Stanisław „Stahiro“ Stankiewicz

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Stanisław „Stahiro“ Stankiewicz
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 7. Juli 2024

Der Journalist und Pädagoge Stanisław „Stahiro“ Stankiewicz hat sich seit den 1980er Jahren als Autor, Herausgeber und politisch engagierter Rom einen Namen gemacht und international einen großen Bekanntheitsgrad erreicht. Seine Familiengeschichte ist eng mit den an Rom:nja unter deutscher Besatzung begangenen Verbrechen verbunden. Er selbst wurde am 3. Juni 1943 in Dominów, einem Außenkommando des Konzentrationslagers Majdanek, deutsch besetztes Polen, geboren.1Soweit nicht anders angegeben, beruhen die Angaben auf Unterlagen im Privatarchiv von Stanisław Stankiewicz sowie auf persönlichen Mitteilungen Stankiewiczs gegenüber dem Autor.

Verfolgung der Familie

Seine Mutter Kamila „Kamcia“ Malewicz (1923–2019) wurde in Zdzięcioł, auch unter Dzięcioł und Dziatłowo bekannt, damals in Polen, heute Dzyatlava in Belarus, geboren. Ihre Familie war groß und besaß mehrere Häuser in dem Städtchen, in dem jüdische Familien 75 Prozent der Bevölkerung stellten. 1926 waren von 4 600 Einwohner:innen 3 450 jüdischer Konfession. Zur Zeit des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 betrug die Anzahl der Juden:Jüdinnen aufgrund zahlreicher Flüchtlinge etwa 4 500.2Siehe „Dyatlovo”, International Jewish Cemetery Project: https://iajgscemetery.org/eastern-europe/belarus/dyatlovo [Zugriff: 04.04.2024].

Die Rom:nja in Dzięcioł wurden zusammen mit der jüdischen Bevölkerung nahezu vollständig ausgelöscht.3Zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung insb. im April und August 1942 siehe „Zdzięcioł/Żetl“, in Miron, Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos, 1001–1002. Außer Kamcia Małewicz, die zum Tatzeitpunkt bereits bei ihrem Mann lebte, und einer ihrer Schwestern, die sich mit ihrem Mann und ihren vier Kindern zusammen mit anderen Rom:nja im Wald versteckte, wurde die ganze übrige Familie ermordet – von 108 Angehörigen überlebten nur acht den Krieg.

Der Vater Joza Stankiewicz (1920–1994) stammte aus einer der Familien, die mit Pferden, Wagen und Zelten reisten und in einem ‚Tabor‘ lebten – dabei handelte es sich um ein aus Wagen und Zelten errichtetes Feldlager, das jeweils an dem Ort eines vorübergehenden Verbleibs aufgebaut wurde. Joza Stankiewicz wurde in einem solchen Tabor geboren, der Ort ist unbekannt. Er hatte einen Bruder, der von Deutschen ermordet wurde, sowie vier Schwestern, die überlebten. Von der Familie seines Vaters, die damals 42 Personen zählte, haben nur zwölf überlebt.

Versteck und Verhaftung

Nach der Heirat kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zog Kamcia Stankiewicz in den Tabor ihres Ehemannes in der Region Lublin, die Mitte September 1939 von deutschen Truppen besetzt wurde. Der Distrikt Lublin, unter deutscher Besatzung ein Teil des „Generalgouvernements“, wurde zu einem Zentrum für Deportationen und Morde an der jüdischen Bevölkerung. In Lublin befand sich der Sitz des SS- und Polizeiführers dieses Distriktes, Odilo Globocnik (1904–1945), dem später als Leiter der Aktion Reinhardt die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka unterstanden. Ende März 1941 wurden 34 000 Juden:Jüdinnen in einem Getto in Lublin eingepfercht; ab Oktober 1941 entstand am südöstlichen Stadtrand von Lublin das Konzentrationslager Majdanek.

Auch Rom:nja waren im Generalgouvernement an Leib und Leben bedroht. Die Familie Stankiewicz musste sich im Wald verstecken und auch tagsüber ohne Feuer auskommen, da sie fürchtete, der Rauch könne ihr Versteck verraten. Sie und die anderen Mitglieder des Tabors, die sich ebenfalls in den Wald hatten retten können, entkamen einmal knapp einer Verhaftung; während eines deutschen Angriffs auf ihre Lagerstätte wurde Joza Stankiewicz verwundet. Das erste Kind des Ehepaares, ein Mädchen Namens Krystyna, kam 1941 zur Welt. Im Sommer 1942 wurden die Familien verraten, alle wurden verhaftet und in das Getto von Lublin verschleppt. Von dort gelangten sie in das Konzentrationslager Majdanek.

Außenkommando Dominów des KZ Majdanek

Joza Stankiewicz mit Frau und Tochter sowie zwei seiner Schwestern, deren Ehemänner und drei Kinder wurden aus dem Lager öfters zu Zwangsarbeiten nach Dominów, gelegen sechs Kilometer südlich von Lublin, abkommandiert. Dort befand sich das Anwesen eines polnischen Gutsbesitzers, der aus Angst vor den Deutschen geflohen war. Die deutschen Besatzer nutzten das Gut, um Gemüse für die Truppen anzubauen und Fischzucht zu betreiben. Zu Beginn des Zwangsarbeitseinsatzes wurden die Familien täglich wieder zurück nach Majdanek transportiert, bis der deutsche Verwalter die SS (Schutzstaffel) bat, die Rom:nja aus Effizienzgründen vor Ort in Dominów zu belassen. Stahiro Stankiewicz wurde auf diesem Gut geboren.

Zweimal sollen SS-Leute zum Gut gekommen sein, um die Rom:nja zurück ins Lager zu bringen, und zweimal hat der deutsche Verwalter des Guts die Familien davor bewahren können. Er soll, so erzählte Joza Stankiewicz es seinem Sohn später, den SS-Leuten gegenüber gesagt haben, dass die Roma sehr fleißig und gut arbeiten würden und damit für die deutschen Truppen produktiv seien. Die Familie überlebte dort bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Juli 1944.

Nach der Befreiung

Die Familie konnte zunächst weiterhin so ihren Lebensunterhalt sichern wie vor dem Krieg: Sie reiste mit Zelt und Wagen, um mit Pferden zu handeln. Drei weitere Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, kamen zur Welt. 1964 mussten sich die Stankiewiczs in Białystok niederlassen und ihre Wagen abgeben, da in Polen ein neues Gesetz gegen fahrende Rom:nja eingeführt worden war.4Siehe Krasnowolski, Cyganie/Romowie w Polsce i w Europie, 12. Die Pferde durften sie behalten, da Joza Stankiewicz eine Pferdezuchtlizenz erhalten konnte.

Stahiro Stankiewicz ging zur Schule, machte seine Matura, und im Jahr 1973 absolvierte er an der Universität Warschau seinen Magister in Journalismus und Pädagogik. Er gründete eine Familie und hat heute neben seinen zwei Kindern auch sechs Enkelkinder.

Politische Aktivitäten und Publikationen

Seit den 1980er-Jahren hat sich Stahiro Stankiewicz zivilgesellschaftlich engagiert. So war er ab 1986 im Präsidium der International Romani Union (IRU) tätig, war zweimal Vizepräsident der IRU (gewählt 1990 und 2000), wurde schließlich ihr Präsident (von 2004 bis 2012) und war danach Präsident des Parlaments der IRU (2012–2014). Seit 1993 ist er Mitglied der in der Schweiz ansässigen Rroma Foundation. Zwischen 2001 und 2004 war er außerdem in der Europäischen Union als Mitglied einer Erkundungsgruppe in Straßburg zum Thema Rom:nja aktiv und wirkte an der Gründung des Europäischen Roma- und Travellers-Forums (ERTF) mit. Danach war er von 2004 bis 2012 Vizepräsident des ERTF. Seit 2012 ist er Präsident des Council of Polish Roma, das seinen Sitz in Białystok hat.

„Rrom p’o Drom“ [Roma auf dem Weg], eine Monatszeitschrift über Kultur, Sprache, Geschichte und Gegenwart der Rom:nja, die von 1990 bis 2012 erschien, wurde von Stahiro Stankiewicz in Białystok herausgegeben.5Siehe „Rrom po Drom”, Katalog Czasopism Kulturalnych: http://katalog.czasopism.pl/index.php/RROM_PO_DROM [Zugriff: 14.06.2024]. Außerdem hat er mehrere Bücher verfasst oder herausgegeben und eine große Sammlung über die Verfolgung und Ermordung der Rom:nja insbesondere im deutsch besetzten Polen angelegt.

Er war und ist auch erinnerungspolitisch aktiv, etwa von 2001 bis 2012 als Mitglied des Internationalen Rates des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau (Międzynarodowa Rada Oświęcimska) und im Beirat des Museums Treblinka. Ein wichtiges Anliegen ist ihm die Auseinandersetzung um den Begriff, der für den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa verwendet wird. Im Einklang mit den Entschließungen der IRU setzt er sich für die Verwendung des Begriffs „Samudaripe Roma“ ein.

Einzelnachweise

  • 1
    Soweit nicht anders angegeben, beruhen die Angaben auf Unterlagen im Privatarchiv von Stanisław Stankiewicz sowie auf persönlichen Mitteilungen Stankiewiczs gegenüber dem Autor.
  • 2
    Siehe „Dyatlovo”, International Jewish Cemetery Project: https://iajgscemetery.org/eastern-europe/belarus/dyatlovo [Zugriff: 04.04.2024].
  • 3
    Zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung insb. im April und August 1942 siehe „Zdzięcioł/Żetl“, in Miron, Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos, 1001–1002.
  • 4
    Siehe Krasnowolski, Cyganie/Romowie w Polsce i w Europie, 12.
  • 5
    Siehe „Rrom po Drom”, Katalog Czasopism Kulturalnych: http://katalog.czasopism.pl/index.php/RROM_PO_DROM [Zugriff: 14.06.2024].

Zitierweise

Stéphane Laederich: Stanisław „Stahiro“ Stankiewicz, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 7. Juli 2024.-

1943
3. Juni 1943Stanisław „Stahiro“ Stankiewicz wird in Dominów, einem Außenkommando des Konzentrationslagers Majdanek, deutsch besetztes Polen, geboren.
1964
Frühjahr 1964Ohne rechtliche Grundlage wird in Polen allen ‚Zigeunern‘ verboten, in Wohnwagen zu reisen oder mit Wohnwagen zu campieren.