Bergen-Belsen, gelegen im Ortsteil Belsen der Gemeinde Bergen im Kreis Celle im heutigen Niedersachsen, Deutschland, stellte einen Sonderfall in der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager (KZ) dar. Errichtet im Frühjahr 1943 auf Veranlassung von Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900–1945) in der südlichen Hälfte eines nicht mehr voll belegten Kriegsgefangenlagers, wurde ihm zunächst eine spezifische Funktion als „Austauschlager“ für jüdische Geiseln zugeschrieben. Ab Frühjahr 1944 wurde das Lager um weitere Lagerbereiche ausgeweitet. Unter den Häftlingen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen befanden sich auch etwa 1 800 Sinti:ze und Rom:nja.
Lager für jüdische Geiseln
Bergen-Belsen, auch als „Aufenthaltslager“ bezeichnet, diente zunächst der Inhaftierung bestimmter Gruppen jüdischer Häftlinge, die als wertvolle Geiseln betrachtet wurden und gegen im Ausland internierte Deutsche ausgetauscht werden sollten. Bergen-Belsen war damit das einzige der KZ-Hauptlager, das zunächst nur für jüdische Häftlinge eingerichtet wurde. Bis Frühjahr 1944 lebten – abgesehen von einem temporären Baukommando – daher nur jüdische Häftlinge in Bergen-Belsen. Ihre Lebensbedingungen waren zunächst besser als in den übrigen Konzentrationslagern. Das „Austauschlager“ war zudem von Beginn an ein Familienlager, in dem auch eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen untergebracht war. Trotz seiner Sonderfunktion war das Lager der SS (Schutzstaffel) unterstellt.
Ausbildung eines größeren Lagerkomplexes
Im Frühjahr 1944 errichtete die SS in einem Prozess zunehmender Funktionserweiterungen sukzessive neue Teillager, die mit dem Austauschvorhaben nichts mehr zu tun hatten. In diesem Zusammenhang gelangten in zunehmender Zahl auch nicht jüdische, insbesondere politische Häftlinge nach Bergen-Belsen. So entstand ein Konglomerat mehrerer strikt voneinander getrennter Teillager mit unterschiedlich strukturierten Häftlingsgesellschaften. Auch waren die Lebensbedingungen und damit die jeweilige Todesrate in den einzelnen Teillagern unterschiedlich. Der Einrichtung eines Männerlagers für kranke und sterbende Häftlinge unterschiedlicher Verfolgtengruppen folgte der Aufbau eines Frauenlagers als Verteilzentrum für weibliche Häftlinge zum Weitertransport in die Zwangsarbeit, vor allem in der Rüstungsindustrie. Beide Lagerkomplexe entwickelten sich seit Ende 1944 zu Auffang- und Sterbelagern für Räumungstransporte aus frontnahen Konzentrationslagern, mit denen bis Mitte April 1945 insgesamt etwa 85 000 Männer, Frauen und Kinder nach Bergen-Belsen gelangten. Dies hatte katastrophale Lebensbedingungen zur Folge; in kürzester Zeit entwickelte sich der gesamte Lagerkomplex Bergen-Belsen zu einem Sterbelager. Allein im März 1945 kamen hier mehr als 18 000 Häftlinge ums Leben, hauptsächlich durch Hunger und Typhus. Der Hunger wurde so extrem, dass es sogar zu Kannibalismus kam.
Wenige Tage vor der Befreiung entstand mit dem sogenannten Kasernenlager auf dem Gelände des benachbarten Truppenübungsplatzes der Wehrmacht noch ein Lagerabschnitt für etwa 15 000 männliche Häftlinge aus dem geräumten Konzentrationslager Mittelbau-Dora.
Als britische Soldaten Bergen-Belsen am 15. April 1945 befreiten, fanden sie auf dem Lagergelände etwa 10 000 unbestattete Leichname vor. Für viele Häftlinge kam die Befreiung zu spät; in den ersten Tagen nach der Befreiung starben noch täglich Hunderte von ihnen an den Folgen ihrer Haft. Die Gesamtzahl der Häftlinge des KZ Bergen-Belsen wird auf etwa 120 000 geschätzt, von denen mindestens 52 000 nicht überlebten.
Kurz vor der Befreiung war es der SS noch gelungen, die Akten des Lagers vor Ort fast vollständig zu verbrennen, darunter auch die Personalkartei der Häftlinge und die Transportlisten. Aus diesem Grund lassen sich statistische Fragen zur Geschichte des KZ Bergen-Belsen oft nur durch Parallel- und Ersatzüberlieferungen beziehungsweise nur mit einigermaßen durch Quellen abgesicherten Schätzungen beantworten. Insbesondere die Schlussphase der Lagergeschichte ist durch eine sehr bruchstückhafte Quellenüberlieferung gekennzeichnet.
Sinti:ze und Rom:nja in Bergen-Belsen
Informationen zur Zugehörigkeit zu einer der Romanes sprechenden Gruppen lassen sich aus den Quellen kaum ableiten. Sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen Sinti:ze und Rom:nja, die in Bergen-Belsen inhaftiert waren, ist eine größere Anzahl in den Transportlisten nicht als „Zigeuner“ kenntlich gemacht, sondern wird mit Kürzeln wie „ASR“ („Arbeitsscheu Reich“) oder „AZR“ („Arbeitszwang Reich“) in die Häftlingsgruppe der „Asozialen“ eingruppiert, im Einzelfall auch als „BV“ („Berufsverbrecher“) oder „SV“ („Sicherungsverwahrte“) den „Kriminellen“ zugeordnet. Durch den Abgleich verschiedener Quellen mit dem in den vergangenen Jahren in der Gedenkstätte Bergen-Belsen erarbeiteten Namensverzeichnis der Häftlinge des KZ Bergen-Belsen ist es möglich, bei den namentlich identifizierbaren Sinti:ze und Rom:nja die von der SS vergebene Häftlingskategorie zu identifizieren. Demnach wurden 93 von ihnen mit dem Häftlingswinkel der ‚Asozialen‘ in Bergen-Belsen eingeliefert (davon 49 Kinder, also Häftlinge bis zum Alter von 14 Jahren). Im Fall der Haftgruppen ‚BV‘ und ‚SV‘ sind es jeweils vier.
Frauen und Kinder
Zwar befanden sich in den Häftlingstransporten, die seit Frühjahr 1944 in das Männerlager eingewiesen wurden, vereinzelt auch Sinti und Roma, der erste Gruppentransport traf jedoch erst am 24. November 1944 in Bergen-Belsen ein. Dabei handelte es sich um einen Transport von 461 Frauen aus dem Dachauer Außenlager Allach, in dem sich 125 ungarische Romnja befanden, begleitet von ihren Kindern, die jedoch nicht namentlich erfasst wurden. Diese Romnja waren bei landesweiten Razzien in Ungarn verhaftet und Anfang November 1944 von Budapest aus zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht worden. Ein weiterer Transport von „Zigeunerinnen“, der durch eine erhalten gebliebene Transportliste belegt ist, verließ am 4. März 1945 das Außenlager Altenburg des KZ Buchenwald nach Bergen-Belsen. Von den insgesamt 150 Frauen dieses Transportes sind 27 als „Zigeunerinnen“ aufgeführt.1Arolsen Archives, Bestand 1.1.3.1. KZ Bergen-Belsen, Ordner 2, Transportliste KZ Buchenwald/Altenburg nach Bergen-Belsen, 04.03.1945. Bei ihnen handelte es sich überwiegend um deutsche Sintize. Mehr als die Hälfte von ihnen war jünger als 25 Jahre. Hinzu kommt schließlich ein am 1. März 1945 nach Bergen-Belsen abgehender Transport aus dem Buchenwalder Außenlager Taucha, mit dem 70 Sintize und Romnja nach Bergen-Belsen gelangten.2Ebd., Transportliste KZ Buchenwald/Taucha nach Bergen-Belsen, 01.03.1945. Andere Häftlingstransporte, mit denen ebenfalls Sintize und Romnja mit ihren Kindern nach Bergen-Belsen kamen, sind zwar als solche belegt, jedoch liegen zu ihnen keine Transportlisten mehr vor, sodass keine genauen Angaben über ihren Anteil an diesen Transporten möglich sind. Dies gilt zum Beispiel für zwei große Häftlingstransporte aus Ravensbrück, die am 6. und 26. März 1945 in Bergen-Belsen eintrafen. Auch aus Mauthausen traf noch am 19. März 1945 ein Transport ein, in dem sich nachweislich Sinti:ze und Rom:nja befanden, darunter die Sintiza Antonie Steinbach (1899–1945) mit ihren drei Kindern.3Archiv der Gedenkstätte Mauthausen, Frauenzugangsbuch Mauthausen K 5/6, Transport KZ Mauthausen nach Bergen-Belsen, 19.03.1945. Sie und ihre beiden Söhne starben vor der Befreiung, einzig die damals neunjährige Tochter überlebte.
Die vorliegenden Quellen beziehungsweise Daten zu Frauen und Kindern der Sinti:ze und Rom:nja im KZ Bergen-Belsen lassen sich wie folgt summarisch auswerten: Die meisten von ihnen gelangten im Februar, vor allem aber im März 1945 nach Bergen-Belsen. Insgesamt ist von einer Mindestzahl von etwa 1 000 Frauen und Kindern aus der Minderheit im KZ Bergen-Belsen auszugehen. Bemerkenswert ist die hohe Anzahl von Kindern, darunter auch Säuglinge und Kleinkinder. So ist zum Beispiel in den Quellen unter den namentlich bekannten Sinti:ze und Rom:nja insgesamt neunmal 1945 als Geburtsjahr aufgeführt. Die vorhandenen Daten lassen den Schluss zu, dass der prozentuale Anteil der Kinder bei der Häftlingsgruppe der Sinti:ze und Rom:nja höher war als bei allen anderen Häftlingsgruppen in Bergen-Belsen.
Die Mehrzahl der Frauen und Kinder gelangte in das KZ Bergen-Belsen, als es bereits zu einem Auffang- und Sterbelager geworden war. Sie waren nicht in einem Block gemeinsam untergebracht, sondern mit ihren Kindern auf mehrere Baracken verteilt, zusammen mit Häftlingen anderer Verfolgtengruppen. In einigen dieser seit Ende 1944 hastig aufgebauten Baracken fehlte es an jeglicher Inneneinrichtung, sodass sie auf dem Betonboden schlafen mussten. Die überlieferten Quellen geben keine Hinweise auf einen systematischen Einsatz der Mädchen und Frauen in lagerinternen Arbeitskommandos. Trotz der katastrophalen Lebensbedingungen und steigender Sterberaten hielt die SS weiterhin bei jedem Wetter in allen Lagerteilen täglich Zählappelle ab, bei denen die Häftlinge oft mehrere Stunden stehen mussten und an denen auch die Kleinkinder teilzunehmen hatten.
Deutsche Sintize bildeten unter den weiblichen Häftlingen der Minderheit die deutlich größte Teilgruppe, gefolgt von ungarischen Romnja. In kleinerer Zahl sind in den Quellen auch polnische und tschechische Romnja erwähnt sowie Staatenlose mit deutsch oder ungarisch klingenden Namen. Nur vereinzelt finden sich Namen westeuropäischer Romnja.
Männliche Häftlinge
Die meisten der männlichen Angehörigen der Minderheit, etwa 800 Sinti und Roma, trafen erst sehr viel später als die Frauen und Kinder in Bergen-Belsen ein. Die große Mehrzahl von ihnen wurde in der letzten Woche vor der Befreiung in das „Kasernenlager“ eingewiesen, das als Erweiterung des Hauptlagers in Teilen einer nahegelegenen Wehrmachtkaserne des Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne eingerichtet worden war. Fast alle von ihnen kamen, wie etwa Otto Rosenberg (1927–2001), mit Räumungstransporten aus dem Lagerkomplex Mittelbau-Dora, zu denen keine Transportlisten mehr vorliegen. Auch wurden die Häftlinge bei ihrer Ankunft im Kasernenlager nicht mehr registriert.
Insgesamt erlebten etwa 700 Sinti und Roma die Befreiung im Kasernenlager und etwa 100 im Männerlager. Letztere waren am 11. April 1945 nach Bergen-Belsen gelangt, mit dem einzigen Räumungstransport aus Mittelbau-Dora, der nicht in das Kasernenlager geleitet wurde. Deutsche Sinti im Kasernenlager wurden von der SS noch für den Einsatz in der SS-Sondereinheit Dirlewanger angeworben, um mit ihnen gemeinsam vor dem Eintreffen der britischen Truppen Bergen-Belsen zum Kampf an der Front zu verlassen. Wie viele der Sinti darauf eingingen, ist nicht bekannt.
Kriegsende und Befreiung
Zum Zeitpunkt der Befreiung waren die Sinti:ze und Rom:nja nach den politischen und den jüdischen Häftlingen die drittgrößte Häftlingsgruppe im KZ Bergen-Belsen. Im Kasernenlager, das am gleichen Tag wie das Hauptlager befreit wurde, kam es unmittelbar nach der Befreiung zu Lynchaktionen von Häftlingen gegen ehemalige ‚Kapos‘ (Funktionshäftlinge), denen am 15. April 1945 etwa 30 und am Folgetag etwa 130 bis 140 ehemalige Funktionshäftlinge zum Opfer fielen, darunter auch eine unbekannte Zahl deutscher Sinti, die diese Funktion in Mittelbau-Dora ausgeübt hatten.
Aufgrund der Vernichtung der Lagerregistratur und der Tatsache, dass die britischen Befreier nur die Gesamtzahl der nach der Befreiung noch gestorbenen ehemaligen Häftlinge dokumentierten, nicht aber nach Verfolgtengruppen und Nationalitäten differenzierten, sind keine genauen Angaben zur Todesrate unter den Sinti:ze und Rom:nja in Bergen-Belsen möglich. Belegt ist jedoch, dass die Todesrate unter den Sintize und Romnja sowie den Kindern, die im Hauptlager befreit wurden, deutlich höher war als unter den männlichen Sinti und Roma. Etwa ein Viertel aller Häftlinge, die am 15. April 1945 die Befreiung erlebt hatten, starben in den ersten Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Haft. Geht man von einer vergleichbaren Rate aus, kann die Anzahl der Toten unter den Sinti:ze end Rom:nja auf etwa 300 geschätzt werden.
Die Überlebenden des Hauptlagers wurden bis zum 19. Mai 1945 in die nun größtenteils als Nothospital genutzten Gebäude des benachbarten Kasernenkomplexes Bergen-Hohne gebracht. Erst hier konnten einige der Frauen und Kinder der Sinti:ze und Rom:nja ihre männlichen Verwandten wiedertreffen, von denen sie zuvor bei den Deportationen getrennt worden waren.
Die Überlebenden wussten nicht, was auf sie zukommen würde, als das SS-Personal aus Bergen-Belsen abzog und die britische Armee das Lager übernahm. Die Mehrzahl von ihnen, vor allem deutsche Sinti:ze, verließ das Lager fluchtartig ohne offizielle Entlassung schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Befreiung. Die wichtigsten Motive für diese Flucht waren die Ungewissheit darüber, was im befreiten Lager Bergen-Belsen nun mit ihnen geschehen würde, die Suche nach Familienangehörigen, die vielleicht andernorts überlebt hatten, aber auch die Befürchtung, sich noch im letzten Moment mit Typhus oder anderen Krankheiten anzustecken.
Die meisten osteuropäischen Rom:nja verblieben noch länger als ‚Displaced Persons‘ im Kasernenkomplex Bergen-Hohne, weil sie auf die Bereitstellung von Verkehrsmitteln für ihre Heimkehr angewiesen waren. Noch im August 1945 befanden sich ungarische Rom:nja in dem Lager für ‚Displaced Persons‘.
Bergen-Belsen-Prozess
Bereits einen Tag nach der Befreiung begann eine Film and Photographic Unit der britischen Armee, die Situation zu dokumentieren. Die Bilder von Tausenden ausgemergelten Leichen auf dem ehemaligen Lagergelände machten Bergen-Belsen weltweit zu einem Symbol für die Massenverbrechen des Nationalsozialismus und dienten auch als Beweisdokumente bei dem am 17. September 1945 in Lüneburg begonnenen Prozess gegen die Täter. Der „Belsen Trial“ war zugleich auch der erste Auschwitz-Prozess auf deutschem Boden, da mehrere der Angeklagten auch in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eingesetzt gewesen waren. Die an Sinti:ze und Rom:nja begangenen Verbrechen wurden dabei nicht explizit erwähnt.
Gedenkkundgebung 1979
Auch im Hinblick auf die Geschichte des KZ Bergen-Belsen fand die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja zunächst weder in der historischen Forschung noch in der Erinnerungskultur Beachtung. Erst mit der politischen Selbstorganisation der Sinti:ze und Rom:nja begann sich dies allmählich zu ändern. Ein wichtiger Wendepunkt in diesem Prozess war die erste internationale Gedenkfeier mit Kundgebung auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979. Mit dieser Veranstaltung, organisiert von der Gesellschaft für bedrohte Völker, der Roma-Welt-Union und dem Verband Deutscher Sinti, erinnerten insgesamt rund 2 000 Teilnehmer:innen, darunter 500 Sinti:ze und Rom:nja, an die Verfolgung im Nationalsozialismus und forderten zugleich die Beendigung der Diskriminierung und Einschränkung ihrer Bürgerrechte ein. Es war die erste Kundgebung dieser Art und Größe von Sinti:ze und Rom:nja in der Bundesrepublik Deutschland. Prominenteste Rednerin war Simone Veil (1927–2017), die damalige Präsidentin des Europäischen Parlaments, die im Alter von 17 Jahren als jüdische Deportierte in Bergen-Belsen befreit worden war. Bergen-Belsen war bewusst als Veranstaltungsort für die Gedenkkundgebung ausgewählt worden, da es für viele der deutschen Sinti:ze und Rom:nja die letzte Station eines langen Verfolgungswegs durch nationalsozialistische Konzentrationslager gewesen war.
Forschung und Erinnerung
Die historische Forschung zu Sinti:ze und Rom:nja im Konzentrationslager Bergen-Belsen setzte erst spät ein und fand nur eine geringe Rezeption. In Eberhard Kolbs 1962 erschienener Untersuchung, die noch immer das Standardwerk zur Geschichte des KZ Bergen-Belsen ist, findet diese Häftlingsgruppe keine Berücksichtigung. Selbst in neueren Überblicksdarstellungen wie in der im Jahr 2000 erschienenen Dissertation von Alexandra-Eileen Wenck werden Sinti:ze und Rom:nja in Bergen-Belsen lediglich in einer Anmerkung knapp erwähnt. Es war die Überlebende und österreichische Romni Ceija Stojka (1933–2013), die mit ihren 1988 erschienenen Erinnerungen und in ihrem künstlerischen Werk Bergen-Belsen als wichtigen Erinnerungsort für Sinti:ze und Rom:nja einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte. Erst 1990 erschien eine erste Studie von Wolfgang Günther über Sinti:ze und Rom:nja als Häftlinge im KZ Bergen-Belsen, an deren Zustandekommen der Niedersächsische Verband Deutscher Sinti maßgeblich beteiligt war und die bis heute die einzige Monografie zu diesem Thema geblieben ist. Ihr Hauptanliegen war zum einem der historiografische Nachweis, dass es auch im KZ Bergen-Belsen Sinti:ze und Rom:nja als Häftlingsgruppe gegeben hat, zum anderen der Versuch, annäherungsweise ihre Zahl zu ermitteln.
Die Überlebende Ceija Stojka (1933–2013) in ihrer Wohnung in Wien, Österreich, 1999. Ceija Stojka, eine Lowara, wuchs in einer Familie auf, die vom Pferdehandel lebte. Sie wurde 1943 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Der Vater war schon 1941 nach Dachau verschleppt und in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet worden.
Ceija Stojka überlebte Auschwitz-Birkenau sowie die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. Seit der Veröffentlichung ihres ersten autobiografischen Buches im Jahr 1988 zählte sie zu den wichtigsten Stimmen der Überlebenden. Fortan machte sie sich als Aktivistin, Künstlerin und Schriftstellerin einen Namen. 2009 ernannte das österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur Ceija Stojka zur Professorin.
Fotograf:in: Navigator Film
Navigator Film: Ceija Stojka, AT 1999
Zur Quellenbasis dieser ersten Studie zählten auch Audio-Interviews, die Wolfgang Günther mit deutschen Sinti:ze in Niedersachsen führte, die im KZ Bergen-Belsen befreit worden waren. Von September 1989 bis Februar 1990 entstanden so in Kooperation mit dem Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti 14 lebensgeschichtliche Interviews, zum Teil auch als Gruppeninterviews, mit insgesamt 18 Interviewpartner:innen. Von 1991 bis 1994 fand dieses Interviewprojekt unter Leitung von Heike Krokowski eine Fortsetzung. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen führte Hans-Jürgen Hermel ab 2001 neun Videointerviews mit Sinti:ze und Rom:nja, die im KZ Bergen-Belsen inhaftiert gewesen waren. Bezieht man auch entsprechende Video-Interviews aus dem Bestand des Fortunoff Video Archives an der Yale University mit ein, existieren bislang fast 40 Interviews mit Bezug zur Geschichte von Sinti:ze und Rom:nja im KZ Bergen-Belsen.
Die Gedenkstätte
Die Gedenkstätte Bergen-Belsen besteht zwar seit 1952 als erste Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik, sie blieb jedoch lange eine Gedenkstätte ohne Personal. Eine erste Ausstellung in einem „Dokumentenhaus“ am ehemaligen Lagergelände aus dem Jahr 1966 berücksichtigte die Opfergruppe der Sinti:ze und Rom:nja nicht. Nach der Einstellung wissenschaftlichen Personals im Jahr 1987 und damit dem Beginn einer Sammlungs- und Dokumentationstätigkeit wurde 1990 eine neue Dauerausstellung eröffnet, die sich im Hinblick auf Sinti:ze und Rom:nja — bedingt auch durch den noch mangelhaften Forschungsstand — auf eine kurze Skizze ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus beschränkte.
Erst die 2007 in einem neuen Dokumentationszentrum eröffnete, wesentlich umfangreichere Dauerausstellung geht detaillierter auf den rassenideologisch motivierten Völkermord an dieser Opfergruppe ein. Dabei finden an mehreren Stellen der Ausstellung Ausschnitte aus entsprechenden Videointerviews mit Überlebenden Verwendung. In einem Vertiefungsbereich werden Voraussetzungen und Verlauf der NS-Verfolgung systematisch dargestellt und mit exemplarischen Biografien veranschaulicht.
Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen ließ die Tochter von Antonie Steinbach einen Gedenkstein für ihre Mutter und ihre im Lager verstorbenen Brüder Heini und Willi errichten. Auf ihm wird außerdem an ihren Vater Albert Steinbach und ihre Großmutter Rosalie Schopper erinnert, die in anderen Lagern ermordet worden sind. Auf einer großen Inschriftenwand findet sich ein nach der Gedenkkundgebung von 1979 vom Verband Deutscher Sinti angebrachter Text mit folgendem Wortlaut: „In Trauer und tiefer Ehrfurcht // gedenken wir Sinti (Zigeuner) // der Opfer unseres Volkes. // Durch ihren gewaltsamen Tod // sind sie den Lebenden Mahnung // zum Widerstand gegen das Unrecht // am Menschen durch den Menschen.“
Grabstein auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Aufnahme circa 1997. In Erinnerung an ihre ermordete Familie ließ die einzige Überlebende der Familie, die bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen neun Jahre alt war, diesen Grabstein als Denkmal setzen.
Die Familie hatte seit 1936 im Zwangslager Berlin-Marzahn leben müssen. Die Tochter wurde mit der Mutter Antonie Steinbach (1899–1945) und ihren Brüdern Heini und Willi im April 1943 aus Berlin in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Von dort wurden sie im August 1944 zunächst in das Konzentrationslager Ravensbrück und später nach Mauthausen überstellt. Kurz vor Kriegsende trafen sie mit einem Transport in dem völlig überfüllten Konzentrationslager Bergen-Belsen ein. Der Vater Albert Steinbach und die Großmutter Rosalie Schopper wurden in anderen Lagern ermordet. Der letzte Absatz der Inschrift auf dem Grabstein lautet: AUSCHWITZ / BERGEN-BELSEN / RAVENSBRÜCK / NIE KEHRT IHR / ZURÜCK.
Fotograf:in: unbekannt
Gedenkstätte Bergen-Belsen