Festsetzung

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Festsetzung
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Mit „Festsetzung“ wird die ab dem 17. Oktober 1939 im Deutschen Reich für Sinti:ze und Rom:nja geltende Auflage bezeichnet, ab sofort ihren Wohn- oder Aufenthaltsort nicht mehr zu verlassen. Die Festsetzung war vom Reichssicherheitshauptamt mit dem Festsetzungserlass auferlegt worden und sollte die kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges geplante Deportation aller als Zigeuner und Zigeunermischlinge“ stigmatisierter Menschen vorbereiten. Er blieb bis Kriegsende gültig.

Jede Ortspolizeibehörde und Gendarmerie im Reich war dazu angehalten, den in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden oder sich dort aufhaltenden Sinti:ze und Rom:nja jeweils schriftlich die Auflage zu erteilen, den Ort nicht mehr zu verlassen. Um die Festsetzung möglichst rasch umzusetzen, wurden vom 25. bis zum 27. Oktober 1939 Fahndungstage durchgeführt. Sinti:ze und Rom:nja wurden an diesen Tagen entweder aufgegriffen und zur Polizeistation gebracht oder, sofern die Adressen bereits aktenkundig waren, schriftlich vorgeladen. Die Betroffenen wurden polizeilich erfasst und mussten unterschreiben, dass sie bei einem Verstoß gegen diese Auflage in ein Konzentrationslager verschleppt würden.

Aufgrund der mit der Festsetzung einhergehenden erkennungsdienstlichen und rassenbiologischen Erfassung konnten sich Betroffene, die einmal registriert waren, dem Zugriff der Verfolgungsbehörden nicht mehr entziehen. Sofern sie es dennoch versuchten, waren sie von einer Einweisung in ein Konzentrationslager bedroht, die in der Regel auch umgesetzt wurde.

Sinti:ze und Rom:nja waren damit der Willkür der Behörden vor Ort vollständig ausgeliefert, zumal keine Möglichkeit eines Wegzugs bestand und für sie angesichts der Rassenpolitik und des Krieges die Handlungsmöglichkeiten ohnehin immer enger wurden. Die Folgen waren gravierend. Da Sinti:ze und Rom:nja dort zwangsweise bleiben mussten, wo sie sich an dem Tag der Auflagenerteilung befanden, wurden viele von ihren Familien getrennt. Der zwangsweise Aufenthalt in einem Ort, wo weder Wohnung noch Arbeit vorhanden waren und wo in aller Regel der Aufenthalt nicht erwünscht war, führte zu einer Segregation in oft ärmlichste Verhältnisse.

Der Alltag war für alle Betroffenen, auch für diejenigen, die in ihrem Heimatort lebten, erheblich beeinträchtigt. Private Beziehungen über Stadtgrenzen hinaus konnten nicht mehr gepflegt werden. Der für das Überleben unter dem Verfolgungsdruck des NS-Regimes generell wichtige familiäre Zusammenhalt wurde unmöglich gemacht, alle familiären Pflichten – ob Pflege von Älteren oder abhängigen Kindern, ob Geburts-, Heirats- oder Todesfeiern – konnten nicht mehr ausgeübt werden. Die ohnehin seit 1933 stark forcierte soziale Ausgrenzung wurde dadurch weiter verschärft. Selbstverständliche Bestandteile des täglichen Lebens waren nicht mehr oder nur mit großer Mühe und in Abhängigkeit von den jeweiligen Polizeibeamten zu realisieren. Dies betraf etwa Krankenhausaufenthalte, die ein Verlassen des Stadt- oder Gemeindebezirks erforderten und die ohne polizeiliche Genehmigungen nicht möglich waren.

Eine dramatische Verschlechterung bedeutete die Festsetzung auch für die ökonomische Situation der Betroffenen. Eine selbstständige Berufsausübung war nicht mehr möglich, das Aufsuchen einer Arbeitsstelle außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes nur mit Genehmigung des Arbeitsamtes erlaubt. Nicht selten wurden derartige Anträge abgelehnt und die Betroffenen dazu gezwungen, in ein anderes, meist schlechter bezahltes Arbeitsverhältnis zu wechseln.

Die Polizeibehörden praktizierten eine systematische und meist engmaschige, oft auch persönliche Kontrolle der Erfassten. Dadurch ist das Leben der Sinti:ze und Rom:nja, die nicht deportiert wurden, bis zu ihrer Befreiung als ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen zu qualifizieren. Sie standen im Reich unter vollständiger Verfügungsgewalt der Kriminal- beziehungsweise Ortspolizeibehörden, die nach Gutdünken über ihre Wohn-, Arbeits- und sonstigen Lebensverhältnisse verfügen konnten. Für die Betroffenen bedeutete dies eine jahrelange psychische Belastung. Sie mussten – zumal angesichts der zahlreich von der Kriminalpolizei praktizierten Einzelverschleppungen – in dem Bewusstsein leben und zu überleben versuchen, dass sie täglich verschleppt werden könnten.

Trotz dieser traumatisierenden Verfolgungsgeschichte erhielten Überlebende für die Jahre der Festsetzung keine Entschädigung.

Zitierweise

Karola Fings: Festsetzung, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1939
17. Oktober 1939In Deutschland verbietet der „Festsetzungserlass” allen Sinti:ze und Rom:nja unter Androhung einer Inhaftierung in einem Konzentrationslager den Wechsel ihres Wohn- oder Aufenthaltsortes.
25. – 27. Oktober 1939Auf staatlich angeordneten „Fahndungstagen” werden in Deutschland Tausende Sinti:ze und Rom:nja erfasst.