six children.
17 February 1943Mass shooting of 337 Roma previously imprisoned in Tallinn Central Prison (German-occupied Estonia) by the German Security Police, probably in Kalevi-Liiva. Willem Indus from Narva is among the victims, as are the fifteen-year-old Pavel Koslovski from Petseri parish and his father, Nikolai Koslovski.
1 – 5 March 1943Thirty-six Roma (22 women, four elderly, and ten small children) are murdered in Kalevi-Liiva (German-occupied Estonia) in early March 1943.
1944
Spring 1944Sonderkommando 1005 begins erasing the traces of mass murder at Kalevi-Liiva (German-occupied Estonia) by burning the corpses.
Spring 1944In early spring 1944, the director of Laitse Juvenile Correctional Facility in German-occupied Estonia receives the order from the German Security Police to hand over the remaining Roma children. They are murdered at Kalevi-Liiva.
1961
6 – 11 March 1961Four defendants implicated in the crimes committed at Kalevi-Liiva and Tallinn Central Prison stand trial, an event widely publicised by Soviet authorities.
2007
6 May 2007The first and only monument to the murdered Roma of Estonia, initiated by the Romani Association of North Estonia, is unveiled at Kalevi-Liiva.