Adele „Lily“ Franz wurde am 24. Januar 1924 in Neustädtel in Oberschlesien (Deutschland) geboren und war die älteste Tochter einer Familie mit sieben Kindern. Ihr Vater Julius Franz (unbekannt–1964) war Musiker und Pferdehändler. Ihre Mutter Anne Franz (1903–1944) verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Kurzwaren. Im Sommer übte die Familie Franz ihr Wandergewerbe aus – bis Ende der 1920er-Jahre in Oberschlesien, später in der Umgebung von Hildesheim, wo die Familie ein Winterquartier hatte.
Verhaftungen und Deportationen
Am 13. Juni 1938 wurde Julius Franz in der Nähe von Kassel im Rahmen der ‚Aktion Arbeitsscheu Reich‘ verhaftet. Lange Zeit wusste die Familie von Julius Franz nicht, wo er sich aufhielt und ob er noch am Leben war. Nach Angaben von Lily Franz beauftragte ihre Mutter sogar Anwälte, um den Verbleib ihres Mannes herauszufinden. Erst 1942 wurde bekannt, dass er im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war. Am 2. März 1943 wurden auch die weiteren Mitglieder der Familie Franz verhaftet und nach zweitägiger Haft auf dem Hildesheimer Polizeirevier in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Im Lagerabschnitt BIIe erhielt Lily Franz die Nummer „Z-562“. Dort musste sie zusammen mit anderen Frauen und Kindern Straßen aus Pflastersteinen und Kohlenstaub bauen.
Die Bedingungen im Lager waren so schrecklich, dass sie nach einigen Wochen kurz davor war, sich das Leben zu nehmen. Doch sie fasste neuen Mut. Durch einen mitfühlenden polnischen Häftling gelang es Lily Franz, eine bessere Stelle in der Schreibstubeder Lagerverwaltung zu bekommen. Zusammen mit zwei anderen Frauen musste sie den Überblick darüber behalten, wer im Lagerabschnitt BIIe noch lebte und wer gestorben war. Mit diesen beiden anderen jungen Sintize schloss Lily Franz einen Pakt: Sie würden zusammenbleiben, solange der Krieg dauerte. In ihrer Autobiografie nennt sie diese beiden Frauen nur mit ihren Vornamen – Rosa und Liesbeth. Anhand der Informationen über die gemeinsame Arbeit in der Schreibstube, den weiteren Verlauf der Gefangenschaft und die anschließende Flucht konnte ermittelt werden, dass es sich bei den beiden Frauen um die Cousinen Elisabeth Schneck, spätere Schneck-Guttenberger (1926–2024), und Rosa Höllenreiner (1926–1968) handelte.1Nerdinger, Die Verfolgung, 224–225; Stengel, „Bezweifelte Glaubwürdigkeit“, 449.
In den mehr als 16 Monaten, die Lily Franz in Auschwitz-Birkenau interniert war, wurde sie mehrmals schwer krank. Wann immer sie krank war, wurde sie von dem polnischen Häftling und Medizinstudenten Zbigniew Glowacki (1921–2012) gepflegt. Sie verliebten sich ineinander und gingen eine Beziehung ein, verloren sich aber im Verlauf des Krieges aus den Augen.
Im Juli 1944 wurde Lily Franz mit einer Gruppe junger Frauen nach Ravensbrück verlegt. Nach einer Woche wurde sie nach Graslitz überstellt, einem Außenlager des KZ Flossenbürg. Hier musste sie Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik leisten. Nach acht Monaten in Graslitz wurde sie angesichts der vorrückenden Alliierten auf einen Todesmarsch nach Westen getrieben. In der Nähe der heutigen tschechischen Grenze gelang Lily Franz und ihren Freundinnen Rosa Höllenreiner und Elisabeth Schneck, mit denen sie noch zusammen war, die Flucht.
Nach 1945
Nach der Befreiung fand sich Lily Franz mit einer Reihe von niederländischen Überlebenden im Displaced Persons Camp Erfurt wieder. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann Leo Jansen (unbekannt–unbekannt) kennen, mit dem sie westwärts reiste. Nur durch einen Zufall landete sie in den Niederlanden, denn der Zug hielt unerwarteter Weise nicht in Hannover, ihrem gewünschten Zielort. Leo Jansen und seine Familie kümmerten sich um Lily Franz, und 1947 heiratete das Paar. Sie bekamen vier Kinder. Von ihrem Heimatort Woerden aus versuchte Lily Jansen jahrelang, etwas über ihre Familie herauszufinden. Erst 1952 erfuhr sie, dass nur ihr Vater und ihre Schwester Waltraud Franz (1929–unbekannt) den Krieg überlebt hatten.
In den ersten Jahrzehnten nach der Befreiung war Lily Jansen nicht in der Lage, über den Krieg zu sprechen. Wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt wurde, sagte sie, sie stamme aus Ungarn. Dies war nicht nur eine Form des Selbstschutzes, sondern auch eine, um ihre Kinder zu schützen. Nach dem Tod ihres Mannes Leo Jansen heiratete sie Nico van Angeren (1936–1997).
Ab den 1980er-Jahren begann Lily van Angeren-Franz jedoch, öffentlich über ihre Kriegserlebnisse zu sprechen. Sie war eine der wichtigsten Zeuginnen im Prozess gegen Ernst-August König (1919–1991), einen der Wachmänner in Auschwitz-Birkenau, weil sie sich an viele Namen aus der Zeit ihrer Inhaftierung erinnern konnte. Sie hielt auch Gastvorträge an Schulen. 1994 sprach Lily van Angeren-Franz mit der niederländischen Zeitschrift „O Drom“ über die Auswirkungen des Krieges auf ihr Leben und 1997 erschien ihre Biografie „Lily. Het unieke verhaal van een zigeunerin“ [Lily. Die einzigartige Lebensgeschichte einer Zigeunerin]. 2004 wurde sie auch auf Deutsch unter dem Titel „‚Polizeilich zwangsentführt‘. Das Leben der Sintizza Lily van Angeren-Franz“ veröffentlicht. Im Jahr 2003 gelang es den Redakteuren der niederländischen Fernsehsendung „Memories“, Zbigniew Glowacki ausfindig zu machen und das Paar wieder zusammenzubringen. Seit der Befreiung hatte sie nicht gewusst, ob auch er überlebt hatte. Lily van Angeren-Franz starb am 7. März 2011 in Woerden. Im Jahr 2015 wurde in Hildesheim eine Straße nach ihr benannt.