Die rassistische Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘ bzw. ‚Zigeunerin’ war der zentrale Verfolgungsbegriff beim nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa. Im Deutschen Reich wurde er von verantwortlichen Organisationen in ihrem Namen getragen – so von den kriminalpolizeilichen „Dienststellen für Zigeunerfragen“ und von der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Die Rassenhygienische Forschungsstelle verwendete den diffamierenden Begriff in ihren Texten und Veröffentlichungen; wesentliche amtliche Schriftstücke aus dem Verfolgungszusammenhang, so etwa der „Runderlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938, gebrauchten ihn ebenfalls. Ähnlich wie bei der Vorbereitung und Durchführung der Shoah zutiefst menschenverachtend von einer zu lösenden ‚Judenfrage‘ gesprochen wurde, existierte die Formulierung von der ‚Zigeunerfrage‘, die aus Sicht der Nationalsozialisten zu bewältigen sei.
Den Täter:innen war der beleidigende Zwangscharakter des Wortes sehr wohl bewusst. So schrieb Robert Ritter (1901-1951), der Leiter der Rassenhygienischen Forschungsstelle, im Jahr 1939: „Die Zigeuner nennen sich selbst nicht ‚Zigeuner‘. Dieses Wort klingt in ihren Ohren als Schimpfwort.“1Robert Ritter, „Die Zigeunerfrage und das Zigeunerbastardproblem“, Fortschritte der Erbpathologie, Rassenhygiene und ihrer Grenzgebiete 3 (1939): 5. Nach 1945 wurde die rassistische Bezeichnung weiterhin in abwertender, fremd machender Weise für die Überlebenden des Völkermordes und deren Nachkommen verwendet – und ist bis heute nicht aus dem Sprachgebrauch verschwunden.
Begriffliche Anfänge
Der Ausdruck ‚Zigeuner‘ bzw. ‚Zigeunerin’ war keine Erfindung des Nationalsozialismus, sondern im deutschsprachigen Raum schon seit mehreren hundert Jahren als mehrheitsgesellschaftliche, homogenisierende Fremdbezeichnung für Sinti:ze und Rom:nja gebräuchlich.
Seine Bedeutung speist sich aus der Geschichte des Antiziganismus in Europa, für den er wesentlich ist; seine Herkunft konnte bislang nicht eindeutig bestimmt werden. Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze. Einer davon besagt, dass eine Verbindung zum griechischen Wort „Athinganoi“ [„Unberührbare“] besteht – dem Namen für eine byzantinische Sekte im frühen Mittelalter.2Siehe Wolf, „Helfer des Feindes“. Im Deutschen sprach wohl erstmals der Chronist Andreas von Regensburg (nach 1380–nach 1438) im Jahr 1427 von „gens Ciganorum, volgariter Cigäwnär“. 3Bogdal, Europa erfindet, 23.
Im Englischen und Spanischen werden beispielsweise die Fremdbezeichnungen ‚Gypsies‘ und ‚Gitanos‘ verwendet, die vermutlich auf die Vorstellung zurückgehen, Sinti:ze und Rom:nja seien aus Ägypten nach Europa eingewandert.4Siehe Unabhängige Kommission Antiziganismus, Perspektivwechsel, 32. Im Ungarischen existiert so etwa auch das Wort ‚Cigány‘, im Ukrainischen das Wort ‚Cyhan‘, im Türkischen das Wort ‚Çingene‘. Die Geschichte und der semantische Gehalt des deutschen Wortes ‚Zigeuner‘ sind nicht identisch mit denjenigen dieser Bezeichnungen. Neben der jeder Sprache eigenen Geschichte und Entwicklung ist hier insbesondere an die völkisch-eliminatorische Konnotation der Bezeichnung im Deutschen zu denken, die nationalsozialistische Gesellschaftsvorstellungen („Volksgemeinschaft“) und gewaltsame, durch und durch menschenverachtende Ausrottungsphantasien beinhaltet. Insofern kann eine Übersetzung von ‚Zigeuner‘ als ‚Gypsy‘, wie sie häufig vorgenommen wird, Bedeutungsunterschiede verwischen.
Die Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja ist in den deutschsprachigen Ländern und Gebieten Europas von Anfang an mit der herabsetzenden Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘ verbunden. Das Wort wurde zu einem Marker für Fremdheit, Heimatlosigkeit und Nichtsesshaftigkeit – und damit für Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft. In der Frühen Neuzeit wurden mit der Bezeichnung zusätzlich auch solche Menschen stigmatisiert, die für ihren Broterwerb reisten oder die die Armut dazu zwang, häufig ihren Wohnort zu verlassen. Die so Bezeichneten wurden ausgegrenzt und immer wieder vertrieben sowie mit drakonischen Strafen überzogen. Mit der Romantik erhielt das Wort eine zusätzliche Bedeutung: Neben die Diffamierung trat die Exotisierung. Nicht nur als gefährlich und verdorben, sondern auch als frei und geheimnisvoll wurden ‚Zigeuner‘ fortan imaginiert.
Rassifizierung
Im 19. Jahrhundert erfuhren die Fremdbezeichnung und die mit ihr verbundenen Zuschreibungen eine Aufladung mit Elementen des modernen Rassismus, die mit behördlicher Kontrolle und Überwachung derjenigen einherging, denen sie aufgebürdet und zugemutet wurden. Im behördlichen Diskurs setzte sich zunehmend das Wortpaar ‚Zigeuner und nach Zigeunerart Umherziehende‘ durch, wobei sich ‚Zigeuner‘ eindeutig auf die rassistisch definierte Teilgruppe der Sinti:ze und Rom:nja bezog. Die antiziganistische Politik in Deutschland verwendete den Begriff in zwei Bedeutungen, nämlich einer soziografischen, also verhaltensbezogenen, die „auf die Fahrenden insgesamt“, und einer rassistischen, die auf Sinti:ze und Rom:nja als „‚Volk‘, ‚Stamm‘ oder ‚Rasse‘“ abzielte.5Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 63. Gleichwohl erfolgte in den 1920er-Jahren in den Ländern des Deutschen Reiches eine Verschiebung und Radikalisierung hin zu ‚rassenkundlichen‘ Bestimmungen, die auch Niederschlag in diskriminierenden Sondermaßnahmen und -gesetzen fanden6Siehe hierzu insbesondere Opfermann, „‚Rassenkunde‘“, aber auch Luchterhandt, „Stereotyp und Sonderrecht“. – einer „Politik institutionalisierter Schikane“7Ebd., 111..
Nationalsozialistischer Verfolgungsbegriff
Im nationalsozialistischen Machtbereich wurden Sinti:ze und Rom:nja systematisch verfolgt und ermordet. Der dabei zur Anwendung kommende Verfolgungsbegriff war die Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘ in ihrer modernen, zutiefst rassistischen Bedeutung. In Deutschland wurden Sinti:ze und Rom:nja nach und nach gezielt aus allen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen, räumlich segregiert und entrechtet. Gemäß der Nürnberger Gesetze bzw. der in den Ausführungsverordnungen festgehaltenen Regelungen galten sie als ‚fremdrassig‘. Mit den „Gutachtlichen Äußerungen“ der Rassenhygienischen Forschungsstelle, die unter Anwendung von Zwang erstellt wurden und beim Völkermord an den deutschen Sinti:ze und Rom:nja eine „Schlüsselstellung“ einnahmen, „als sie innerhalb des Verfolgungsprozesses den Übergang von der Ausgrenzung zur Vernichtung markieren halfen“8Fings, „Die ‚gutachtlichen Äußerungen‘ der Rassenhygienischen Forschungsstelle“, 455., wurde eine fiktive „Rassendiagnose“ erstellt. Die Betroffenen wurden als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ deklariert, wobei ‚Mischlinge‘ aus Sicht der Täter:innen als besonders ‚minderwertig‘ und bedrohlich für die „Volksgemeinschaft“ galten. In den deutsch besetzten Ländern Europas kamen daneben durch unterschiedliche Akteure des NS-Staates, wie beispielsweise die Wehrmacht, davon abweichende Kategorisierungen von ‚Zigeunern‘ zur Anwendung, die sich etwa stärker am Kriterium der ‚Sesshaftigkeit‘ orientierten – und für die Betroffenen ebenfalls verheerende, lebensbedrohliche Konsequenzen hatten.
Im Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden den dorthin verschleppten, als ‚Zigeuner‘ herabgewürdigten Menschen der Buchstabe „Z“ und eine Nummer eintätowiert.
Anhaltender Antiziganismus
Die während des Nationalsozialismus erfolgte völkische Rassifizierung des Begriffs ‚Zigeuner‘ wirkte nach 1945 fort, und somit auch die Vorstellung, es gebe unveränderliche, angeborene Eigenschaften der so Bezeichneten, die einem nationalen ‚Wir‘ zuwiderliefen. In der westdeutschen polizeilichen Praxis wurde mit dem Begriff „Landfahrer“ ein gleichermaßen herabwürdigendes, stigmatisierendes Synonym etabliert, das bis in die 1970er Jahre vorrangig verwendet wurde; nach öffentlichem Druck, erzeugt durch die Bürgerrechtsbewegung der Sinti:ze und Rom:nja, der zur zunehmenden Abwendung von dem Begriff führte, wurden Anfang der 1980er Jahre die diskriminierenden Chiffren „häufig wechselnder Aufenthaltsort“ (HWAO) und „Tageswohnungseinbrecher“ (TWE) eingeführt – die ebenfalls einer rassistischen Sondererfassung dienten.9Feuerhelm, Polizei, 139–146.
Bis heute wird das Wort ‚Zigeuner‘ als Schimpf- und Schmähwort verwendet; daneben dient es als Produktname, der Exotik verspricht und so ebenfalls „Traditionslinien der Ausgrenzung“10Randjelović, „Zigeuner_in“, 676. bekräftigt. Es bleibt wichtig herauszustellen, dass die rassistische Fremdbezeichnung – und die mit ihr verbundenen Zuschreibungen – nichts mit den Menschen zu tun hat, die sich selbst als Sinti:ze oder Rom:nja verstehen. Das ideologische Zerrbild überblendet die Lebenswirklichkeiten von Sinti:ze und Rom:nja, die Vielfalt von Romani Perspektiven, Stimmen und Lebensentwürfen – und gründet in Projektionen und falschen Annahmen der Mehrheitsgesellschaften.
Zurückweisung der Fremdbezeichnung nach 1945
Die Bürgerrechtsbewegung der Sinti:ze und Rom:nja in (West-)Deutschland konnte weite Teile der Öffentlichkeit sowie staatliche Akteur:innen seit den 1980er Jahren dafür sensibilisieren, die rassistische Fremdbezeichnung abzulehnen und Selbstbezeichnungen anzuerkennen.11Neben dem im Deutschen gebräuchlichen „Sinti und Roma“ setzte sich international infolge des ersten Welt-Roma-Kongresses, der vom 8. bis zum 12. April 1971 in der Nähe von London durchgeführt wurde, „Roma“ als häufig gebrauchte Selbstbezeichnung für alle Angehörigen der Minderheit durch.
Das Wort ‚Zigeuner‘ wird, wenn es heutzutage in kritischer Absicht gebraucht wird, etwa um über historischen und gegenwärtigen Antiziganismus aufzuklären, beispielsweise durchgestrichen (Zigeuner) oder in Anführungszeichen gesetzt. Auch gibt es die Variante, das Wort mit dem Buchstaben „Z“ abzukürzen („Z“ bzw. „Z-…“); diese wird allerdings dafür kritisiert, an die rassifizierende Sprache in der Gewaltgeschichte gegen Sinti:ze und Rom:nja anzuschließen.12Siehe Randjelović, „Ein Blick über die Ränder“.
In der Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa wird die rassistische Fremdbezeichnung als Quellenbegriff in Anführungszeichen und kursiv gesetzt. Sofern sich eine Verwendung des Begriffes zur Verdeutlichung rassistischen Unrechts nicht umgehen lässt, wird er in distanzierende einfache Anführungszeichen und kursiv gesetzt. Zudem wird der Begriff bei jeder ersten Erwähnung in einem Text mit diesem Lemma verlinkt.