Tossicia

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Tossicia
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Die Kommune Tossicia liegt auf der Ostseite des Gran Sasso Massivs, im abruzzischen Apennin, Italien. Der etwa 30 Kilometer von der Stadt Teramo entfernte Ort zählte knapp 3 000 Einwohner:innen, als im Juni 1940 einige unweit des Zentrums Tossicias gelegene Gebäude als Konzentrationslager (campo di concentramento) bestimmt wurden. Die Anlage umfasste zwei Wohngebäude, später wurde ein kleineres Haus hinzugefügt, sodass insgesamt 120 Plätze vorhanden waren. 1Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Massime, b. 136, Fasc. Campi concentramento – Teramo [Konzentrationslager – Teramo].

Das Lager von Tossicia war eines der wenigen, das von einem Podestà geleitet wurde; dabei handelte es sich um Bürgermeister, deren Position seit 1926 in Italien nicht mehr durch Wahl, sondern per Ernennung durch die Regierung besetzt wurde. Für die Verwaltung des Lagers standen dem Podestà sein Stellvertreter und der Gemeindesekretär zur Seite. Die Bewachung war Aufgabe der Carabinieri, deren Kaserne nur 50 Meter von den Lagergebäuden entfernt war, und zu denen ein Feldwebel und vier Soldaten zählten.

Die Internierten

Das Lager wurde im August 1940 eröffnet und nahm anfänglich ausländische Juden:Jüdinnen sowie Chines:innen auf, die später alle in andere Lager verlegt wurden, da die überaus schlechten hygienischen Zustände gründliche Sanierungsarbeiten erfordert hätten, welche aber nie in Angriff genommen wurden. Die als Konzentrationslager verwendeten Gebäude verfügten weder über fließendes Wasser, noch über Kanalisation, und die Latrinen gefährdeten die Gesundheit der Internierten. Am 22. Juni 1942 trafen die ersten 35 Rom:nja aus der Provinz Ljubljana ein, und am 22. Juli folgten weitere 78.2Archivio storico del Comune di Tossicia [Historisches Archiv der Kommune Tossicia], Kat. XIV, Pubblica Sicurezza [Öffentliche Sicherheit], b. 2, Fasc. 23, Elenco degli internati [Liste der Internierten]. Im Juni 1943 waren insgesamt 118 Menschen interniert.3Während der Internierung kamen sieben Kinder zur Welt und es gab zwei Todesfälle (eine Neugeborene und ein Junge, der nach langer Krankheit im Krankenhaus in Teramo verstarb). Archivio storico del Comune di Tossicia, Kat. XIV, Pubblica Sicurezza, b. 2, Fasc. 23, Elenco degli internati.

Flucht im September 1943

Die unübersichtliche Lage nach dem Waffenstillstand zwischen der Regierung von Pietro Badoglio (1871–1956) und den Alliierten blieb auch auf das Konzentrationslager Tossicia nicht ohne Auswirkungen. In der Nacht des 26. Septembers 1943 konnten alle Internierten fliehen, da sie nicht mehr überwacht wurden. Nach der Flucht versteckten sich die Rom:nja in den abruzzischen Bergen, wo ihnen sowohl von Bauern:Bäuerinnen als auch von Partisan:innen Hilfe zuteilwurde.

Am 10. Oktober 1943 erließ der Polizeipräsident in Teramo einen Runderlass, mit dem er befahl, die Geflohenen aufzuspüren, aber erst im März 1944 wurden zwei Familien der Rom:nja, insgesamt 16 Personen, in Forlì, Region Emilia-Romagna, festgenommen und zurück nach Teramo gebracht. Da in den Konzentrationslagern der Provinz Teramo keine Plätze mehr zur Verfügung standen, wurden sie in den Räumen des kommunalen Wohlfahrtamts [Ente Comunale Assistenza] untergebracht, wo sie von Polizeibeamten der Polizeidirektion überwacht wurden.

Zu dem Zeitpunkt gehörte die Provinz Teramo zur Italienischen Sozialen Republik [Repubblica Sociale Italiana, RSI]. Da der Provinzchef (wie der Präfekt in der RSI genannt wurde) nicht wusste, wo er die beiden Familien unterbringen sollte, wandte er sich an das Italienische Rote Kreuz Komitee [Comitato Italiano Croce Rossa, CICR], damit man ihnen einen Passierschein ausstellte, der ihnen die lange Reise zurück nach Julisch Venetien und nach Slowenien ermöglichen sollte. Beide Familien weigerten sich, die Reise anzutreten und beantragten, in der Provinz Teramo bleiben zu dürfen, wobei sie erklärten, sie befürchteten die Rache der „Aufständischen“, das heißt der jugoslawischen Partisan:innen. Der Provinzchef genehmigte ihr Gesuch, in Teramo bleiben zu dürfen. Zwei Monate später zogen die deutschen Truppen aus der Stadt ab.

Kriegsende und Aufarbeitung

Nach dem Krieg kehrte der Großteil der ehemaligen Internierten nicht nach Jugoslawien zurück, sondern ging nach Norditalien, um sich wieder dem Pferdehandel zu widmen.

Einen kurzen Hinweis auf die Lebensbedingungen der Internierten kann man der Autobiografie des istrischen Roms Giuseppe Levakovich (1902–1988) entnehmen, der mit einigen der Internierten hatte Kontakt aufnehmen können. Darüber hinaus liegt ein Bericht des ehemaligen Internierten Rave Hudorovich (Lebensdaten nicht bekannt) vor, der 1983 in der Zeitschrift Lacio Drom veröffentlicht wurde. Außerdem wurden von der Ethnografin Jane Dick Zatta (1947–2005) Ende der 1990er-Jahre Interviews mit ehemaligen Internierten geführt und veröffentlicht.

Am 27. Januar 2013 haben Vereine der Sinti:ze und Rom:nja eine Gedenktafel an einem der als Konzentrationslager verwendeten Gebäude in Tossicia anbringen lassen.

Notes

  • 1
    Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Massime, b. 136, Fasc. Campi concentramento – Teramo [Konzentrationslager – Teramo].
  • 2
    Archivio storico del Comune di Tossicia [Historisches Archiv der Kommune Tossicia], Kat. XIV, Pubblica Sicurezza [Öffentliche Sicherheit], b. 2, Fasc. 23, Elenco degli internati [Liste der Internierten].
  • 3
    Während der Internierung kamen sieben Kinder zur Welt und es gab zwei Todesfälle (eine Neugeborene und ein Junge, der nach langer Krankheit im Krankenhaus in Teramo verstarb). Archivio storico del Comune di Tossicia, Kat. XIV, Pubblica Sicurezza, b. 2, Fasc. 23, Elenco degli internati.

Citation

Paola Trevisan: Tossicia, in: Encyclopaedia of the Nazi Genocide of the Sinti and Roma in Europe. Ed. by Karola Fings, Research Centre on Antigypsyism at Heidelberg University, Heidelberg 5 March 2024.

1940
11 July 1940In Italy, it is decided that all ‘suspected Gypsies’, especially those without Italian citizenship, can be transferred to a concentration camp (campo di concentramento) on the recommendation of the prefect.
1942
22 June 1942The first Roma are interned in the concentration camp (campo di concentramento) in Tossicia, Italy. Others follow in the next few months.
1943
8 September 1943After the fall of Benito Mussolini on 25 July 1943, the new government under Marshal Pietro Badoglio negotiates with the Allies. The armistice is signed on 3 September 1943 and announced on 8 September. On 10 September, the release of ‘nationals of an enemy state’ from the concentration camps (campi di concentramento) is decreed. Political internees and other categories of prisoners had already been released earlier. ‘Gypsies’ are disregarded and are therefore not yet released.
26 September 1943All those interned in the concentration camp (campo di concentramento) in Tossicia, Italy, flee the camp as it is no longer guarded.
2013
27 January 2013Sinti and Roma associations erect memorial plaques on the sites of the former concentration camps (campo di concentramento) in Tossicia and Agnone, Italy.