Neckarelz

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Neckarelz
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

In Neckarelz, einem Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, mussten seit Frühjahr 1944 mindestens 90 Sinti und Roma als Häftlinge schwerste Zwangsarbeit verrichten.

Das Außenlager wurde am 16. März 1944 für bis zu 1 000 Häftlinge in Neckarelz, heute ein Stadtteil von Mosbach in Baden-Württemberg, Deutschland, in dem Gebäude einer Volksschule eingerichtet. Hintergrund war die aufgrund der Bombenangriffe der Alliierten geplante Verlagerung des Flugzeugmotorenwerks Daimler-Benz Genshagen (bei Ludwigsfelde südlich von Berlin) in die unterirdische Gipsgrube bei Obrigheim am Neckar (Deckname „Goldfisch“). Das Bauprojekt (Codename „A8“) unterstand SS-Gruppenführer Hans Kammler (1901–1945), Leiter der Amtsgruppe C (Bauwesen) des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes.

Die Häftlinge waren als Arbeitssklaven zur Einrichtung der unterirdischen Fabrik an den Neckar verlegt worden. Sie mussten die Fundamente zum Aufstellen der Maschinen betonieren, Schächte vorantreiben, Gestein in Loren abtransportieren und Baustoffe schleppen, unterirdische Werkshallen bauen und die Infrastruktur einrichten, Gebäude errichten und Barackenlager für Tausende Arbeiter:innen von Daimler-Benz (vorwiegend Zwangsarbeiter:innen) erstellen.

Um eine Maximalstärke von bis zu 3 200 Häftlingen unterzubringen, wurden weitere Außenlager eröffnet: die Barackenlager Neckargerach (am 26. April 1944) und Neckarelz II (am 23. Juli 1944) sowie im Herbst zwei kleinere Barackenbaukommandos in Asbach und Neckarbischofsheim sowie ein kleines Servicelager der SS (Schutzstaffel) in Bad Rappenau. Die Konzentrationslager Dachau, Natzweiler und dessen Außenlager, Groß-Rosen, Sachsenhausen und Stutthof stellten über 5 200 Häftlinge aus fast allen Ländern Europas. Von diesen starben etwa 275 in dem Außenlagerkomplex am Neckar und mindestens 1 000 weitere nach ihrer Verlegung, Evakuierung oder Befreiung bis Ende des Jahres 1945.

Von den 89 Sinti und Roma, die am 12. Dezember 1943 zu Impfversuchen gegen Fleckfieber vom Stammlager Auschwitz nach Natzweiler überstellt worden waren, wurden 79 in der zweiten Aprilhälfte 1944 zum Außenlager Neckarelz weitergeleitet. Hinzu kamen in anderen Transporten mindestens elf als „Zigeuner“ kategorisierte Häftlinge, darunter der Balletttänzer und spätere Schauspieler Peter Böhmer (1923–2011). Außerdem befanden sich vermutlich einige wenige Sinti oder Roma unter denjenigen, die unter der Häftlingskategorie „asozial“ geführt wurden. Von den namentlich bekannten Sinti und Roma wurden 72 mit deutscher oder österreichischer Nationalität oder als Staatenlose registriert, elf als Tschechen, vier als Polen, zwei als Sowjetbürger und einer als Lette.

Sinti und Roma waren damit eine kleine Gruppe innerhalb der Häftlingsgesellschaft und mussten wie die anderen Häftlinge vor allem schwere Bau-, Erd- und Bergarbeiten unter Anleitung von Baufirmen verrichten. Da zu diesem Zeitpunkt die Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge im Vordergrund stand, hatten die rassistisch verfolgten Sinti und Roma im Komplex der Neckarlager gegenüber ihren Mithäftlingen keine Nachteile. In den Neckarlagern selber starb niemand von ihnen. Da sie fast alle deutschsprachig waren, nahmen wenige von ihnen Funktionsstellen ein: Als ‚Kapos‘, die ihre Mithäftlinge zur Arbeit antreiben und bestrafen mussten, trugen sie jedoch zwangsläufig auch zu einer negativen Sichtweise auf die Häftlingsgruppe bei. Ein Sinto war sogar einmal dazu gezwungen worden, das Amt eines Henkers auszuführen.

Etwa 20 Sinti und Roma wurden vorzeitig aus den Neckarlagern in andere Lager verlegt, von denen mindestens sieben nicht überlebten. Beispielsweise starb August Schmidt (1926–1945) nach seiner Überstellung in das Krankenlager Vaihingen, einem Außenlager von Natzweiler. Mindestens vier von ihnen hatten zuvor versucht, aus den Neckarlagern zu fliehen, was auf einen starken Selbstbehauptungswillen und Zusammenhalt schließen lässt: Adalbert Eckstein (1924–1944), Rudolf Guttenberger (geb. 1921), Willy Herzberg (geb. 1921) und Franz Hauer (geb. 1922). Sie und drei weitere Sinti wurden dann zum Hauptlager Natzweiler rücküberstellt, wo Phosgengasversuche an ihnen verübt wurden. Eckstein und Josef Reinhardt (1913–1944) starben qualvoll an Lungenverätzungen. Zudem berichtet Julius Strauß (1922–2006), dass an ihm in Natzweiler Senfgasversuche vorgenommen wurden.

Einen erfolgreichen Fluchtversuch unternahm Vinzenz Rose (1908–1996). Er konnte am 30. August 1944 mithilfe seines Bruders Oskar Rose (1906–1968) aus dem Lager geschmuggelt werden.

Vinzenz Rose (1908–1996), Überlebender des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und von Medizinverbrechen im Konzentrationslager Natzweiler. Als Vinzenz Rose 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, hatte er sich bereits mehrere Jahre erfolgreich dem Zugriff der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) entziehen können. Sein Vater und sein zweijähriges Kind starben in Auschwitz, die Mutter später in Ravensbrück.

Von Auschwitz-Birkenau wurde er zusammen mit anderen Sinti und Roma nach Natzweiler überstellt. Dort wurde er für Fleckfieberversuche missbraucht. Im April 1944 gelangte er in nach Neckarelz, einem Außenlager von Natzweiler. Sein Bruder Oskar Rose (1906–1968), der der Deportation entgangen war und sich unter falschem Namen im nahegelegenen Heidelberg versteckt hielt, organisierte von außen unter sehr riskanten Umständen die Flucht von Vinzenz Rose, die am 30. August 1944 gelang.

Vinzenz und Oskar Rose waren nach 1945 Wegbereiter der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma.

Fotograf:in: unbekannt

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg

Mit der Auflösung der Neckarlager Ende März 1945 wurden über 2 000 Häftlinge auf einen Evakuierungsmarsch zum Konzentrationslager Dachau getrieben – darunter auch 64 Sinti und Roma, die vermutlich alle befreit wurden. Gerhard Adam (geb. 1920) gelang während des Marsches bei Schwäbisch Hall die Flucht. Vermutlich sechs Sinti befanden sich in einem Transportzug für 900 Kranke, der nicht mehr nach Dachau durchkam, und wurden bei Osterburken, etwa 30 Kilometer von Neckarelz entfernt, befreit. Einer der Befreiten, Karl Walter Bernhardt (1919–1945), starb jedoch drei Wochen später in Mosbach.

In der seit 1998 bestehenden und 2011 in einem neuen Gebäude eröffneten KZ-Gedenkstätte Neckarelz wird an die Häftlingsgruppe der Sinti und Roma unter anderem mit der Biografie von Sylvester Lampert (1921–1999) erinnert.

Zitierweise

Arno Huth: Neckarelz, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1944
30. August 1944Vinzenz Rose kann mithilfe seines Bruders Oskar Rose aus Neckarelz, Deutschland, einem Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, fliehen.