Am Freitagnachmittag, dem 19. Mai 1944, wurden 691 Häftlinge des Durchgangslagers Westerbork in den deutsch besetzten Niederlanden in 18 Eisenbahnwaggons zur Deportation abgefertigt. 238 jüdische Männer, Frauen und Kinder stiegen in Waggons der dritten Klasse ein. Ihr endgültiges Ziel war das Austauschlager Bergen-Belsen in der Nähe von Celle. Diese Häftlinge wurden als „privilegiert“ betrachtet und behandelt: Sie erhielten Sitzplatzreservierungen, durften sich von ihren Angehörigen auf dem Bahnsteig verabschieden und hatten die Möglichkeit, zusätzliches Gepäck mitzunehmen.
Die anderen Häftlinge wurden in Viehwaggons in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert. Sie galten als „Transportmaterial“. Zu dieser Gruppe gehörten 208 Juden:Jüdinnen, die als „Straffälle“ bezeichnet wurden. Dabei handelte es sich häufig um in Verstecken Verhaftete. Sie hatten in Westerbork die unbeliebtesten Arbeiten im Lager verrichten müssen: Arbeit in den Industrieanlagen oder graben unter Aufsicht von Wachpersonal. Manchmal rasiert, manchmal unrasiert, wurden sie in Strafbaracken mit dreistöckigen Etagenbetten eingesperrt, die vom Rest des Lagers durch eine doppelte Reihe Stacheldraht abgetrennt waren. Kurz vor ihrem Abtransport tauschten sie ihre „Gefängniskleidung“ – blau-rote Overalls mit einem S auf den Ärmeln – gegen ihre eigene Kleidung aus.
Zu der Gruppe der Deportierten gehörten auch 245 Sinti:ze und Rom:nja. Sie erhielten einen Platz in den letzten drei Viehwaggons des Zuges. Ein jüdischer Überlebender des Lagers sagte nach dem Krieg, dass die Verpflegung der Sinti:ze und Rom:nja sehr chaotisch gewesen sei. Die Menschen hätten nicht gewusst, was mit ihnen geschehen würde. Ohne jegliches Gepäck seien sie von SS-Männern (Schutzstaffel) und Offizieren der Marechaussee (niederländische Gendarmerie) in die Waggons getrieben worden. Bei der überwiegenden Mehrheit der deportierten Sinti:ze und Rom:nja hat es sich um Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren gehandelt.
Der Film aus Westerbork
Die Abfahrt des Zuges am 19. Mai 1944 wurde von dem jüdischen Filmemacher und Häftling Rudolf Breslauer (1903–1945) auf Anweisung des Lagerkommandanten Albert Konrad Gemmeker (1907–1982) gefilmt. Diese Bilder wurden weltweit zu einem Symbol der Shoah. Das berühmteste Bild zeigt ein Mädchen, das durch die Waggontüren hinausschaut. Erst in den 1990er-Jahren wurde durch Recherchen des niederländischen Journalisten Aad Wagenaar (1939–2021) bekannt, wer dieses Mädchen war: Anna Maria „Settela“ Steinbach (1934–1944), ein Sinti-Mädchen, das im August 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Es war die Überlebende Theresia „Crasa“ Wagner (1927–unbekannt), die Wagenaar die Identität von Settela bestätigte. Sie befand sich in demselben Waggon in Westerbork, als Breslauer die Filmaufnahmen machte. Sie berichtete: „Ich lag hinter ihr auf dem Boden und sie stand dort an der Tür. Ihre Mutter schrie sie an, sie solle da weggehen. Denn wir hörten, dass die Türen von draußen verriegelt wurden. ‚Jetzt geh da weg‘, schrie die Mutter, ‚sonst kommt dein Kopf dazwischen!‘ Ich glaube, sie beobachtete einen Hund, der außerhalb des Zuges entlanglief. Ihre Mutter zog sie schließlich von der Tür weg.“1 Broersma und Rossing, Kamp Westerbork gefilmd, 75.
Bahnhof Assen
Nach der Abfahrt des Zuges wurde ein erster Halt auf dem nahe gelegenen Bahnhof von Assen eingelegt. Hier wurde ein Transport aus dem belgischen Sammellager Mechelen in der Kaserne Dossin an den Zug aus Westerbork gekoppelt. In dem Transport aus Mechelen befanden sich mehr als 500 Juden:Jüdinnen und ein Rom, Stevo Caroli (1925–unbekannt). Am Bahnhof Assen hatte sich auch eine kleine Gruppe von zwölf Sinti:ze eingefunden, die in Begleitung eines Polizeibeamten dem Transport der 245 Sinti:ze und Rom:nja aus Westerbork angeschlossen werden sollten. Diese Sinti:ze waren einen Tag zuvor unter anderem in Vorden verhaftet worden. Den zwölf am Bahnhof in Assen wartenden Sinti:ze gelang es mithilfe eines beteiligten Beamten, der im Widerstand aktiv war, ihrer Deportation zu entgehen, und sie konnten fliehen. Nach dem kurzen Halt in Assen fuhr der Zug nach Groningen und dann über Bad Nieuweschans weiter nach Deutschland. Über Norddeutschland erreichte der Zug am 21. Mai 1944 Auschwitz-Birkenau.
Auschwitz-Birkenau
Nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau fand eine Selektion unter den mehr als 500 Juden:Jüdinnen aus der Kaserne Dossin und den 208 Juden:Jüdinnen aus Westerbork statt, bei der etwa 100–200 Männer und Frauen zur Arbeit ausgewählt wurden. Die anderen Männer, Frauen und Kinder wurden in den Gaskammern ermordet. Die Gruppe der 246 Sinti:ze und Rom:nja wurde vollständig in den Lagerabschnitt BIIe verlegt. Hier herrschten unglaublich schlechte hygienische Bedingungen, sodass viele an Typhus, Durchfall oder Hunger starben. Einige der Gefangenen wurden für medizinische Experimente missbraucht. Die Sinti:ze und Rom:nja aus Westerbork waren in der Baracke 18, dem „Holländerblock“, untergebracht. Sie erhielten eine Tätowierung auf dem linken Unterarm, ein Z, gefolgt von einer fünfstelligen Zahl. Fast jeden Tag gab es stundenlange Appelle und Strafmaßnahmen. Die „arbeitsfähigen“ Sinti:ze und Rom:nja wurden schließlich in andere Lager verlegt. Anfang August 1944 wurde der Lagerabschnitt BIIe liquidiert und alle verbliebenen Frauen, Kinder und Alten wurden unter heftigem Widerstand in die Gaskammern getrieben. Nur 31 der am 19. Mai 1944 deportierten Sinti:ze und Rom:nja überlebten schließlich den Krieg.