Neuengamme

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Neuengamme
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 8. Februar 2024

Im Konzentrationslager Neuengamme, gelegen im Südosten Hamburgs, Deutschland, waren zwischen 1938 und 1945 schätzungsweise 500 Sinti:ze und Rom:nja aus verschiedenen Nationen inhaftiert, die meisten von ihnen waren Männer.

Das Lager wurde am 12. Dezember 1938 zunächst als Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen eingerichtet. Die ersten 100 Häftlinge mussten eine stillgelegte Ziegelei für die Produktion von Klinkersteinen wieder herrichten. Anfang 1940 einigten sich die Stadt Hamburg und Vertreter der SS (Schutzstaffel) darauf, den Standort zu einem großen Konzentrationslager (KZ) auszubauen und den Bau eines modernen Klinkerwerks zu realisieren. Hintergrund waren die Pläne einer umfassenden Neugestaltung des Elbufers in Hamburg-Altona und der damit verbundene enorme Bedarf an Ziegelsteinen.

Ausbau des Lagers und Errichtung von Außenlagern

Seit dem Frühjahr 1940 hatte das Konzentrationslager Neuengamme den Status eines Hauptlagers. Die Gefangenen bauten unter katastrophalen Arbeitsbedingungen das Lager aus, errichteten das Klinkerwerk, begannen mit dem Abbau von Ton zur Produktion der Klinker und gruben einen Stichkanal für deren Abtransport auf dem Wasserweg. Ab 1942 begann die SS damit, die Arbeitskraft der Häftlinge vermehrt zu Rüstungszwecken auszubeuten. Mehrere Betriebe errichteten Werkstätten auf dem Lagergelände und ließen die Gefangenen für sich arbeiten. Parallel wurden erste Außenlager aufgebaut, um die Häftlingsarbeit direkt in die Betriebe vor Ort zu verlagern. Diese Entwicklung erreichte ab Mitte 1944 mit dem Aufbau immer neuer Außenlager einen Höhepunkt. In diese Zeit fällt auch die Gründung zahlreicher Außenlager für weibliche Häftlinge. Bis dahin war das Konzentrationslager Neuengamme ein reines Männerlager. Ende 1944 waren deutlich mehr Häftlinge in Außenlagern untergebracht als im Hauptlager. Neben dem Einsatz in der Rüstungsproduktion mussten sie Trümmer räumen, Verteidigungsanlagen bauen, Behelfsheime errichten oder unterirdische Produktionsstätten anlegen. Insgesamt verwaltete das Konzentrationslager Neuengamme zwischen 80 und 90 Außenlager im gesamten norddeutschen Raum.

Die Häftlinge

Zwischen 1938 und 1945 waren insgesamt rund 100 000 Männer und Frauen in Neuengamme und seinen Außenlagern inhaftiert. Im Verlauf des Krieges kamen immer mehr Häftlinge aus den vom Deutschen Reich besetzten Ländern. Vor allem 1944 erreichten große Transporte direkt aus Durchgangslagern in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Polen und Dänemark das Lager. Die größten Gruppen von Häftlingen des Konzentrationslagers Neuengamme kamen aus der damaligen Sowjetunion, Polen, Frankreich, Deutschland, Ungarn und den Niederlanden.

Mindestens 42 900 Häftlinge kamen im Hauptlager oder den Außenlagern von Neuengamme ums Leben. Neben Mangelernährung und Auszehrung durch Zwangsarbeit waren für die hohen Todeszahlen auch Epidemien und gezielte Tötungsaktionen durch die SS-Bewacher verantwortlich.

Kurz vor Kriegsende ließ die SS das Konzentrationslager Neuengamme räumen. Tausende Häftlinge wurden in Richtung Ostsee transportiert und auf mehrere Schiffe verladen. Die irrtümliche Bombardierung der Schiffe „Cap Arcona“ und „Thielbek“ in der Lübecker Bucht durch die britische Luftwaffe wurde am 3. Mai 1945 zu einer der größten Schiffskatastrophen. Mehr als 6 000 Häftlinge kamen dabei ums Leben.

Sinti:ze und Rom:nja im Lager

Über die Geschichte von Sinti:ze und Rom:nja im Konzentrationslager Neuengamme ist aufgrund der schlechten Quellenlage nicht viel bekannt. Eine verlässliche Gesamtzahl lässt sich nicht angeben, da Sinti:ze und Rom:nja zum großen Teil in den – nur bruchstückhaft überlieferten – Akten der Lagerverwaltung unter der Haftgruppe „AZR“ (‚Arbeitszwang Reich‘), „ASR“ (Arbeitsscheu Reich) oder asozial verzeichnet wurden. Hier wären vertiefende biografische Recherchen erforderlich, um die Identität der Betroffenen festzustellen. Ohne diese lässt sich der rassistische Verfolgungsgrund in den wenigen erhaltenen Dokumenten kaum nachvollziehen. Nachzuweisen sind nur etwa 150 Männer und Frauen, die einzeln oder in kleineren Gruppen aus anderen Konzentrationslagern in das KZ Neuengamme überstellt wurden. Die ersten Gruppen transportierte die SS ab Mitte 1940 aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald nach Neuengamme, um mit ihrer Arbeitskraft den Ausbau des neuen Lagers voranzutreiben. So befanden sich in einem Transport von 500 Männern aus dem KZ Buchenwald vom 10. Dezember 1940 auch mindestens 30 Roma aus dem österreichischen Burgenland.

Die Gesamtzahl der in Neuengamme inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja wird auf 500 geschätzt. Neben deutschen Sinti sind auch einige Sinti:ze und Rom:nja aus Litauen, Polen und dem Protektorat Böhmen und Mähren nachweisbar. Eine kleine Gruppe litauischer Frauen wurde im Außenlager Hannover-Langenhagen zur Arbeit eingesetzt, rund 20 deutsche Sintize kamen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück in das Außenlager Beendorf. Kleinere Gruppen von Sinti und Roma waren auch in den Männer-Außenlagern Wittenberge und Salzgitter-Drütte, wo ein Sinto zeitweise als Funktionshäftling eingesetzt war. Im Außenlager Hamburg-Langenhorn traf vermutlich noch im März 1945 ein Transport mit vielen Sintize und Romnja aus Ravensbrück ein. Die Frauen wurden bei der Lagerräumung Anfang April in das Außenlager Hamburg-Sasel verlegt. Die deutsche Sinteza Wanda Edelmann (1919–2001) musste dort den Tod ihrer Cousine Suleika Klein (1926–1944) miterleben. Edelmann lebte nach ihrer Befreiung weiterhin in Sasel und engagierte sich 1985 für die Einrichtung der dortigen Gedenkstätte Plattenhaus Poppenbüttel.

Sinti:ze und Rom:nja standen am unteren Ende der internen Lagerhierarchie. Der Überlebende Ewald Gondzik (1919–1977), von 1940 bis Kriegsende in Neuengamme inhaftiert, erinnerte sich kurz nach der Befreiung an besondere Schikanen der SS-Wachmannschaften: „Mittags gab der Posten- und Kommandoführer den Befehl: ‚Polen, Juden und Zigeuner raustreten!‘ – Die mussten mittags über in Kniebeugen warten bis die übrigen gegessen hatten.“1Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, HSN 13-7-0-1, Ewald Gondzik: KL Neuengamme, Ako. Kanalbau Dove Elbe, Bericht vom 13.11.1945.

Zu den bekanntesten Häftlingen aus der Gruppe der Sinti zählt Johann „Rukeli“ Trollmann aus Hannover, 1933 Deutscher Boxmeister im Halbschwergewicht, der am 4. oder 5. September 1942 in Neuengamme eingeliefert wurde und vermutlich schon am 9. Februar 1943 starb. Trollmanns Geschichte fand seit den 1990er-Jahren eine starke Beachtung insbesondere in den Communities von Sinti:ze und Rom:nja.

Nach der Befreiung

Das Gelände des Konzentrationslagers Neuengamme wurde in den Jahren 1945 bis 1948 von den britischen Besatzungsbehörden als „Civil Internment Camp No. 6“ zur Internierung nationalsozialistischer Funktionsträger genutzt. Anschließend errichtete die Stadt Hamburg eine Justizvollzugsanstalt auf dem Areal des ehemaligen Häftlingslagers. Inwiefern Verbrechen, die an Sinti:ze und Rom:nja in Neuengamme und seinen Außenlagern begangen wurden, im Rahmen von NS-Prozessen thematisiert wurden, ist bislang nicht erforscht.

Eine einfache Gedenksäule aus dem Jahr 1953 und ein Internationales Mahnmal aus dem Jahr 1965 waren erste Gedenkzeichen am ehemaligen Lagerstandort. Teil der Mahnmalsanlage sind Kissensteine mit den Namen von Ländern, aus denen Menschen in das Konzentrationslager Neuengamme deportiert wurden. Auf einem Stein ist neben anderen das Wort „Roma“ eingemeißelt – stellvertretend für die Opfergruppe der Sinti:ze und Rom:nja. Dies kann als ein bemerkenswert frühes Zeugnis für die Verwendung der Selbstbezeichnung im Kontext eines Denkmals angesehen werden. Die Stadt Hamburg errichtete 1981 ein Dokumentenhaus mit einer ersten Ausstellung. Sinti:ze und Rom:nja waren hier zwar als Opfer des nationalsozialistischen Völkermords und im Zusammenhang mit dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau genannt, als Haftgruppe in Neuengamme fanden sie jedoch keine Erwähnung.

Hungerstreik 1989 und Fluchtburg 1993

Ab den 1980er-Jahren wählten Vertreter:innen der Hamburger Selbstorganisation „Rom und Cinti Union e. V.“ (RCU) die KZ-Gedenkstätte Neuengamme mehrfach als Ort von Protestaktionen. Mit einem zweitägigen Hungerstreik am 8. und 9. September 1983 erreichte die RCU die Einsichtnahme in die „Landfahrerakten“ der Kriminalpolizei Hamburg, die 1980 an das Staatsarchiv Hamburg abgegeben worden waren. Im Kampf um ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland organisierten Rom:nja ab dem 18. Februar 1989 zunächst einen Hungerstreik im Dokumentenhaus der Gedenkstätte und nach gescheiterten Verhandlungen eine Besetzung von Teilen des Gedenkstättengeländes am 28. August 1989. Die Polizei räumte das Protestcamp mit mehreren Hundert Rom:nja nach rund fünf Wochen. Der Versuch des Roma National Congress (RNC), zum Jahrestag der Mai-Deportation von 1940 im Mai 1993 eine weitere „Fluchtburg“ vor drohender Abschiebung auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte zu errichten, wurde durch ein mehrwöchiges Großaufgebot der Polizei verhindert.

Die KZ-Gedenkstätte wurde von Verbänden der Sinti:ze und Rom:nja bei ihren Aktionen als Symbol genutzt, um Kontinuitäten von Diskriminierung und Verfolgung aufzuzeigen. Kritik an den Protesten als eine unzulässige Instrumentalisierung des historischen Ortes begegnete der Vorsitzende der RCU, Rudko Kawczynski (geb. 1954), im Jahr 1989 mit den Worten: „Das Hausrecht gehört den Opfern“.2Zit. nach Herold, Bleiberechtskämpfe Hamburger Roma, 145.

Die Gedenkstätte heute

Nach langjährigen Protesten verlegte die Justizverwaltung im Jahr 2003 das Gefängnis und machte so den Weg frei für eine umfassende Umgestaltung des ehemaligen Lagergeländes als Gedenkstätte. In der Dauerausstellung der Gedenkstätte werden Sinti:ze und Rom:nja als Haftgruppe vorgestellt; Johann „Rukeli“ Trollmann wird ausführlich porträtiert. Zudem wird im Ausstellungbereich „Gesellschaftliches Engagement“ die Nutzung des Geländes für Protestaktionen von Romn:ja und Sinti:ze behandelt. In der Ausstellung der Gedenkstätte Plattenhaus Poppenbüttel, die an die Frauen-Außenlager des KZ Neuengamme erinnert, werden daneben die Biografien von Else Baker (geb. 1935), Wanda Edelmann und Suleika Klein vorgestellt. Die Bildungsabteilung der Gedenkstätte bietet verschiedene Projektformate für Jugendliche und Erwachsene an, bei denen auch Antiziganismus thematisiert wird. Der für Erwachsene angebotene Studientag „Antiziganismus in Geschichte und Gegenwart“ widmet sich ausschließlich diesem Thema. Eine Überarbeitung und Erweiterung dieses Formats, unter anderem um die Auseinandersetzung mit anderen Orten der Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja in Hamburg – wie dem Hannoverschen Bahnhof als Ort von Deportationen und dem Stadthaus, bis Juli 1943 Sitz des Polizeipräsidiums – ist in Vorbereitung.

Einzelnachweise

  • 1
    Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, HSN 13-7-0-1, Ewald Gondzik: KL Neuengamme, Ako. Kanalbau Dove Elbe, Bericht vom 13.11.1945.
  • 2
    Zit. nach Herold, Bleiberechtskämpfe Hamburger Roma, 145.

Zitierweise

Christian Römmer: Neuengamme, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 8. Februar 2024. -

1940
25. Juli 1940Die ersten Sinti und Roma werden in das im Dezember 1938 zunächst als Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen eingerichtete, ab Frühjahr 1940 selbstständige Konzentrationslager Neuengamme, Deutschland, eingeliefert.
10. Dezember 1940In einem Transport, der aus dem Konzentrationslager Buchenwald im Konzentrationslager Neuengamme eintrifft, befinden sich mindestens 30 Roma aus dem österreichischen Burgenland.
1942
4. September 1942Am 4. oder 5. September wird der Sinto Johann Wilhelm „Rukeli“ Trollmann, 1933 Deutscher Boxmeister im Halbschwergewicht, in das Konzentrationslager Neuengamme, Deutschland, verschleppt, wo er laut Totenbuch am 9. Februar 1943 stirbt.
1983
8. – 9. September 1983Die Rom und Cinti Union e. V. organisiert einen Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Deutschland, und erreicht die Einsichtnahme in die „Landfahrerakten“ der Kriminalpolizei Hamburg, die 1980 an das Staatsarchiv Hamburg abgegeben worden waren.
1989
18. Februar 1989Im Kampf um ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland organisieren Rom:nja einen Hungerstreik im Dokumentenhaus der Gedenkstätte Neuengamme, Deutschland, der nach etwa zwei Wochen endet.
28. August 1989Mehrere Hundert Rom:nja besetzen Teile Geländes der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Deutschland, um für ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu kämpfen. Die Polizei räumt das Protestcamp nach rund fünf Wochen.
1993
16. Mai 1993Vertreter der Rom und Cinti Union e. V. kündigen eine Besetzung des Geländes der KZ-Gedenkstätte Neuengamme als „Fluchtburg“ vor drohender Abschiebung an. Ein massives Polizeiaufgebot verhindert das Vorhaben, eine Mahnwache von Roma auf einer Zufahrtsstraße hat zwei Wochen Bestand.