Anton Reinhardt

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Anton Reinhardt
  • Version 1.0
  • Letztes Änderungsdatum 22. November 2023

Anton Reinhardt, geboren am 10. Juni 1927 in dem Dorf Weiden am Rande des Schwarzwaldes in Deutschland, schwamm am 25. August 1944 von Waldshut über den Rhein nach Koblenz im Kanton Aargau in der Schweiz. Zuvor war der Sinto aus dem Städtischen Krankenhaus in Waldshut geflohen, wo er zwangsweise sterilisiert werden sollte.

In der Schweiz wurde Anton Reinhardt wegen illegalen Grenzüberganges verhaftet, nach Aarau gebracht, dort am 28. August 1944 einvernommen und erkennungsdienstlich behandelt. Er gab zunächst als Nachname „Bühler“ (den Namen seines Stiefvaters) und sein Alter mit 18 Jahren an. Zudem sagte er aus, er sei geflohen, um dem Wehrdienst zu entkommen. Vermutlich wollte er so seine Chancen auf eine Anerkennung als Flüchtling erhöhen. Nachdem ein Polizist den amtlichen Nachnamen ermittelt hatte, führte der Jugendliche aus, dass er als „Zigeuner“ von Verfolgung bedroht sei und bereits mehrere Angehörige in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert worden seien.

Anton Reinhardt (1927–1945) nach seiner Flucht in die Schweiz, 1944. Der junge Sinto war im August 1944 vor der drohenden Zwangssterilisation in die Schweiz geflohen. Dort wurde ihm jedoch ein Asyl verweigert. Die Schweizer Behörden schoben ihn ab und er wurde im Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck inhaftiert. Von dort wurde er in das Sicherungslager Rotenfels und schließlich nach Sulz, einem Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, überstellt. Ihm gelang die Flucht, doch er wurde ergriffen. Am 31. März 1945, es war der Ostersamstag, wurde er von einem SS-Hauptsturmführer erschossen, nachdem er einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben hatte.

Die Fotografie stammt aus der Akte, die über ihn in der Schweiz angelegt wurde.

Fotograf: unbekannt (Polizeifoto)

Schweizerisches Bundesarchiv, E24#1985/196#37800*

Trotz neuer Schweizer Richtlinien für Flüchtlinge vom 12. Juli 1944,1Huonker, Roma, Sinti, Jenische, 123. die Wegweisungen von Personen, die an „Leib und Leben“ bedroht waren, zu stoppen, wurde Anton Reinhardt am 5. September 1944 das Asyl verweigert. Am 8. September 1944 wurde er in der Nähe von Basel in das Elsass abgeschoben.

Anton Reinhardt wurde verhaftet und in dem Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck inhaftiert. Aus dem Lager konnte er in brieflichen Kontakt mit seiner Familie — der Mutter Elvira Reinhardt (unbekannt–unbekannt), dem Stiefvater Johann Bühler (unbekannt–unbekannt) und zwei Geschwistern — treten. Bei Auflösung des Lagers gelangte er in das neu gegründete Sicherungslager Rotenfels im heutigen Gaggenau, wo die Häftlinge Zwangsarbeit für die Daimler-Benz-Werke leisten mussten. Als Anfang März 1945 auch dieses Lager aufgelöst wurde, kam er in das Lager Sulz, ein Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. Dort gelang ihm mit anderen Gefangenen die Flucht. Er wurde jedoch am 30. März 1945 von einer Einheit des deutschen „Volkssturms“ in der Nähe von Bad Rippoldsau im Nordschwarzwald ergriffen und von einem Standgericht zum Tode verurteilt. Am 31. März 1945, einem Ostersamstag, wurde Anton Reinhardt dazu gezwungen, in einem abgelegenen Waldstück im Gaisbachtal eine Grube auszuheben. Nachdem er einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben hatte, tötete ihn SS-Hauptsturmführer Karl Hauger (1906–1985) mit einem Genickschuss.

Wegen der Beteiligung an Morden französischer Bürger wurde Hauger 1946 von einem französischen Kriegsgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt.2Im Folgenden nach Opfermann, Der Umgang der westdeutschen Justiz, 148–152. Er tauchte unter und stellte sich erst 1957 der deutschen Justiz. Hauger konnte nach deutschem Recht weder an Frankreich ausgeliefert noch wegen der bereits in Frankreich behandelten Straftaten belangt werden. Er wurde aber zusammen mit Franz Wipfler (1915–1998) wegen der Tötung von Anton Reinhardt angeklagt. Das Schwurgericht Offenburg verurteilte ihn im November 1959 wegen Totschlags zu einer siebeneinhalbjährigen Zuchthausstrafe, Wipfler erhielt eine vierjährige Gefängnisstrafe. Das Landgericht Karlsruhe verringerte 1961 die Haftstrafen auf sieben Jahre Zuchthaus beziehungsweise dreieinhalb Jahre Gefängnis. Zwei Monate später wurde Hauger auf Bewährung entlassen, Wipfler war nach Anrechnung der Untersuchungshaft unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf freien Fuß gesetzt worden.

Das an Anton Reinhardt begangene Verbrechen dokumentierte der Regisseur und Drehbuchautor Karl Fruchtmann (1915–2003) in dem 1998/99 gedrehten Film „Ein einzelner Mord“. Seit Oktober 2000 erinnert auf dem Friedhof von Bad Rippoldsau ein Gedenkstein an den jungen Sinto.

Einzelnachweise

  • 1
    Huonker, Roma, Sinti, Jenische, 123.
  • 2
    Im Folgenden nach Opfermann, Der Umgang der westdeutschen Justiz, 148–152.

Zitierweise

Karola Fings / Stéphane Laederich: Anton Reinhardt, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 1. November 2023. -

1944
12. Juli 1944In der Schweiz verbietet eine neue Richtlinie die Wegweisung von Personen, die an „Leib und Leben“ bedroht sind. Dennoch wird der 17-jährige Anton Reinhardt am 8. September 1944 ausgewiesen.
1945
31. März 1945Der 17-jährige Anton Reinhardt wird nach seiner Flucht aus einem Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof ergriffen und in der Nähe des heutigen Bad Rippoldsau, Deutschland, ermordet.