Esztergom ist eine Stadt an der Donau im nördlichen Ungarn, die in den 1930er- und 1940er-Jahren zwischen 17 000 und 22 000 Einwohner:innen hatte. Einer Erhebung aus dem Jahr 1932 zufolge lebten etwa 250 „Zigeuner“ in und um die Stadt. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurde die Bevölkerung der Rom:nja mehrmals von der Stadtverwaltung umgesiedelt. Diese Umsiedlungen waren immer mit gewaltsamen Maßnahmen gegen die Familien verbunden. Im Jahr 1939 wurden die Rom:nja in die Nähe eines Hochwasserschutzdammes verbracht. Bei der Umsiedlung ging es nicht nur darum, die Mitglieder der Gemeinschaft der Rom:nja so weit wie möglich von den Einwohner:innen der Stadt fernzuhalten und von ihnen zu isolieren, sondern auch darum, die „Zigeuner“ von den von Tourist:innen besuchten Orten fernzuhalten.
Gettoisierung
Am 22. Juli 1942 verabschiedete der Stadtrat eine Verordnung über die Bewohner:innen der „Zigeunersiedlung“ von Esztergom. Die Ausarbeitung der Verordnung hatte 1939 begonnen, und die endgültige Fassung orientierte sich an einer ähnlichen Verordnung, die 1941 in Salonta (heute Rumänien, bis 1920 und von 1940 bis 1944 unter dem Namen Nagyszalonta zu Ungarn gehörend) erlassen wurde. In der Verordnung wurde die Siedlung als ausschließlicher Aufenthaltsort für alle in Esztergom lebenden „Zigeuner“ bestimmt.1 Die Mitglieder der Gemeinschaft werden in den archivarischen Quellen der damaligen Zeit häufig als „zeltbewohnende Zigeuner“ [„sátoros cigányok“] bezeichnet, was sich in erster Linie auf ihre Mobilität und nicht auf ihre Wohnverhältnisse bezieht. Sie durften die Siedlung „nur für den Arbeitsdienst“ verlassen. Das Dekret verbot ihnen unter anderem sogar, sich in der Stadt auf Bänke zu setzen. In dem Dokument wurde definiert, wer als „Zigeuner“ galt: „Als Zigeuner gelten alle Personen zigeunerischer Herkunft und alle Personen, die mit Zigeunern zusammenleben, unabhängig von ihrer Herkunft.“2 MNL OL, KECA, V. 1. a. 203/1942. Diese Definition zeigt, dass die damaligen Behörden die Gemeinschaften der Rom:nja als „Rasse“ sowie als geschlossene soziale Gruppe betrachteten, in die man aufgehen und aus der man nicht herauskommen konnte.3 Obwohl die Verordnung besagte, dass „ein Zigeuner, der seinen Lebensunterhalt bestreitet und in der Lage ist, eine angemessene Wohnung zu mieten oder ein Haus zu kaufen, mit Genehmigung des Bürgermeisters jederzeit aus der Zigeunersiedlung ausziehen kann“, war dies aufgrund der fast vollständigen Segregation der örtlichen Gemeinschaft der Rom:nja nicht möglich. Vgl. Ebd.
Der Wissenschaftler János Bársony (geb. 1951) machte auf das Dekret von Esztergom aufmerksam, indem er die geschlossene Siedlung als Getto interpretierte.4 Bársony et al., Pharrajimos, 24 f. Die Durchführung der Gettoisierung wurde nach Erscheinen des Buches von László Karsai (geb. 1950) von mehreren Historiker:innen infrage gestellt, da das Innenministerium das vorgeschlagene Dekret nicht bestätigt hatte.5 Purcsi, A cigánykérdés „gyökeres és végleges megoldása,“ 75; Karsai, A cigánykérdés Magyarországon, 61, 97 f. Tatsächlich hatte der Stadtrat das Innenministerium nur deshalb um die Bestätigung des Erlasses gebeten, weil einer seiner letzten Punkte strafrechtliche Sanktionen vorsah. Im Allgemeinen stand es den Stadt- und Komitatsräten in Ungarn frei, in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich Verordnungen zu erlassen. Nur ein Erlass, der strafrechtliche Sanktionen vorsah, bedurfte der Bestätigung des Innenministers. In dringenden Ausnahmefällen konnten diese bereits von den Stadt- oder Komitatsräten vor der Ratifizierung erlassen werden.
Unabhängig davon scheint die Verordnung jedoch lokal als gültig angesehen worden zu sein. Selbst in der zeitgenössischen Presse wurde berichtet, dass der Gesetzgebungsausschuss des Komitats Esztergom die Verordnung im September 1942 bestätigt und das Komitat beschlossen hatte, die Regierung um eine landesweite Regelung hierzu zu ersuchen. Der Abgeordnetenrat von Esztergom befasste sich daraufhin in seiner ordentlichen Sitzung am 29. Oktober 1942 erneut mit der Verordnung, und am 30. November ergänzte der Stadtrat die Verordnung, indem er beispielsweise feststellte, dass die Siedlung nicht nur eine Gefahr für die öffentliche, sondern auch für die „tierärztliche“ [!] Gesundheit darstelle. Am 28. Juli 1944 beschloss der Stadtrat, die Teile der Verordnung, die keine strafrechtlichen Sanktionen enthielten, ab dem 16. August in Kraft zu setzen. Damit bestätigte der Stadtrat die Gültigkeit des Erlasses rechtlich, nachdem das Innenministerium dies versäumt hatte (was in der Praxis des Ministeriums keine Ausnahme war).
Die archivalischen Quellen über die Minderheit der Rom:nja von Esztergom zeigen, dass die rassistische Ausgrenzung und Verfolgung nicht nur ein Phänomen der Kriegsjahre waren, sondern auch ein Phänomen, das im Leben der lokalen Gemeinschaft Epochen überdauert hat und nach neueren historischen Studien eine allgemeine soziale Erfahrung der ausgegrenzten Gruppen der Rom:nja im Land war. Durch die Ereignisse nach 1939 und das Dekret von 1942 wurde die Ausgrenzung der lokalen Gemeinschaft der Rom:nja noch verschärft. Obwohl in dem Dokument der Begriff Getto nicht verwendet wurde, fungierte die isolierte „Zigeunersiedlung“ von Esztergom als Getto und wurde von den Zeitgenoss:innen auch als solches angesehen. Der Text des Dekrets ähnelt eher kommunalen Verordnungen gegen Gemeinschaften der Rom:nja als Dekreten zur Einrichtung von Gettos für Juden:Jüdinnen, aber seine Ursprünge waren natürlich nicht unabhängig von den politischen Bedingungen und rassistischen Ideologien der damaligen Zeit.
Segregation von Juden:Jüdinnen und Rom:nja im Vergleich
Ein Vergleich zwischen der Einrichtung der geschlossenen „Zigeunersiedlung“ und der Errichtung des Gettos für die jüdische Bevölkerung in Esztergom ist aufschlussreich. Nach der deutschen Besetzung Ungarns am 19. März 1944 ordnete der stellvertretende Gouverneur des Komitats Esztergom auf Anweisung des Innenministers die Umsiedlung der Juden:Jüdinnen der Stadt und des Kreises – das heißt die Einrichtung eines Gettos– an, die am 2. Mai beginnen und am 12. Mai 1944 um 11 Uhr enden sollte. Dr. Jenő Etter (1897–1973), seit 1941 Bürgermeister von Esztergom, lockerte die Anordnung mit dem Hinweis, dass die jüdischen Familien nicht in einem einzigen abgesonderten Teil der Stadt leben sollten. Schließlich wurden den Juden:Jüdinnen bestimmte Häuser zugewiesen, und sie wurden aus anderen Häusern und aus dem Bezirk (ungarisch: járás), das heißt aus der Umgebung, dorthin umgesiedelt. Es handelte sich jedoch nicht um ein geschlossenes Gebiet innerhalb der Stadt, sondern die jüdischen Bewohner:innen der Stadt und des Bezirks Esztergom wurden in Wohnungen in Häusern untergebracht, in denen zuvor jüdische Familien gelebt hatten.
Der Bürgermeister, der den historischen Quellen zufolge für die Situation der örtlichen Rom:nja unsensibel gewesen zu sein scheint, engagierte sich hingegen für polnische Flüchtlinge und wollte die Anordnung über das jüdische Getto nicht automatisch umsetzen. Diese Haltung hing sicherlich damit zusammen, dass die beiden Gemeinschaften durch die Mehrheitsbevölkerung der Stadt unterschiedlich wahrgenommen wurden und auch ihre soziale Situation verschieden war. Die Geschichte der städtischen Segregation von Rom:nja und Juden:Jüdinnen zeigt auch, dass die Schaffung eines „Gettos“ nicht einfach eine Frage des zentralen Willens oder eines Rechtsaktes war, sondern dass der lokale Kontext darüber entschied, ob und wann dies geschah.
Tragischerweise wurden die jüdischen Familien dennoch zunächst am 5. Juni aus der Stadt nach Komárom und von dort am 13. und 16. Juni 1944 in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.6 Miklós, Mindennapi élet a háborús hátországban, 137 f.
Zwangsarbeit und Deportationen
Aus zeitgenössischen offiziellen Archiven ist wenig über die Geschichte der Bewohner:innen der Siedlung der Rom:nja bekannt. Auch spätere mündliche Überlieferungen berichten nur bruchstückhaft über ihre Verfolgung. Mehrere Mitglieder der damals dort lebenden Familien wurden zur Zwangsarbeit oder in Konzentrationslager deportiert. Der Lokalhistoriker Tamás Miklós (geb. 1987) schreibt mit Bezug auf ein zeitgenössisches Tagebuch, dass die Deportation der örtlichen Rom:nja am Abend des 1. März 1945 stattgefunden haben muss.7 Miklós, „A cigánykérdés a cigányok elhelyezésével megoldva nincsen,“ 82. Nach diesem Erinnerungsbericht wurden die meisten Bewohner:innen der Siedlung in das Lager „Csillagerőd“ in Komárom gebracht.
Ein überlebender Rom aus Esztergom erinnerte sich Jahre später an das Trauma der Massenexekutionen am Donauufer in Komárom (deren Opfer laut Quellen vor allem die jüdischen Mitgefangenen waren): „Ich war mit der ganzen Familie dort, zehn Kinder und die Frau […] Viele der Zigeuner, die es bis dorthin geschafft hatten, wurden früh abgeholt, am Ufer erschossen und ins Wasser geworfen.“8 OSA, 369-1-1:7/3. Mehrere Rom:nja aus Esztergom wurden in Konzentrationslager deportiert, andere wurden mit dem Näherrücken der Front nach Galanta (heute Südslowakei) zwangsumgesiedelt.
Nachwirkungen
Nach dem Krieg bot das sozialistische System seinen Bürger:innen im Prinzip Gleichheit. Aus Quellen aus den 1950er-Jahren geht jedoch hervor, dass die segregierte Siedlung in Esztergom nach dem Krieg nicht verschwand, sondern eine zweite in einem anderen Vorort, Esztergom-Kertváros (Esztergom-Tábor), errichtet wurde. Nach dem 20. Juni 1961, als eine Resolution der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei die Zwangsassimilierung der Rom:nja ankündigte, wurden Programme zur Auflösung von Siedlungen eingeleitet. Auch diesmal war das primäre Ziel, Siedlungen an Hauptverkehrsstraßen und in der Nähe von Touristenzielen zu beseitigen. Die Esztergom-Siedlung, die später als Töltés-Straße bekannt wurde, blieb auch nach dem Regimewechsel 1989 bestehen. Sie wurde wiederholt durch Überschwemmungen zerstört und von ihren Bewohner:innen wieder aufgebaut. Nicht wegen ihres historischen Hintergrunds, sondern vor allem wegen ihrer sozialen Isolation wurde sie von Einheimischen und in der Presse noch in den 2000er-Jahren als Getto bezeichnet.
2019 wurde im Hof der St.-Stephans-Kirche in Esztergom eine kleine Gedenkstätte für die Opfer unter den Rom:nja im Zweiten Weltkrieg errichtet, die zum Ort der Gedenkveranstaltungen anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti:ze und Rom:nja am 2. August für die lokale Gemeinschaft der Rom:nja geworden ist.