Gelsenkirchen

Logo
Suche
Gelsenkirchen
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Die Stadt Gelsenkirchen, gelegen im industriestarken Ruhrgebiet des Deutschen Reiches, betrieb seit Ende 1934 die Errichtung eines separaten „Zigeunerlagerplatzes“. Ziel war es, möglichst viele der in der Stadt lebenden Sinti:ze und Rom:nja zu vertreiben. Neben dem Stadtpolizeiamt und weiteren Ämtern der kommunalen Verwaltung war die staatliche Polizei – das dem Recklinghausener Polizeipräsidium unterstehende Polizeiamt in Gelsenkirchen – an der Lagergründung beteiligt.

Der Errichtung des Lagerplatzes gingen Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit voraus, weil damit auch die Frage der Kostenübernahme verbunden war. Schließlich übernahm das Stadtpolizeiamt die Errichtung und den Betrieb. Ein Ortsstatut wurde ausgearbeitet, welches das Regierungspräsidium Münster am 23. Dezember 1935 genehmigte. Dieses sah vor, dass Zigeuner beim Stadtpolizeiamt für die Nutzung des Platzes eine Erlaubnis erwirken mussten und vorab ein Standgeld zu bezahlen hatten. Das Standgeld belief sich für den ersten Tag auf eine Reichsmark (was dem Preis von drei Broten entsprach), stieg täglich an und betrug ab dem fünften Tag jeweils fünf Reichsmark.

Zwangslager an der Cranger Straße

Im Januar 1936 berichtete die örtliche Presse über das an der Cranger Straße 543 am nördlichen Stadtrand geplante Zigeunerlager. Das an einem Kanal gelegene Brachgelände wurde umzäunt und bis Ende 1936 mit einer Abortanlage und einer Wasserpumpe fertiggestellt. Ab 1937 zwangen städtische Dienststellen Sinti:ze und Rom:nja mittels Drohungen und Schikanen in die Cranger Straße. Vor dem Hintergrund des Runderlasses vom 8. Dezember 1938 forcierte die staatliche Polizei aus „sicherheitspolizeilichen Gründen“ die Konzentration im Lager. Eigentümer:innen von Grundstücken wurde unter Verweis auf die Reichstagsbrandverordnung verboten, diese an „Zigeuner“ zu vermieten. Am 17. April 1939 lebten 45 Familien mit 237 Menschen in 51 Wohnwagen auf dem Lagergelände.

Zwangslager Reginenstraße und Deportation

Beschwerden zweier benachbarter Industrie- und Zechenbetriebe sowie die Einschätzung der Stadtverwaltung, dass aus umliegenden Gemeinden Sinti:ze und Rom:nja auf den Platz an der Cranger Straße abgeschoben würden, führten zu einer neuen Strategie. Nun sollte durch stetigen Standortwechsel der vorübergehende Charakter des Lagers betont werden. An der Reginenstraße im Süden Gelsenkirchens entstand in sehr kurzer Frist ein durch Gleisanlagen, eine Kokerei und ein Hochofenwerk abgeschotteter neuer Lagerbereich. Städtische und staatliche Polizei verabredeten die Räumung des Lagers an der Cranger Straße für die Zeit vom 5. bis 9. Juni 1939. Der Großteil der Wagen wurde am 9. Juni 1939 überführt.

Das Lager an der Reginenstraße bewachten nun Männer einer Sturmabteilung (SA-Sturm 14). Auch in den Abend- und Nachtstunden führten sie Kontrollen durch. Die Strategie der Schikanen ging auf: Bis Oktober 1939 lebten von ehemals 52 Familien nur noch sechs in dem Lager Reginenstraße; alle anderen waren in umliegende Städte ausgewichen. Mit dem Festsetzungserlass liefen weitere Vertreibungsbemühungen der Stadt ins Leere. Zwei Bilderserien der Rassenhygienischen Forschungsstelle, die 1937/38 und im Frühjahr 1940 in Gelsenkirchen Erfassungen vornahm, vermitteln einen Eindruck von den sich mit jedem Jahr verschlechternden Lebensverhältnissen in den Lagern.

Am 10. März 1943 wurden 46 Männer, Frauen und Kinder aus dem Lager Reginenstraße zusammen mit anderen in Gelsenkirchen lebenden Sinti:ze und Rom:nja in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Danach wurde das Lager aufgelöst, die Wohnwagen zugunsten der Reichskasse verkauft.

Aufarbeitung der Geschichte

Auf Initiative des Verbandes Deutscher Sinti und Roma e.V., Landesverband Nordrhein-Westfalen, begann die Stadt Gelsenkirchen 1995 mit der Aufarbeitung der Geschichte der beiden Zwangslager. Die in diesem Zusammenhang 1999 veröffentlichte Studie legte einen besonderen Schwerpunkt auf die Beteiligung städtischer Behörden an der Verfolgung sowie auf die Namen und Biografien der Opfer. An den ehemaligen Lagerstandorten sind alle Spuren verwischt.

Zitierweise

Karola Fings: Gelsenkirchen, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1935
23. Dezember 1935Die Stadt Gelsenkirchen, Deutschland, erlässt ein Ortsstatut, mit dem der Betrieb des Zwangslagers an der Cranger Straße geregelt wird.
1939
9. Juni 1939In Gelsenkirchen, Deutschland, dürfen in Wohnwagen lebende Sinti:ze und Rom:nja nur noch in dem Zwangslager an der Reginenstraße leben, das von einer Sturmabteilung (SA) bewacht wird.