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  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 24. März 2025

In Kiel, einer Hafenstadt an der Ostsee, Deutschland, lebten Sinti:ze und Rom:nja als Wandergewerbetreibende, Handwerker, Musiker und Arbeiter. Vor 1933 existierten Wohnplätze vermutlich über das Stadtgebiet verteilt. Ab Mitte der 1930er-Jahre sind nur noch drei nachweisbar; bei diesen handelte es sich um überwachte Stellplätze, die südlich der Kieler Hörn in den Stadtteilen Gaarden und Kronsburg lagen. Auf diesen den Zwangslagern ähnlichen Plätzen musste die übergroße Mehrheit der Sinti:ze und Rom:nja fortan zwangsweise leben.

Der mit etwa 80 in Wohnwagen lebenden Bewohner:innen größte Platz lag hinter der Alten Lübecker Chaussee 11a, zwischen einem Gasometer und Bahngleisen. An der Alten Lübecker Chaussee 57, einem Baustellengelände neben einer Fischmehlfabrik, wurden 21 Personen in Wohnwagen festgesetzt. Der dritte Zwangsplatz war das kommunale Obdachlosenasyl Preetzer Straße 117–119, in das 24 Sinti:ze und Rom:nja eingewiesen wurden. Die Polizei erfasste auch Personen, die in Wohnungen auf dem Kieler Westufer lebten, als Zigeuner in einer besonderen Liste.

Quellenlage und Forschungsstand

Für die Zeit des Nationalsozialismus und davor ist die Überlieferungslage für Kiel fragmentarisch. Hinzu kommt, dass viele der zu Verfügung stehenden Quellen – Akten der Stadtverwaltung und der Polizei – nur die Täterperspektive widerspiegeln. Demgegenüber sind beim schleswig-holsteinischen Landesarchiv Akten zu Klagen von Sinti:ze und Rom:nja auf Entschädigung erhalten. Diese werden ergänzt durch Interviews aus den 1990er-Jahren (Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung). Für die Zeit nach 1945 liegen zudem viele Zeitungsartikel vor. Die Forschung zur Verfolgung der Kieler Sinti:ze und Rom:nja hat in den letzten Jahren Fortschritte gemacht, weist jedoch in mehreren Bereichen Lücken auf, etwa bezüglich der lokalen Tätergruppen, der personellen Kontinuitäten nach 1945 sowie des Alltags und der Überlebensstrategien der verfolgten Sinti:ze und Rom:nja.

Inbetriebnahme, Verwaltung und Überwachung

Alle drei Zwangsplätze standen unter städtischer Verwaltung. Obdachlose Sinti:ze und Rom:nja wurden von der Stadtverwaltung als asozial stigmatisiert und in das kommunale Obdachlosenasyl in der Preetzer Chaussee 117–119 eingewiesen. Dies war 1937 in Gaarden-Süd auf einem städtischen Grundstück errichtet worden. Es lag zum damaligen Zeitpunkt an der Stadtgrenze, neben einer Bahnstrecke, und war umgeben von Kleingärten. An derselben Stelle hatte sich um die Jahrhundertwende bereits ein Armenhaus befunden. Das Obdachlosenasyl bestand aus 90 einfachen Unterkünften, sogenannten „Kojen“, und war umzäunt. Die Unterkünfte waren nicht mit Wasserleitungen oder Sanitäreinrichtungen versehen, was den gefängnisartigen Charakter unterstreichen sollte.1 Stadtarchiv Kiel, Sitzungen der Gemeinderäte 1938, II 48, Bl. 475. Unter den Bewohner:innen des Obdachlosenasyls waren 24 Sinti:ze – Erwachsene und Kinder.

Lagerverwalter wurde Feldwachtmeister Otto von Reckowsky (1895–1981), Mitglied der NSDAP und Blockleiter. Er verfügte über eine Dienstwaffe sowie einen Polizeihund2 Ebd., 32614, Stellenbesetzung bei der Gemeindevollzugspolizei und der Feld- und Forstpolizei; 72039, Personalangelegenheiten der Polizeiverwaltung. und bezog seine Dienstwohnung in einem Mietshaus auf dem Lagergelände, in dem auch einige Handwerker lebten.3 Adressbuch 1938, Preetzer Chaussee 117–119. Zu Reckowskys Aufgaben gehörte es, die Insass:innen zu überwachen und den regelmäßigen Schulbesuch der Kinder sicher zu stellen.4 Stadtarchiv Kiel, 52979, Amt für Schulwesen, Bl. 159, 179.

Die Zwangsplätze an der Alten Lübecker Chaussee 11a und 57 wurden durchgängig von der Kriminalpolizei überwacht. Über die Topografie der beiden Zwangsplätze ist wenig bekannt. Eine Fotografie, die in einer rassenanthropologischen Darstellung von 1936 erschienen ist,5 Vgl. Block, Zigeuner, Abbildung 36. zeigt einen Platz, der aus der Vogelperspektive fotografiert wurde. Darauf stehen Wohnwagen dicht an dicht, zudem ist er von allen Seiten von hohen Mauern und Holzzäunen umgeben. Personen bewegen sich auf dem Platz. Im Hintergrund erkennt man ein Holztor, das den Durchgang zu einem Hof versperrt. Dahinter ist ein Straßenzug zu erahnen. Bei der Straße könnte es sich um die Alte Lübecker Chaussee handeln und bei dem Hinterhof um die Hausnummer 11a. Das Gasometer könnte der Standort sein, von dem aus die Fotografie aufgenommen wurde.

Erfassung und Deportation

Der Kieler Oberbürgermeister und NSDAP-Kreisleiter Walter Behrens (1889–1977) erstattete dem Gemeindetag im November 1938 über ‚Zigeuner‘ in seiner Stadt Bericht und erkundigte sich nach gesetzlichen Regelungen, da die Stadt die Zwangsplätze an der Alten Lübecker Chaussee für andere Zwecke benötige.6 Bundesarchiv Berlin, Rep_142-07_DGT_1-10-1-23, Schreiben des Kieler Oberbürgermeisters an den Gemeindetag, 29.11.1938. Wenig später erging zwar keine gesetzliche Regelung, aber Heinrich Himmler (1900–1945) gab in seinem Runderlass vom Dezember 1938 Maßnahmen bekannt, mit denen die „Zigeunerfrage“ zentral und „aus dem Wesen dieser Rasse“ angegangen werden sollte. Wesentlicher Bestandteil dieser Maßnahmen waren die reichsweite polizeiliche und rassenbiologische Erfassung aller Angehörigen der Minderheit. Für Kiel ist eine Erfassung durch Mitarbeitende der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF) um Robert Ritter (1901–1951) belegt: Die 1939 von der Kieler Ortspolizeibehörde angefertigten ‚Zigeunerlisten‘ weisen detaillierte Personeninformationen und den Hinweis auf „Gutachtliche Äußerungen“ der RHF auf.7 Stadtarchiv Kiel, 66679, Namensverzeichnis zigeunerischer Personen im Ortspolizeibezirk Kiel; Ebd., 66680, Namensverzeichnis der zigeunerisch begutachteten und – für Lübeck – in das Generalgouvernement abgeschobenen zigeunerischen Personen aus Kiel und Lübeck (Abschrift). Die Listen enthalten Personalien zu 163 Personen beziehungsweise 37 Haushalten und Familien; 125 Personen lebten auf den drei Zwangsplätzen und 38 Personen in Wohnungen. Die Anfertigung der Listen erfolgte zur Vorbereitung auf die reichsweite Mai-Deportation, die in Kiel am 16. Mai 1940 frühmorgens begann. Die Polizei umstellte die drei Zwangsplätze und deportierte ausnahmslos alle Sinti:ze und Rom:nja in den Fruchtschuppen C das Hannoverschen Bahnhofs in Hamburg. Ihr Eigentum, wie zum Beispiel Wohnwagen, wurde aller Wahrscheinlichkeit nach beschlagnahmt und zugunsten des Reiches eingezogen. Von Hamburg aus wurden die Kieler zusammen mit anderen norddeutschen Sinti:ze und Rom:nja in das Lager Belzec im Generalgouvernement deportiert und von dort in weitere Lager und Gettos verschleppt.

Die Überlebende Sintiza Elsa Krause (1913–1982) berichtet davon, dass die SS (Schutzstaffel) sie und ihre Familie 1944 zurück ins Reichsgebiet brachte. Dort wurden sie im Lager Höherweg in Düsseldorf inhaftiert und – angesichts des Vorrückens der Alliierten – zum Zwangsplatz Preetzer Straße in Kiel gebracht, den sie nicht verlassen durften.8 Landesarchiv Schleswig, Abt. 761, Nr. 12562. Im April 1944 wurden Sinti:ze und Rom:nja, die nicht auf den Zwangsplätzen lebten und 1940 verschont worden waren, in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.9 Ebd., Nr. 26399.

Nach 1945

Vermutlich ein Drittel der Kieler Sinti:ze und Rom:nja hatte den Völkermord überlebt und kehrte in eine in weiten Teilen zerstörte und mit Flüchtlingen überfüllte Stadt zurück. Obwohl sie anfangs nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden, erstritten sich einige der Überlebenden in den 1950er-Jahren Entschädigungszahlungen nach dem schleswig-holsteinischen Haftentschädigungsgesetz und in den 1960er-Jahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz.

Diesen positiven Fällen muss jedoch die Kontinuität der Repression gegenübergestellt werden: Die Polizei verwendete die Deportationsliste von 1940 weiter, vermerkte mit Kreuzen die zurückkehrenden Sinti:ze und Rom:nja und markierte sie in den Hausstandsbüchern des Einwohnermeldewesens mit einem roten „Z“.10 Archiv des Kieler Einwohnermeldeamtes, Zigeunerlager Preetzer Str. 119, Hausstandsbücher 2a und b. Das Kieler Hauptamt verweigerte ihnen die freie Wohnungswahl und wies sie 1946 in das Obdachlosenasyl Preetzer Straße 117–119 ein. Der Verwalter war immer noch derselbe Feldwachtmeister wie vor 1945 und setzte nach einer Weisung des Ordnungsamtes seine früheren Überwachungsmethoden fort. Beschwerden einzelner Bewohner:innen gegen diese Personalie blieben erfolglos. Die Lebensbedingungen im Obdachlosenasyl waren menschenunwürdig; die Bewohner:innen lebten ohne Sanitäranlagen und fließendes Wasser in den wenigen noch intakten Räumlichkeiten oder in alten Bussen und Wohnwagen.

Da das Obdachlosenasyl aus Sicht der Stadtverwaltung einen Schandfleck darstellte, sollte Anfang der 1960er-Jahre eine neue Unterkunft, bestehend aus alten Eisenbahnwaggons und nach dem Vorbild Kölns, errichtet werden. Als Standort wählte man eine Senke am Langsee im Stadtteil Elmschenhagen aus. Die intransparente Vorgehensweise führte zu Protesten unter Anwohner:innen, die eine Verlegung in ihren Stadtteil ablehnten, sowie unter den Bewohner:innen des Obdachlosenasyls, die eine fehlende Mitsprache beklagten und sich stattdessen eine Instandsetzung und Sanierung des Obdachlosenasyls wünschten. Im Oktober 1964 erfolgte jedoch der Abriss der Gebäude an der Preetzer Straße und die erzwungene Umsiedlung. Anders als zuvor lebten in der neuen Wohnstätte am Rundweg ausschließlich Sinti:ze und Rom:nja. Viele von ihnen erinnerten die streng geometrische Anordnung der Bahnwaggons, die großen Laternenmasten, fehlende Sanitäranlagen sowie ein Erdwall, der den Platz abschirmte, an ein Konzentrationslager.

Ab 1974 konnten sich die Familien Einfachsthäuser zur Miete in verschiedenen Kieler Stadtteilen zuweisen lassen. Anfang 1995 verließen die letzten beiden Familien die Wohnstätte am Rundweg, die danach abgerissen wurde. Aufgrund der weiterhin schwierigen Wohnverhältnisse initiierte der Verband Deutscher Sinti und Roma e.V., Landesverband Schleswig-Holstein, 1999 das Wohnprojekt „Maro Temm“ (Romanes für „Unser Platz“) für Sinti:ze und Rom:nja. Finanziert wurde es unter anderem vom Land Schleswig-Holstein und der Stadt Kiel. Die Wohnsiedlung wurde am 19. Dezember 2007 in Kiel-Gaarden fertiggestellt.

Gedenkinitiativen

1979 wurde der „Verein zur Durchsetzung der Rechte der Sinti“ von dem Sinto Matthäus Weiß (geb. 1949), dessen Eltern das Konzentrationslager überlebt hatten, und Nicht-Sinti:ze in Kiel gegründet. Damit sollte auf den NS-Völkermord sowie auf den anhaltenden Rassismus aufmerksam gemacht werden. Diese Initiative mündete 1989 in die Gründung des Landesverbands der Deutschen Sinti und Roma, der maßgeblich dazu beitrug, dass die deutschen Sinti:ze und Rom:nja am 14. November 2012 als nationale Minderheit in die Landesverfassung Schleswig-Holsteins aufgenommen wurden. Der Landesverband bewertete dies als eine moralische Wiedergutmachung für die Überlebenden der Konzentrationslager.

Im Mai 1997 wurde ein Gedenkstein im Hiroshimapark für die 1940 deportierten Sinti:ze und Rom:nja aus Schleswig-Holstein eingeweiht; dort wird jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung abgehalten. Eine Wanderausstellung des Landesverbands stellt seit 2021 die mehr als 600jährige Geschichte der Minderheit in Schleswig-Holstein aus der Perspektive von Sinti:ze und Rom:nja dar. Überdies soll 2025 eine Ausstellung über den nationalsozialistischen Tatort Preetzer Straße 117–119 beim Zentrum für die Geschichte Kiels im 20. Jahrhundert eröffnet werden.

Einzelnachweise

  • 1
    Stadtarchiv Kiel, Sitzungen der Gemeinderäte 1938, II 48, Bl. 475.
  • 2
    Ebd., 32614, Stellenbesetzung bei der Gemeindevollzugspolizei und der Feld- und Forstpolizei; 72039, Personalangelegenheiten der Polizeiverwaltung.
  • 3
    Adressbuch 1938, Preetzer Chaussee 117–119.
  • 4
    Stadtarchiv Kiel, 52979, Amt für Schulwesen, Bl. 159, 179.
  • 5
    Vgl. Block, Zigeuner, Abbildung 36.
  • 6
    Bundesarchiv Berlin, Rep_142-07_DGT_1-10-1-23, Schreiben des Kieler Oberbürgermeisters an den Gemeindetag, 29.11.1938.
  • 7
    Stadtarchiv Kiel, 66679, Namensverzeichnis zigeunerischer Personen im Ortspolizeibezirk Kiel; Ebd., 66680, Namensverzeichnis der zigeunerisch begutachteten und – für Lübeck – in das Generalgouvernement abgeschobenen zigeunerischen Personen aus Kiel und Lübeck (Abschrift).
  • 8
    Landesarchiv Schleswig, Abt. 761, Nr. 12562.
  • 9
    Ebd., Nr. 26399.
  • 10
    Archiv des Kieler Einwohnermeldeamtes, Zigeunerlager Preetzer Str. 119, Hausstandsbücher 2a und b.

Zitierweise

Nils Hobe: Kiel, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 24. März 2025.-

1940
16. – 22. Mai 1940Sinti:ze und Rom:nja aus dem Westen und Nordwesten Deutschlands werden in Sammellager in Hamburg, Hohenasperg bei Stuttgart und Köln eingewiesen und von dort in das Generalgouvernement, deutsch besetztes Polen, deportiert. Die „Mai-Deportation“ ist die erste familienweise durchgeführte Verschleppung.
1944
17. April 1944Heinrich und Helga Schultz werden aus Kiel, Deutschland, in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
1997
16. Mai 1997In Kiel, Deutschland, wird im Hiroshima-Park ein Gedenkstein zur Erinnerung an die deportierten Sinti:ze und Rom:nja eingeweiht.