Gypsy Lore Society

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Gypsy Lore Society
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 21. August 2024

Die Gypsy Lore Society (GLS) wurde 1888 in Edinburgh, Vereinigtes Königreich, mit dem Ziel gegründet, die Erforschung der Geschichte, Sprache und Bräuche von Rom:nja zu fördern. Nach einer Unterbrechung der Aktivitäten im Jahr 1892 und einem Neustart in Liverpool im Jahr 1907 entwickelte sie sich zu einer Drehscheibe für den internationalen Austausch von Wissen und Ideen über Rom:nja und Sinti:ze. Durch ihre Zeitschrift, das „Journal of the Gypsy Lore Society“ (JGLS), ihre Archiv- und Bibliothekssammlungen und die persönlichen Netzwerke, die sie förderte, hat die GLS die Trends in der Forschung über „Gypsies“ im 20. Jahrhundert wesentlich beeinflusst. In Europa und Amerika gab es kaum jemanden, der sich für Romn:ja interessierte, ohne Kontakt zur GLS gehabt oder gesucht zu haben. Die GLS verlegte ihren Sitz 1989 in die Vereinigten Staaten und gibt seit dem Jahr 2000 ihre Zeitschrift unter dem Titel „Romani Studies“ heraus.

Kritik an der GLS und dem Gypsylorism

In den 2000er Jahren gerieten die GLS und ihre Rolle in die Kritik, als die Bürgerrechtsbewegung erstarkte und die Verflechtungen zwischen der nationalsozialistischen Verfolgung und der „wissenschaftlichen“ Forschung über Rom:nja intensiver erforscht und reflektiert wurden. Der charakteristische Ansatz der Gründergenerationen der GLS, darunter der Leiter der Liverpooler Universitätsbibliothek John Sampson (1862–1931) und Dora Esther Yates (1879–1974), de-facto-Sekretärin der Gesellschaft und Herausgeberin des JGLS von den 1920er Jahren bis kurz vor ihrem Tod, folgte dem Vorbild des englischen Schriftstellers George Borrow (1803–1881). Während sie persönliche Beziehungen zu Familien aus den Communitys pflegten, behandelten sie diese Menschen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und im Austausch untereinander als Objekte sprachlicher und genealogischer Studien. Befürworter der Critical Romani Studies haben diesen „Gypsylorism“ (manchmal auch „Lorism“) als eine vom Orientalismus bzw. von einem kolonialen Blick geprägte Praxis bezeichnet. Ähnlich problematisch sind die explizit rassistischen und eugenischen Elemente im Denken der GLS-Mitglieder selbst, deren romantische Begeisterung für die Lebensweise von „Gypsies“ typischerweise auf einer Unterscheidung zwischen „reinrassigen“ (authentischen) Rom:nja und anderen beruhte. Gleichzeitig versäumte es die Gesellschaft, sich aktiv mit den von den antiziganistischen Maßnahmen der britischen Behörden Betroffenen zu solidarisieren, und Kritik an solchen Maßnahmen erfolgte im JGLS bis in die 1970er hinein spät und halbherzig.

In den 1970er Jahren zählten zu den Mitgliedern und Korrespondenten der GLS intellektuelle Roma sowie Aktivisten, darunter auch Angehörige der Communitys, aus Amerika, Großbritannien und dem übrigen Europa. Der naive Eklektizismus der GLS bedeutete jedoch, dass selbst zu diesem Zeitpunkt Wissenschaftler:innen, die an der nationalsozialistischen Verfolgung beteiligt oder eng mit ihr verbunden waren, die Gesellschaft weiterhin als Anlaufstelle betrachteten. Sophie Ehrhardt (1902–1990), eine der Assistentinnen von Robert Ritter (1901–1951), schrieb 1971 an Dora Yates und bat um Informationen über Verbindungen zwischen deutschen und balkanischen Zigeunern. Das von Johann Knobloch (1919–2010) im Zwangslager Lackenbach (Österreich) gesammelte Material wurde 1953 ohne kritischen Kommentar veröffentlicht, und Hermann Arnold (1912–2005), Mitarbeiter des Eugenikers Otmar von Verschuer (1896–1969), veröffentlichte in den 1960er und 1970er Jahren Artikel, Rezensionen und Notizen in der JGLS, die sich auf Ritters Arbeit stützten und die Verfolgung herunterspielten.

Die GLS und der Völkermord an den Rom:nja

Die Reaktion der GLS und ihrer Mitglieder auf den Völkermord in der Zeit zwischen 1933 und den Nachkriegsjahren war diffus und widersprüchlich. Briefe und Zeitungsausschnitte in den Archiven der GLS dokumentieren bereits ab 1936 ein Bewusstsein für die Maßnahmen der Nazis gegen Rom:nja. Aus Yates‘ Korrespondenz geht hervor, dass sie von Ritters Vorkriegsaktivitäten wusste, und ab 1941 zeigen ihre Briefe eine wachsende Gewissheit über die Verfolgung der Rom:nja und die Überzeugung, dass das Ziel der deutschen Politik darin bestand, sie „ebenso wie die Juden“ auszurotten. Als JGLS-Redakteurin war sie jedoch sehr vorsichtig und wollte die Leser:innen offenbar nicht beunruhigen. Während des Krieges war die einzige Erwähnung der Verfolgung in der Zeitschrift ein Bericht von 1943 über das Massaker von Deutschen an serbischen Rom:nja, den sie als Nachwort zu einem Artikel über frühneuzeitliche Verfolgungen anfügte. Ab Herbst 1945 begann sie, sich aktiv um Informationen über das Schicksal der Rom:nja zu bemühen, angeregt unter anderem durch Berichte von kontinentaleuropäischen GLS-Mitgliedern. Der erste JGLS-Beitrag, der in seinem Titel direkt auf die Verfolgung Bezug nahm, wurde von dem französischen Diplomaten Frédéric Max (1913–1995) verfasst und basierte auf dem, was er von Roma erfahren hatte, die mit ihm in Buchenwald inhaftiert gewesen waren. Da Yates zögerte, etwas über den Völkermord zu drucken, das „für unsere Mitglieder nicht völlig erträglich“1Newberry Library, Chicago, Alfred Hamill Papers, Dora Yates Letters, Dora Yates an Alfred Hamill, 1. September 1945. sein könnte, veröffentlichte sie den Text 1946 auf Französisch. Die gleiche Ausgabe enthielt einen Aufruf der Redaktion, Information über Erfahrungen von Rom:nja während des Krieges einzureichen.

Die zweite JGLS-Ausgabe von 1946 brachte eine Reflexion über den Völkermord von dem jungen Schriftsteller und Kalderaš Matéo Maximoff (1917–1999), und den zweiten Teil eines Beitrags von Vanya Kochanowski (1920–2007) über die lettischen Rom:nja. Während Kochanowskis erster Teil rein ethnografisch ausgerichtet war, trug der zweite den Zusatz „von einem der Überlebenden“ und enthielt einen Augenzeugenbericht über den Völkermord.

In den folgenden zwei Jahrzehnten war das JGLS eine der wenigen öffentlich zugänglichen Informationsquellen über die Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja. In der Zeitschrift erschienen regelmäßig Artikel und Berichte, die entweder von Verfolgungserfahrungen handelten oder die Tatsache der Verfolgung in ihre Beiträge über das Leben von Rom:nja aufnahmen. Der Historiker und Politikwissenschaftler Hans Buchheim (1922–2016) verwies in den 1960er Jahren in seiner Funktion als Sachverständiger am Institut für Zeitgeschichte in München (Deutschland) im Rahmen juristischer Auseinandersetzungen über den NS-Völkermord auf die Autorität der JGLS-Publikationen. Er verwies dabei auch auf den Artikel, den Dora Yates 1949 in der jüdischen Zeitschrift „Commentary“ veröffentlichte und der sich stark auf ihre GLS-Korrespondenz stützte.

Trotz ihrer ambivalenten Haltung spielte die GLS also eine wichtige Rolle bei der frühen weltweiten Verbreitung von Wissen über den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja.

Einzelnachweise

  • 1
    Newberry Library, Chicago, Alfred Hamill Papers, Dora Yates Letters, Dora Yates an Alfred Hamill, 1. September 1945.

Zitierweise

Eve Rosenhaft: Gypsy Lore Society, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 21. August 2024.-

1946
April 1946Vanya Kochanowski berichtet in einem im Vereinigten Königreich erscheinenden Artikel ausführlich über den Völkermord an den Rom:nja in Lettland.
Oktober 1946Matéo Maximoff fordert in einem im Vereinigten Königreich erscheinenden Artikel die Einsetzung eines Tribunals der Vereinten Nationen zur Bestrafung der Mörder von 500 000 Sinti:ze und Rom:nja.