In Magdeburg, einer an der Elbe gelegenen Stadt im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt, Deutschland, existierte von 1935 bis 1943 ein Zwangslager für Sinti:ze und Rom:nja.
In den 1920er-Jahren hatten Sinti:ze und Rom:nja in Magdeburg und Umgebung sowohl in Mietwohnungen als auch auf Stellplätzen für Wohnwagen, etwa am Elbweg im Ortsteil Fermersleben im Süden der Stadt, gelebt. Im Mai 1935 erfolgte die Verlegung dieses Stellplatzes an den nördlichen Stadtrand auf ein Feld nahe des Baches Sülze zwischen Holzweg und Ebendorfer Chaussee. Die Verlegung ging auf einen Beschluss der Stadtverwaltung vom 4. März 1935 zurück, der zudem eine Abgrenzung und Umzäunung des Lagers vorsah. Begründet wurde die Verlegung des Stellplatzes mit seiner Nähe zu einem Wohngebiet, was durch die Verdrängung an den Stadtrand unterbunden werden sollte. Auch bis dahin in Magdeburger Mietwohnungen lebende Sinti:ze und Rom:nja wurden nach und nach aus diesen heraus und in das Zwangslager gedrängt. Das Lager in Magdeburg gehörte damit zu den frühen Zwangslagern im Deutschen Reich, mit denen eine rassistische Trennung zwischen Sinti:ze und Rom:nja und der übrigen Bevölkerung herbeigeführt werden sollte. Es lag weit am Stadtrand, mindestens eine Stunde Fußmarsch von der Bahn-Endstation Neustadt entfernt.
Neben dem großen kommunalen Zwangslager am Holzweg existierte weiterhin ein Stellplatz für Schausteller:innen in der Rogätzer Straße der Alten Neustadt in der Nähe des Hafengeländes und im Industriegebiet. Dort lebte unter anderem sowohl eine über 15-köpfige Familie aus der Minderheit der Sinti:ze, die drei Wohnwagen, zwei Wagen mit einem Traktor sowie Geräte und Baumaterialien für zwei Schießbuden und eine Würfel-Bude besaß, als auch eine siebenköpfige Familie aus der Minderheit der Rom:nja, die ihren Lebensunterhalt als Bärenführer bestritt. Fünf weitere Familien – mit insgesamt 31 Personen und mindestens zehn Kindern im Schulalter – zogen in das dörfliche Umland von Magdeburg, nachdem zehn Männer Mitte Mai 1939 durch das Arbeitsamt zu Bauarbeiten an der Hebebrücke in Hohenwarthe und der Kanalbrücke vermittelt worden waren. Mitte September hatten die Familien aufgrund anderer Beschäftigungsverhältnisse die Arbeit gekündigt und waren nach Magdeburg zurückgekehrt.
Bewachung des Lagers
Entgegen der ursprünglichen Anordnung und daher anders als bei anderen Zwangslagern für Sinti:ze und Rom:nja, war das Magdeburger Lager vermutlich nicht mit Stacheldraht umzäunt worden, und auch eine ständige Präsenz von SS (Schutzstaffel) oder Polizei vor Ort ist nicht nachweisbar. Nichtsdestotrotz wurde stetig Kontrolle über das Lager ausgeübt. Das Lager lag im Verantwortungsbereich des 8. Polizeireviers und Schutzpolizei-Beamte dieses Reviers waren zusammen mit Kriminalbeamten an wiederholten Kontrollen (Streife bzw. Großstreife genannt) beteiligt. Diese wurden unter anderem in unregelmäßigen Abständen vorgenommen, um Anwesenheitskontrollen infolge des Festsetzungserlasses durchzuführen und bei Zuwiderhandlungen Repressionsmaßnahmen wie etwa Einweisungen in Konzentrationslager einzuleiten. Die kommunale Feldpolizei war für eine regelmäßige Kontrolle zuständig. Zwei polizeiliche „Vertrauensmänner“ aus der Minderheit, „Platzmeister“ genannt, wurden mit der Aufsicht über das Einhalten der Lagerordnung durch die dort lebenden Sinti:ze und Rom:nja beauftragt. Im Lager lebende Sinti:ze wurden von Polizeibeamten mit einem Pkw in das Präsidium für Vernehmungen durch den „Sachbearbeiter für Zigeunerfragen“, Kriminalsekretär Paul Becherer (1896–1946), gefahren; den Rückweg mussten sie zu Fuß oder per Bahn antreten.
Miserable Lebensumstände
1939 lebten nach Schätzungen der städtischen Behörden 36 bis 40 Familien, das heißt 160 Personen, darunter 125 Kinder, in dem Zwangslager.1Miehe, „Unerwünschte Volksgenossen“, 326. Unter ihnen befanden sich auch einige der Sinti:ze und Rom:nja, über die die Staatspolizeistelle Dessau im Januar 1938 ein Aufenthaltsverbot verhängt hatte. Das Lager bestand aus einem Gelände für 26 Wohnwagen, zwei Kraftfahrzeuge sowie acht Bretterbuden, die größtenteils in Eigeninitiative von den dort lebenden Sinti:ze und Rom:nja notdürftig erstellt worden waren und weder über Fußböden noch Isolierung verfügten. Auch die hygienischen Zustände waren miserabel, da Abort und Waschmöglichkeiten unzureichend waren und das Gelände aufgrund von Witterung und Überschwemmungen durch den nahe gelegenen Bach sumpfig war. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg ließ die Baupolizei die Bretterbuden abreißen. Das dem Innenministerium unterstellte Magdeburger Polizeipräsidium kritisierte dieses Vorgehen, da man einen Anstieg der Obdachlosenzahlen, Mehrkosten für die Fürsorge und ein Aufweichen der räumlichen Trennung vom Rest der Bevölkerung befürchtete. Die städtische Baupolizei verhinderte zunächst bauliche Verbesserungsmaßnahmen mit der Begründung, dass es Pläne zur Abschiebung aller in Magdeburg lebenden Sinti:ze und Rom:nja gebe. In die Mai-Deportation von 1940 war Magdeburg jedoch nicht einbezogen. Im Laufe des Jahres 1940 wurden dann bauliche Maßnahmen umgesetzt und zunächst drei Familien in eine bessere Baracke in der Windmühlenstraße überwiesen und im Anschluss zwei Holzbaracken des Obdachlosenasyls des städtischen Wohlfahrts- und Fürsorgeamtes dorthin verlegt, der Boden zementiert und Öfen zum Heizen bereitgestellt. Darüber hinaus ist für ein paar wenige weitere Personen aus dem kommunalen Zwangslager belegt, dass sie 1941, zumindest zeitweise, mit ihrem Wohnwagen auf dem Schausteller-Stellplatz untergebracht waren, nachdem sie anfänglich ebenfalls im kommunalen Zwangslager am Holzweg standen. Ein weiteres Paar vermochte es, sich mit behördlicher Genehmigung eine Mietwohnung zu nehmen.
Deportationen
Zu diesem Zeitpunkt waren viele der jungen und als arbeitsfähig klassifizierten Männer bereits in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen deportiert worden. Im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ wurden mindestens 33 Sinti und Roma aus der Stadt Magdeburg sowie umliegenden Städten in drei Transporten am 14., 17. und 20. Juni 1938 deportiert. In Folge der Deportationen reichten die meisten im Zwangslager verbliebenen Familienmitglieder, insbesondere die Frauen, Gesuche für eine Entlassung ihrer Ehemänner und Söhne aus der KZ-Haft ein.
Die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHF) hatte mindestens einmal zwischen dem 2. und 4. Februar 1940 Magdeburg aufgesucht und Sinti:ze und Rom:nja im Lager am Holzweg sowie die Roma-Familie in der Rogätzer Straße untersucht. Überlebende erinnerten sich außerdem daran, dass Robert Ritter (1901–1951) und Eva Justin (1909–1966) kurz vor der Auschwitz-Deportation nach Magdeburg kamen, um vor Ort Listen zu überprüfen. Am 2. März 1943 wurden die meisten Sinti:ze und Rom:nja aus Magdeburg in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Das Magdeburger Lager wurde aufgelöst, indem unmittelbar danach die Wohnwagen mit Inventar durch einen Gerichtsvollzieher versteigert und die Baracken an die Stadtverwaltung zur weiteren Verwendung übergeben wurden. Zu den wenigen Sinti:ze und Rom:nja, die nicht deportiert wurden, zählten beispielsweise in „Mischehen“ lebende Familien oder Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die nicht im kommunalen Zwangslager am Holzweg lebten. Das Hauptbuch des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau listet insgesamt 470 Zugänge aus dem Magdeburger Raum auf – 219 Männer und 251 Frauen, darunter auch Kinder und Jugendliche.
Nach 1945
Nach dem Kriegsende kehrten nur wenige Überlebende nach Magdeburg zurück. Die Stadt lag in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und gehörte im geteilten Deutschland zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR), in der nach 1945 nur wenige Sinti:ze und Rom:jna verblieben. Vor allem der Journalist sowie Menschenrechts- und Umweltaktivist Reimar Gilsenbach (1925–2001) setzte sich in der DDR für eine Anerkennung der Überlebenden sowie ein Denkmal in Magdeburg ein. Zehn Jahre nach dem Beginn seiner Bemühungen wurde am 29. Oktober 1998 vor dem Magdeburger Dom ein Denkmal für die von Magdeburg nach Auschwitz Deportierten eingeweiht. Seit dem 1. März 2009 befindet sich darüber hinaus auf dem Gelände des ehemaligen Zwangslagers eine Namensstele zur Erinnerung an das Lager und die Deportierten, welches auf eine Initiative der Gästeführerin Gisela Opitz (geb. 1937) zurückgeht. Beide Denkmäler wurden vom Künstler Wolfgang Roßdeutscher (geb. 1945) gestaltet.
Das Zwangslager Magdeburg erreichte aufgrund der in einem Kinderbuch bearbeiteten Geschichte von Erna Lauenburger (1920–1944) eine gewisse Bekanntheit. Sie hatte zu den Sinti:ze gehört, die über Dessau in das Magdeburger Lager gelangt waren und von dort nach Auschwitz deportiert wurden. Die jüdische Schriftstellerin Grete Weisskopf (1905–1966) hatte unter dem Pseudonym Alex Wedding 1931 in ihrem Buch „Ede und Unku“ Erna Lauenburger, mit Romanes-Namen genannt Unku, als eine der Protagonist:innen verewigt. Das Buch war in der DDR ein Kinderbuchklassiker. 2018 veröffentlichte der Musiker Janko Lauenburger (geb. 1976) seinen Zugang zur Biografie seiner Urgroßcousine, die Auschwitz nicht überlebt hatte.