Auschwitz-Birkenau (Hauptbuch des Zigeunerlagers)

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Auschwitz-Birkenau (Hauptbuch des Zigeunerlagers)
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 26. Januar 2025

Im Lagerabschnitt BIIe des Konzentrations– und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau wurde über die dort seit dem 26. März 1943 eingelieferten Sinti:ze und Rom:nja ein Verzeichnis geführt, das als „Hauptbuch des Zigeunerlagers“ bekannt ist. Es ist die wichtigste Quelle, die über die Identität der Eingelieferten und ihr Sterben oder Überleben Auskunft gibt. Zudem ist es eines der zentralen Schriftzeugnisse des Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja. Das erhalten gebliebene Original wird im Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim, Polen, aufbewahrt.

Drei Bände

Die Sinti:ze und Rom:nja, die auf der Grundlage des Auschwitz-Erlasses deportiert wurden, wurden nicht in die allgemeine Lagerevidenz eingetragen. Stattdessen wurde für die Registrierung der Häftlinge des Lagerabschnitts BIIe ein separates Verzeichnis angelegt. Das „Hauptbuch des Zigeunerlagers“ besteht aus drei Bänden: In einem Band wurden männliche, in zwei weiteren Bänden weibliche Sinti:ze und Rom:nja erfasst.1Im Folgenden nach Parcer, Einleitung, XXXVII f; Czech, Kalendarium, 423. Das „Männerbuch“ umfasst 300 linierte Seiten mit der Registrierung von Jungen und Männern unter den Ziffern Z-1 bis Z-10094. Neben der ersten Spalte für die Häftlingsnummern gibt es Spalten für den Eintrag von Angaben zu: Häftlingsart,2Eingetragen wurden in dieser Spalte meist Kürzel für „Zigeuner“ (wie „Z“ oder „Zig“) und für die Staatsangehörigkeit. Nachname, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort, Konfession, Familienstand, Beruf, Datum der Einlieferung, Bemerkungen und Datum der Bemerkungen.

Während in dem „Männerbuch“ diese Informationen dicht gedrängt auf einem Blatt aufgeführt werden, erstrecken sich diese Angaben in dem „Frauenbuch“ über zwei Blätter, so dass zwei Bände mit insgesamt 702 Seiten angelegt wurden. Das „Frauenbuch“ enthält Nummern von Z-1 bis Z-10849. Die vorgesehenen Spalten sind nahezu identisch mit denen des „Männerbuches“, allerdings wurden bei den Mädchen und Frauen weder Konfession noch Familienstand festgehalten und die zusätzlich vorgesehene Spalte „Anschrift“ wurde niemals ausgefüllt.

Praxis der Registrierung

Die Registrierung der eingelieferten Sinti:ze und Rom:nja war Teil einer entwürdigenden Aufnahmeprozedur im Lager. Sie erfolgte augenscheinlich nicht immer im selben Gebäude; nach Aussagen von Überlebenden fand sie teils im Stammlager Auschwitz, teils in Auschwitz-Birkenau statt. Manche Deportierte wurden unmittelbar vor ihrer Einweisung in den Lagerabschnitt BIIe, andere wiederum erst nach einigen Tagen Aufenthalt in BIIe registriert. Wenn man bedenkt, dass im Monat März bereits 12 259 Sinti:ze und Rom:nja nach Auschwitz-Birkenau verschleppt wurden3Zimmermann, Rassenutopie, 327. und der Lagerabschnitt BIIe baulich noch nicht fertiggestellt war, lässt sich erahnen, unter welchen chaotischen Umständen die Registrierungen erfolgten.

Viele Überlebende – so auch der deutsche Sinto Walter „Stanoski“ Winter (1919–2012), der am 14. März 1943 in Auschwitz eintraf – erinnern den Moment der Registrierung als tiefen Einschnitt in ihr Leben, zumal sie unmittelbar mit der Tätowierung der Häftlingsnummer auf die Haut verbunden war: „Wir mussten alle in einen Block gehen und uns da wieder in Zweierreihen aufstellen. Auf der einen Seite saß einer an einem Tisch und füllte Listen aus. Einzeln mussten wir vortreten. ‚Name?‘, ‚Geburtsdatum?‘, ‚Wo geboren?‘. Alles wurde eingetragen. Dann musste man auf die andere Seite treten und bekam eine Nummer. Den linken Arm musste man freimachen. Auf den Unterarm wurde die Nummer eintätowiert. Das ließ die SS von Häftlingen machen. In Minutenschnelle wurde man zur Nummer degradiert. Schmerzen auf der Haut verursachte die Tätowierung kaum, aber Schmerzen auf der Seele blieben von dem Moment an ein Leben lang.“4Guth, Z 3105, 66f. Jan Kwiatkowski (1931–unbekannt) wiederum, als polnischer Rom von der Kriminalpolizei Kattowitz am 30. März 1943 in Auschwitz eingeliefert,5Arolsen Archives, 1.1.5.3/87398552/ITS Digital Archive, Personal File of Kwiatkowski, Jan, born in the year 1931. erinnert sich daran, dass er erst in den Lagerabschnitt BIIe eingewiesen und ihm zwei oder drei Tage später eine Häftlingsnummer eintätowiert wurde.6Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz Birkenau (poln. Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau, APMO), Berichte, Bd. 3, 399–400, zit. nach Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 73.

Einem Zeugnis des polnischen politischen Häftlings Tadeusz Joachimowski (1908–1979) zufolge wurde er mit anderen Häftlingen am 20. März 1943 in den Lagerabschnitt BIIe geschickt, um im Verlauf von drei Tagen für jede eingelieferte Person jeweils eine Karteikarte auszufüllen. Diese Karteikarten enthielten Angaben, die über die in dem Hauptbuch verzeichneten Informationen hinausgingen, wie den Ort des Abtransports, Familienangehörige, Zugehörigkeit zur Wehrmacht und eventuelle militärische Auszeichnungen. Die eingelieferten Sinti:ze und Rom:nja hatten sich, so Joachimowski, von morgens bis abends vor den ihnen zugewiesenen Häftlingsblocks aufzustellen, bis diese Prozedur erledigt war.7APMO, Berichte, Bd. 13, 56–80, zit. nach Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 100.

Für die laufenden Schreibarbeiten wurden Häftlinge abgeordnet. Sie waren entweder in den Blocks (also den einzelnen Baracken) als „Blockschreiber“ oder in der „Schreibstube“ tätig, wo alle Informationen zusammengeführt wurden. Diese „Häftlingsschreiber“ im Lagerabschnitt BIIe kamen zunächst aus den Reihen anderer Häftlinge in Auschwitz, später waren auch Sinti:ze und Rom:nja mit derartigen Aufgaben betraut. Soweit bekannt, war Tadeusz Joachimowski derjenige Häftling, der die längste Zeit eine derartige Funktion im Lagerabschnitt BIIe innehatte: seit März 1943 zunächst als einer der „Häftlingsschreiber“ in der „Schreibstube“ und ab Mai 1944 als „Hauptschreiber“ (sog. Rapportschreiber).8Vgl. das in Geigges et al., Zigeuner heute, auf S. 284–288 abgedruckte Protokoll einer Zeugenvernehmung von Tadeusz Joachimowski vor der Bezirkskommission zur Untersuchung der hitleristischen Verbrechen in Krakau, 2. Juli 1968. Als Rapportschreiber war Joachimowski für den Bericht über den Häftlingsstand an die SS-Lagerverwaltung zuständig. Gemäß dem detaillierten Grundriss, der aufgrund von Joachimowskis Angaben nach 1945 entstand, befand sich die „Schreibstube“ des Lagerabschnitts BIIe in Block 2, also direkt im Eingangsbereich.9Vgl. den Plan bei Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 116–117; auch Smoleń, „Das Schicksal“, 147, verortet die „Schreibstube“ dort.

Nach der Abwicklung der großen Deportationszüge kam es immer wieder, insbesondere im Jahr 1944, zu der Einweisung von kleineren Gruppen von Sinti:ze und Rom:nja. Dabei scheint die Lagerverwaltung der SS [Schutzstaffel] deren Registrierung mit Bedacht im Stammlager Auschwitz durchgeführt zu haben, insbesondere dann, wenn es sich um Transporte handelte, die von Zivilpersonen begleitet wurden. Darauf lässt ein Bericht des polnischen politischen Häftlings Kazimierz Smoleń (1920–2012) schließen, der bereits 1940 in Auschwitz eingeliefert und dort als „Häftlingsschreiber“ eingesetzt worden war. Smoleń schilderte die Übergabe von Kindern der Sinti:ze und Rom:nja durch Krankenschwestern der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt im Stammlager.10APMO, Berichte, Bd. 76, 186, zit. nach Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 79.

Einblicke in die mörderischen Verhältnisse

Die Position als „Häftlingsschreiber“ bedeutete für die Betroffenen eine Verbesserung ihrer Überlebenschancen, denn sie waren damit etwas weniger der alltäglichen Gewalt im Lager durch die SS-Wachleute, der körperlich schweren Zwangsarbeit und den Witterungsverhältnissen ausgesetzt. Gleichzeitig bedeutete diese Arbeit, dass man tiefe Einblicke in die Vorgänge im Lager erhielt. Die Sintiza Elisabeth Guttenberger (1926–2024) berichtete: „Ich kam nach ungefähr einem halben Jahr Haft in die Häftlingsschreibstube. Dort musste ich das Hauptbuch für die Männer in unserem Lager führen. Täglich musste ich in dieses Buch die Sterbemeldungen eintragen, die vom Krankenbau zur Schreibstube kamen. Es waren Tausende, die ich auf Grund solcher Meldungen in das Buch eingetragen habe.“11Elisabeth Guttenberger, in: Adler et al., Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, 129–132, Zit. 131. An anderer Stelle ist überliefert, dass Elisabeth Guttenberger eines Tages auch den Tod ihres Vaters verzeichnen musste.12Elisabeth Guttenberger, in: Gedenkbuch, Bd. 2, 1501–1503, hier 1502.

Tadeusz Joachimowski beschrieb in einem seiner Zeugnisse, wie das „Hauptbuch“ von der SS-Lagerverwaltung auch zur Verschleierung von Verbrechen verwendet wurde. So fielen am 25. Mai 1943 1 033 Sinti:ze und Rom:nja einer Selektion des SS-Arztes Josef Mengele (1911–1978) zum Opfer und wurden in den Gaskammern ermordet. Im „Männerbuch“ wurden bei diesen Opfern abweichende Todesdaten für einen Zeitraum zwischen dem 25. Mai und dem 3. Juni 1943 eingetragen, bei den Frauen wurden „SB“ für „Sonderbehandlung“ oder ein Kreuzzeichen mit einem Datum zwischen dem 26. Mai und dem 11. Juni 1943 vermerkt.13Vgl. Parcer, „Einleitung“, XXXIX; Czech, Kalendarium, 503 f.

Die „Häftlingsschreiber“, die überlebten, waren bei der justiziellen Ahndung der NS-Verbrechen wichtige Zeug:innen. So waren sowohl etwa Elisabeth Guttenberger als auch der als „Häftlingsschreiber“ tätig gewesene Paul Morgenstern (1910–unbekannt) im Rahmen des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main Zeug:innen der Anklage.14Zu Paul Morgenstern siehe https://www.auschwitz-prozess.de/zeugenaussagen/Morgenstern-Paul/ [Zugriff: 23.01.2025]. Elisabeth Guttenberger wurde von der Staatsanwaltschaft befragt, konnte zum Prozess jedoch aufgrund von Krankheit nicht persönlich erscheinen. Vgl. Stengel, „Bezweifelte Glaubwürdigkeit“, 449–453. Auch Tadeusz Joachimowski stellte sich als Zeuge zur Verfügung und berichtete etwa über die von Mengele an Zwillingskindern im Lagerabschnitt BIIe verübten Medizinverbrechen.15Vgl. Endnote 8. Joachimowski war es auch, der als Kronzeuge für Versuche der SS anzusehen ist, die Insass:innen des Lagerabschnitts BIIe im Frühjahr 1944 zu ermorden, und für damit zusammenhängende, oft auf den 16. Mai 1944 datierte Widerstandshandlungen der Betroffenen.

Überlieferung

Tadeusz Joachimowski ist zudem zu verdanken, dass das „Hauptbuch“ der Nachwelt erhalten geblieben ist. Im Juli 1944 – aller Wahrscheinlichkeit nach dem 21. Juli 1944, dem Datum der letzten Einträge im „Frauenbuch“ – wurden die drei Bände des „Hauptbuches“ in Kleidungsstücke eingewickelt und in einem mit einem Holzdeckel abgedichteten Zinkeimer verborgen.16Hier und im Folgenden nach Czech, Kalendarium, 423, 826; Parcer, „Einleitung“, XXXVII. Joachimowski sowie die polnischen politischen Häftlinge Ireneusz Pietrzyk (1913–unbekannt) und Henryk Porębski (1911–unbekannt) hatten, so wurde berichtet, erfahren, dass die Ermordung der Sinti:ze und Rom:nja kurz bevorstand, und vergruben den Eimer auf dem Gelände des Lagerbereichs BIIe zwischen der Baracke 31 und dem Zaun zum Bereich BIId. In Anwesenheit von Joachimowski gruben Mitarbeiter:innen des 1947 gegründeten Staatlichen Museums den Zinkeimer am 13. Januar 1949 wieder aus.

Es zeigte sich, dass die drei Bände des „Hauptbuches“ zwar erhalten, jedoch durch Feuchtigkeit beschädigt waren. Viele Einträge, die mit Tinte oder Bleistift gemacht worden waren, waren unleserlich, manche Teile vollständig zerstört. Die einzelnen Blätter der Bände wurden in den 1960er-Jahren in Folien eingeschweißt und werden in dieser Form bis heute im Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau aufbewahrt.

Erschließung und Publikation

1991 begann das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau mit der computergestützten Sicherung der archivalischen Überlieferung. In diesem Zusammenhang erstellte die Gedenkstätte in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen eine Datenbank auf der Grundlage des „Hauptbuches“. Über mehrere Monate hinweg wurde die Quelle entziffert, teils unter Rückgriff auf besser lesbare Kopien aus den 1950er-Jahren.17Hier und im Folgenden nach ebd., XXXVIII.

Während eines wissenschaftlichen Symposiums im Dezember des gleichen Jahres kam die Idee auf – so Jan Parcer (geb. 1956), damals stellvertretender Leiter des Archivs der Gedenkstätte – , die Ergebnisse zu veröffentlichen. Das in zwei Bänden (Bd. 1: Frauen, Bd. 2: Männer) zum 50. Jahrestag des Auschwitz-Erlasses fertiggestellte und 1993 als Publikation erschienene „Gedenkbuch“ wurde vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg, herausgegeben. Die Einträge des „Hauptbuches“ wurden im Original in tabellarischer Form und angelehnt an die ursprüngliche Paginierung wiedergegeben, während einleitende Beiträge und Anhänge (etwa Berichte von Überlebenden) auf Polnisch, Deutsch und Englisch verfasst sind.

Bis heute stellt diese Publikation die beste Möglichkeit dar, um einen Gesamteindruck von den damals aufbereiteten Daten zu erhalten und das „Hauptbuch“ für verschiedene Fragestellungen auszuwerten. Die Quelle selbst wird auf der Internetseite der Gedenkstätte Auschwitz nicht bereitgehalten. Allerdings sind die Daten in die von der Gedenkstätte gepflegte und online zugängliche Häftlingsdatenbank eingeflossen. Scans des „Hauptbuches“ – teils schlecht lesbar – sind auf der Internetseite der Arolsen Archives zu finden.18Arolsen Archives, 1.1.2, Auschwitz concentration and extermination camp, OCC 2/87, Ordner 155 und 156, General ledgers of the so-called ‘Zigeunerlager’ of the Auschwitz-Birkenau concentration camp (1943–1944): Male prisoners (number series 1–10094): https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/1-1-2-1_2204001; Female prisoners (number series 1–10849): https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/1-1-2-1_2204002 [Zugriff: 23.01.2025].

Quellenwert

Angesichts der seit Sommer 1944 einsetzenden Versuche der SS, nicht nur die Zeug:innen, sondern alle Spuren ihrer Verbrechen – neben den Gaskammern auch die Lagerdokumente – zu vernichten, ist der Quellenwert des „Hauptbuches“ nicht hoch genug zu bewerten. Aufgrund der Beschaffenheit der Quelle muss die Datenqualität des gedruckten Gedenkbuchs jedoch kritisch eingeschätzt werden. Zum einen sind die bereits genannten physischen Beeinträchtigungen des Originals zu bedenken, wodurch einige Informationen unwiederbringlich verloren gegangen sind. Dies betrifft ganze Seiten, auf denen Namen nicht entziffert werden konnten, insbesondere aber die jeweils rechts auf den Blättern eingetragenen Bemerkungen, in denen Todesdaten, Verlegungen in andere Lagerbereiche oder auch Überstellungen in andere Konzentrationslager festgehalten wurden.19Parcer, „Einleitung“, XXXVIII.

Zum anderen weisen die 1943 und 1944 vorgenommenen Einträge in den verschiedenen Spalten nicht nur große Lücken, sondern auch zahlreiche falsche Schreibweisen von Personen- und Ortsnamen sowie Geburtsdaten auf. Da alle im „Hauptbuch“ enthaltenen Informationen quellengetreu in die Datenbank überführt wurden, sind diese Verschreibungen auch in dem gedruckten Gedenkbuch zu finden, was unter anderem eine Hürde bei der Identifikation einzelner Opfer darstellt. Mithilfe des dem Gedenkbuch beigefügten Personen- und Ortsindex (Band 2, Seiten 1333–1465) sind gleichwohl gezielte Recherchen möglich. Zu beachten ist überdies, dass es eine nicht bekannte Anzahl an Sinti:ze und Rom:nja gegeben haben muss, die nach dem Verbergen des „Hauptbuches“ in Auschwitz-Birkenau eingeliefert wurden. Darauf lässt die Registrierung einer Frau namens Albine Weiss im Frauenlager in Birkenau schließen, die unter der Nummer „Z-10888“ erfolgte, während das „Frauenbuch“ des Lagerabschnitts BIIe lediglich bis zur Nummer „Z-10849“ geführt wurde.20APMO, D-AuII-3/1, Bl. 87, Auszug aus dem Buch des Blocks 22b im Frauenlager, abgedruckt in Gedenkbuch, Bd. 2, 1605. Bekannt ist zudem, dass um den 23. März 1943 herum 1 700 Kinder, Frauen und Männer aus der Region Bialystok in den Gaskammern ermordet wurden, ohne vorher im „Hauptbuch“ registriert worden zu sein.21Czech, Kalendarium, 448.

Die Erfassung der im „Hauptbuch“ erhaltenen Informationen und die Publikation des Gedenkbuchs waren gleichwohl eine Pionierleistung. In Kombination mit dem von Danuta Czech seit 1957 im Auftrag der Gedenkstätte erarbeiteten „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945“ lassen sich beispielsweise einzelne Transporte identifizieren und datieren. Auf der Grundlage der Daten des „Hauptbuches“ wurden 1993 Statistiken bezüglich der Staatsangehörigkeit der deportierten Sinti:ze und Rom:nja, der Anzahl der 1943 und 1944 Eingelieferten, der Sterblichkeit und Berufe,22Gedenkbuch, Bd. 2, 1469–1480. 1994 zu den im Lager geborenen Säuglingen, dem Durchschnittsalter bei der Deportation und dem Alter bei Abtransport aus dem Lager publiziert.23Parcer et al., „Die Analyse der erhaltenen Dokumente“, 209–216.

Bereits Jan Parcer, der die Redaktion des Gedenkbuchs verantwortete, wies auf Möglichkeiten zur Verbesserung der Datenqualität hin. Dazu zählte die ergänzende Auswertung weiterer Quellen des Archivs, insbesondere der Sterbebücher, die 1945 von Soldaten der Roten Armee in die Sowjetunion verbracht wurden und erst 1992 in den Besitz der Gedenkstätte gelangten.24Parcer, „Einleitung“, XXXVIII. Eine systematische und signifikante Ausweitung der empirischen Basis zu den in den Lagerbereich BIIe verschleppten Sinti:ze und Rom:nja scheint es jedoch nicht mehr gegeben zu haben. Bis heute beziehen sich daher Publikationen zu dieser Opfergruppe auf die vor mehr als 30 Jahren erhobenen, in ihrer Qualität eingeschränkten Daten.

Wie notwendig und erkenntnisreich weitere Forschungen sind, hat zuletzt die Untersuchung über die letzten Monate der Existenz des „Zigeunerlagers“ gezeigt, die von Helena Kubica (geb. 1954) und Piotr Setkiewicz (geb. 1963), beide Historiker:innen am Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, durchgeführt wurde. Sie korrigierten im Jahr 2018 die viele Jahre lang geltende Anzahl von 2 897 Sinti:ze und Rom:nja aus dem Lagerabschnitt BIIe, die in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordet wurden, auf 4 200 bis 4 300.25Kubica et al., „The Last Stage“, 15.

Einzelnachweise

  • 1
    Im Folgenden nach Parcer, Einleitung, XXXVII f; Czech, Kalendarium, 423.
  • 2
    Eingetragen wurden in dieser Spalte meist Kürzel für „Zigeuner“ (wie „Z“ oder „Zig“) und für die Staatsangehörigkeit.
  • 3
    Zimmermann, Rassenutopie, 327.
  • 4
    Guth, Z 3105, 66f.
  • 5
    Arolsen Archives, 1.1.5.3/87398552/ITS Digital Archive, Personal File of Kwiatkowski, Jan, born in the year 1931.
  • 6
    Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz Birkenau (poln. Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau, APMO), Berichte, Bd. 3, 399–400, zit. nach Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 73.
  • 7
    APMO, Berichte, Bd. 13, 56–80, zit. nach Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 100.
  • 8
    Vgl. das in Geigges et al., Zigeuner heute, auf S. 284–288 abgedruckte Protokoll einer Zeugenvernehmung von Tadeusz Joachimowski vor der Bezirkskommission zur Untersuchung der hitleristischen Verbrechen in Krakau, 2. Juli 1968. Als Rapportschreiber war Joachimowski für den Bericht über den Häftlingsstand an die SS-Lagerverwaltung zuständig.
  • 9
    Vgl. den Plan bei Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 116–117; auch Smoleń, „Das Schicksal“, 147, verortet die „Schreibstube“ dort.
  • 10
    APMO, Berichte, Bd. 76, 186, zit. nach Kapralski et al., Roma in Auschwitz, 79.
  • 11
    Elisabeth Guttenberger, in: Adler et al., Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, 129–132, Zit. 131.
  • 12
    Elisabeth Guttenberger, in: Gedenkbuch, Bd. 2, 1501–1503, hier 1502.
  • 13
    Vgl. Parcer, „Einleitung“, XXXIX; Czech, Kalendarium, 503 f.
  • 14
    Zu Paul Morgenstern siehe https://www.auschwitz-prozess.de/zeugenaussagen/Morgenstern-Paul/ [Zugriff: 23.01.2025]. Elisabeth Guttenberger wurde von der Staatsanwaltschaft befragt, konnte zum Prozess jedoch aufgrund von Krankheit nicht persönlich erscheinen. Vgl. Stengel, „Bezweifelte Glaubwürdigkeit“, 449–453.
  • 15
    Vgl. Endnote 8.
  • 16
    Hier und im Folgenden nach Czech, Kalendarium, 423, 826; Parcer, „Einleitung“, XXXVII.
  • 17
    Hier und im Folgenden nach ebd., XXXVIII.
  • 18
    Arolsen Archives, 1.1.2, Auschwitz concentration and extermination camp, OCC 2/87, Ordner 155 und 156, General ledgers of the so-called ‘Zigeunerlager’ of the Auschwitz-Birkenau concentration camp (1943–1944): Male prisoners (number series 1–10094): https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/1-1-2-1_2204001; Female prisoners (number series 1–10849): https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/1-1-2-1_2204002 [Zugriff: 23.01.2025].
  • 19
    Parcer, „Einleitung“, XXXVIII.
  • 20
    APMO, D-AuII-3/1, Bl. 87, Auszug aus dem Buch des Blocks 22b im Frauenlager, abgedruckt in Gedenkbuch, Bd. 2, 1605.
  • 21
    Czech, Kalendarium, 448.
  • 22
    Gedenkbuch, Bd. 2, 1469–1480.
  • 23
    Parcer et al., „Die Analyse der erhaltenen Dokumente“, 209–216.
  • 24
    Parcer, „Einleitung“, XXXVIII.
  • 25
    Kubica et al., „The Last Stage“, 15.

Zitierweise

Karola Fings: Auschwitz-Birkenau (Hauptbuch des Zigeunerlagers), in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 26. Januar 2025.-

1942
16. Dezember 1942„Auschwitz-Erlass”: Heinrich Himmler, Chef der Schutzstaffel („Reichsführer SS”), ordnet die Deportation von Sinti:ze und Rom:nja aus dem Deutschen Reich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an.
1943
15. Januar 1943In Berlin (Deutschland) einigen sich Angehörige der Reichskriminalpolizei, der Rassenhygienischen Forschungsstelle, des Sicherheitsdienstes und des Rasse- und Siedlungshauptamtes auf die Zwangssterilisation derjenigen Sinti:ze und Rom:nja, die nicht für die Deportation in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vorgesehen sind.
29. Januar 1943Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, Deutschland, erlässt genauere Anweisungen zu der Deportation von Sinti:ze und Rom:nja in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
26. Februar 1943Die ersten Sinti:ze und Rom:nja werden auf der Grundlage des „Auschwitz-Erlasses“ in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in den Lagerabschnitt BIIe deportiert. Ab dem 1. März 1943 treffen fast täglich weitere Deportationszüge mit Sinti:ze und Rom:nja ein.
25. Mai 1943Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden 507 Sinti und Roma sowie 528 Sintize und Romnja aus dem Lagerabschnitt BIIe abgeführt und in den Gaskammern ermordet. Es sind polnische Rom:nja aus Bialystok (deutsch besetztes Polen) und Rom:nja aus Österreich.
1944
21. Juli 1944Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden 22 litauische Romnja registriert, die meisten von ihnen Kleinkinder und Kinder. Vermutlich werden am gleichen Tag auch litauische Roma eingeliefert, aber aufgrund der Unleserlichkeit der letzten Seiten im „Hauptbuch des Zigeunerlagers“ für Männer sind weder Namen noch Anzahl bekannt. Dies sind zugleich die letzten Einträge in dem Register für Sinti:ze und Rom:nja im Lagerabschnitt BIIe, das dann von Häftlingen vergraben wurde, um es für die Nachwelt zu sichern. Insgesamt wurden 10094 Nummern für männliche und 10849 Nummern für weibliche Häftlinge vergeben.
2. – 3. August 1944Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August die etwa 4 200 bis 4 300 im Lagerabschnitt BIIe verbliebenen Sinti:ze und Rom:nja in den Gaskammern ermordet.
1949
13. Januar 1949Mitarbeiter:innen der Gedenkstätte Auschwitz bergen auf dem Gelände des früheren Lagerabschnitts BIIe, Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das „Hauptbuch des Zigeunerlagers“. Dieses bedeutende Zeugnis der begangenen Verbrechen war von polnischen politischen Häftlingen vor der Ermordung der Sinti:ze und Rom:nja am 2./3. August 1944 vergraben worden, um es für die Zeit nach dem Krieg zu erhalten.