Das im Nordkaukasus gelegene Vorošilovsk [Deutsch: Woroschilowsk; heute: Stavropol‘] war die Hauptstadt des Kraj Ordžonikidze [heute: Kraj Stavropol‘], Russland. Als letzte Großstadt vor der kalmückischen Steppe hatte Vorošilovsk eine wichtige strategische Bedeutung für die Offensive der Wehrmacht in der südlichen Sowjetunion im Sommer 1942 („Unternehmen Blau“). Die Stadt wurde am 4. August 1942 durch die 3. Panzer-Division erobert und bald darauf als Verwaltungszentrum für hohe Okkupationsorgane genutzt.
Anfangs hatte der Kommandeur des rückwärtigen Armeegebietes 531 seinen Sitz in Vorošilovsk. Mitte August 1942 verlegte auch der Stab der Einsatzgruppe D (EG D) seinen Standort in die Stadt, in der zweiten Septemberhälfte folgten die Stäbe des Höheren SS– und Polizeiführers Kaukasien und des Befehlshabers des Heeresgebietes A. Die Verwaltung der Stadt und Umgebung oblag zunächst unmittelbar der Feldkommandantur 676. Ende September 1942 kam noch die Ortskommandantur I/762 hinzu, nachdem das rückwärtige Heeresgebiets A auf Vorošilovsk ausgeweitet worden war.
Massenmord an Patient:innen, Jüdinnen:Juden und Rom:nja
Das Einsatzkommando 12 (EK 12) erreichte Vorošilovsk am 5. August 1942 und machte sich sofort an die „Räumung“ des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt. Innerhalb von vier Tagen wurden 660 Patient:innen erfasst und ermordet. Ein Teil von ihnen wurde in einem Gaswagen erstickt, die anderen wurden zu einer Grube gefahren und erschossen. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verlief in Vorošilovsk in zwei Schritten. Zunächst befahl das EK 12 per Plakataufruf sämtlichen Jüdinnen:Juden, die nach dem 22. Juni 1941 in die Stadt gekommen waren, sich am 12. August 1942 zwecks „Umsiedlung“ mit ihren Wertsachen und maximal 20 kg Gepäck auf dem Ordžonikidze-Platz einzufinden. Alle, die diesem Aufruf folgten – die Schätzungen reichen von 1 000 bis 3 000 Personen –, wurden aus der Stadt gefahren und auf einem ehemaligen Flughafengelände erschossen. Der nächste Massenmord folgte drei Tage später und betraf mindestens 500 einheimische Jüdinnen:Juden, die sich aufgrund eines weiteren Aufrufs zur „Registrierung“ in das ehemalige Gebäude des lokalen Ablegers des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten [Narodnyj Komissariat Vnutrennych Del, NKVD], das nunmehr vom EK 12 genutzt wurde, begeben hatten. Die Opfer setzten sich überwiegend aus Senioren, Frauen und Kindern zusammen.
Nach Abschluss der großen Mordaktionen begab sich das Hauptkommando des EK 12 nach Pjatigorsk. Das zurückbleibende Teilkommando setzte die Menschenjagd auf Jüdinnen:Juden, Kommunist:innen und sonstige vermeintlich „feindliche Elemente“ mit Hilfe eines Netzwerkes aus einheimischen Polizisten und Informant:innen fort. Die Festgenommenen wurden in das Gefängnis der Sicherheitspolizei (Sipo) eingeliefert, dessen Zellen in unregelmäßigen Abständen durch Gruppenhinrichtungen geleert wurden. Dabei kamen auch zwei Gaswagen der EG D zum Einsatz. Die größte derartige Mordaktion, die nach dem Krieg sowohl von überlebenden Häftlingen als auch von Tatbeteiligten bezeugt wurde, ereignete sich im November 1942 und betraf über 100 Rom:nja, deren Namen und Herkunft allerdings nicht überliefert sind. Anders als üblich wurde die Gruppe, die mehrheitlich aus Frauen, Kindern und älteren Menschen bestand, nicht in das Gefängnisgebäude geführt, sondern musste die Nacht unter Bewachung auf dem Gefängnishof verbringen. Am frühen Morgen des darauffolgenden Tages fuhren die beiden Gaswagen vor. Die Opfer mussten sich bis auf die Unterwäsche entkleiden, ehe sie in die Wagen getrieben wurden. Anschließend wurden die Motoren in Gang gesetzt und die Abgase in das Innere geleitet. Als nach einigen Minuten die Schreie verstummten, verließen die Wagen den Gefängnishof und fuhren die Leichen zu den Massengräbern außerhalb der Stadt.1BStU, MfS HA IX/11 ZUV 23, Akte 9, Bl. 16–31, hier Bl. 21 und 29, Vernehmung des Zeugen Pavel Nikitič Vasjutin durch den KGB des Kraj Stavropol‘ auf Bitte der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, 8. Oktober 1975; ebenda, Akte 13, Bl. 189–199, hier Bl. 192 und 197–198, Vernehmung des Zeugen Michail Solomonovič Kaganer durch den KGB des Kraj Stavropol‘, 19. Februar 1967; ebenda, Bl. 217–244, hier Bl. 227–228 und 241, Vernehmung des Zeugen Boris L’vovič Kamenko durch den KGB des Kraj Stavropol‘ auf Bitte der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, 16. Dezember 1975; ebenda, Akte 14, Bl. 3–29, hier Bl. 12 und 25–26, Vernehmung des Zeugen Isaak Ruvinovič Lechel‘ durch den KGB des Kraj Stavropol‘ auf Bitte der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, 29. November 1975; Rebrova, „Počemu ostalsja živoj?“, 390.
Im Zuge des erzwungenen Rückzuges der Heeresgruppe A und der EG D aus dem Nordkaukasus im Januar 1943 ermordete das EK 12 in Vorošilovsk auch die letzten verbliebenen Häftlinge des Gefängnisses. Am 21. Januar 1943 wurde die Stadt durch die Rote Armee befreit.
Verfahren gegen Herbert Drabant
Auf der Grundlage sowjetischer Ermittlungsergebnisse eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik Mitte der 1970er Jahre ein Untersuchungsverfahren gegen Herbert Drabant (1915–1994), einen ehemaligen SS-Oberscharführer und Mitglied des EK 12. Ihm wurde die arbeitsteilige Mitwirkung an der Ermordung von mindestens 4 400 Sowjetbürger:innen, davon allein 3 500 Jüdinnen:Juden in Vorošilovsk, zwischen Juni 1942 und Dezember 1943 zur Last gelegt. Das Stadtgericht von Groß-Berlin verurteilte den Angeklagten am 9. August 1976 zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, die er in den Gefängnissen Brandenburg-Görden und Bautzen II verbüßte, bis er im April 1990 (aus gesundheitlichen Gründen) gnadenweise entlassen wurde. Obwohl Massenmorde an Rom:nja im Allgemeinen und in Vorošilovsk im Besonderen einen Teil der Vorermittlungen umfassten und der Beschuldigte hierzu vernommen wurde, blieben Rom:nja als Opfergruppe in der Anklageschrift und im Urteil unerwähnt,2BStU, MfS HA IX/11 ZUV 23, Akte 15, Bl. 1–13, Anklageschrift des Generalstaatsanwalts der Deutschen Demokratischen Republik gegen Herbert Drabant, 24. Mai 1976; ebenda, Bl. 190–227, Urteil des Strafsenats 1a des Stadtgerichts von Groß-Berlin in der Strafsache gegen Herbert Drabant, 9. August 1976. was in der justiziellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen ein wiederkehrendes Phänomen ist. In Bezug auf Vorošilovsk dürfte der Grund dafür sein, dass Drabant im September 1942 einem Teilkommando des EK 12 in Budënnovsk zugeteilt wurde, weswegen eine persönliche Beteiligung an den Gaswagenmorden an Rom:nja im November 1942 ausgeschlossen war.