Landesweite Razzia (16. Mai 1944)

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Landesweite Razzia (16. Mai 1944)
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 25. Februar 2025

Am 14. Mai 1944 schickte der Generaldirektor der Polizei in Nimwegen, deutsch besetzte Niederlande, ein geheimes Fernschreiben an die fünf Polizeipräsidenten in Amsterdam, Arnheim, Eindhoven, Groningen und Rotterdam. Es enthielt einen Befehl des Befehlshabers der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD), wonach „alle in den Niederlanden wohnhaften Personen, die die Eigenschaft von Zigeunern besitzen“, verhaftet und zur Internierung in das Durchgangslager Westerbork gebracht werden sollten.1Sijes, Vervolging van Zigeuners, 107–108.

Das Datum und die Uhrzeit der landesweiten Razzia wurden auf den 16. Mai um 4 Uhr morgens festgelegt, also mitten in der Nacht. Wer verhaftet werden sollte, wurde den örtlichen Polizeibehörden überlassen. Da sich die Landeskriminalpolizeistelle Mitte Mai 1944 mitten im Umzug befand, war es nicht möglich, die Erfassung der Sinti:ze und Rom:nja landesweit vorzunehmen. Nach Angaben des damaligen Leiters dieser Polizeistelle wurde der Umzug auch als Vorwand benutzt, um die angeforderten Informationen nicht zu liefern. Darüber hinaus hatten der Kommandant der Sipo und der SD beschlossen, dass das „zurückgelassene Eigentum“ der verhafteten Sinti:ze und Rom:nja beschlagnahmt werden sollte. Gebäude, Wohnräume und Wohnwagen sollten versiegelt werden.

Die Verhaftungen

Am 16. Mai 1944 fanden in mindestens 19 Dörfern und Städten in den Niederlanden Razzien statt: in Amsterdam, Arnheim, Beek, Deil, Den Bosch, Den Haag, Doetinchem, Drachten, Eindhoven, Eursinge (Westerbork), Helmond, IJsselstein, Nijmegen, Oldenzaal, Susteren, Utrecht, Venlo, Vledder und Zutphen. In einigen Orten wurde die Razzia sehr strukturiert durchgeführt. In Eindhoven hatten die Polizisten und „Landwachters“ der Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland (NSB), die die Verhaftungen vornahmen, eine Liste der „Zigeuner“ bei sich, die auf dem Wohnwagenplatz lebten, den sie durchsuchten. Einundzwanzig wurden aus dem Lager abgeholt und über die Polizeiwache zum Bahnhof Eindhoven gebracht. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Frauen und Kinder; einige der Männer waren bereits eine Woche zuvor verhaftet und in das Lager Amersfoort gebracht worden.

Aber in Den Bosch zum Beispiel fanden die Verhaftungen sehr viel chaotischer statt. Im Vergleich zu anderen Orten war es hier den zuständigen Behörden nicht bekannt, wer Sinti:ze oder Rom:nja waren und wer nicht. Unter der Aufsicht eines Polizeikommissars wurde eine Auswahl anhand der Hautfarbe getroffen: „Reisende“ mit „braunem Teint“ wurden verhaftet, während eine „Zigeunerin mit niederländischem Pass“ ihren Mann nicht begleiten durfte.

Kollaboration und Widerstand

Organisation und Durchführung der Razzien lag in den Händen der örtlichen niederländischen Behörden. Sie führten ihre Befehle größtenteils genau so aus, wie es in dem geheimen Fernschreiben verlangt worden war. Der Polizeibeamte Arie Vlak (1903–unbekannt) beispielsweise teilte den verhafteten Sinti:ze und Rom:nja in Den Haag mit, dass sie nur ihre Papiere abzugeben bräuchten und dann sofort nach Hause gehen könnten, obwohl er eine Reihe von Sinti:ze und Rom:nja vorgewarnt hatte. Was folgte, war die Deportation und in vielen Fällen der Tod in den Konzentrations– und Vernichtungslagern. Nach dem Krieg besuchte Arie Vlak Sinti:ze und Rom:nja auf ihren Lagerplätzen in Den Haag, als ob nichts geschehen wäre.

Andererseits gab es auch Polizisten, die sich den Befehlen der Nationalsozialisten widersetzten. Der Polizist, Widerstandskämpfer und Olympionike Jaap Knol (1896–1975) half den Amsterdamer Sinti:ze und Rom:nja, als diese am 16. Mai verhaftet wurden. Drei Tage lang wurden diese Häftlinge außergewöhnlich gut behandelt: Die Zellen wurden nicht verschlossen, Decken und Tabak wurden verteilt und persönliche Gegenstände mussten nicht abgegeben werden. Knol gelang es sogar, die Nationalsozialisten davon zu überzeugen, sie freizulassen.

Reisende

In einigen Gemeinden gingen die lokalen Behörden jedoch noch einen Schritt weiter als die Nationalsozialisten. Die NSB-Bürgermeister von Utrecht, Zutphen und IJsselstein nutzten unter anderem das Fernschreiben vom 14. Mai, um alle „asozialen Elemente“ aus ihren Gemeinden zu entfernen. Unter der Leitung des rüden Polizeikommandanten von Utrecht wurden beispielsweise mehr als 100 Personen in der Stadt aufgegriffen und nach Angaben von Augenzeug:innen am Bahnhof in einen wartenden Zug „gepfercht“. Nach einigen Stunden erreichte dieser Zug Westerbork. Bei der Ankunft stellte sich heraus, dass es sich bei den 100 Festgenommenen um „Reisende“ und nicht um Sinti:ze und Rom:nja handelte.

Selektion und Deportation

Bei der landesweiten Razzia am 16. und 17. Mai 1944 wurden insgesamt 578 Sinti:ze, Rom:nja und Reisende zusammengetrieben und nach Westerbork gebracht. Im Laufe des 16. Mai kamen sie dort in Wohnwagen (aus Drenthe) oder in einem der drei Züge an, die aus Zutphen, Maasbracht und Utrecht nach Westerbork fuhren. Zehn Personen kamen am 17. Mai mit dem Zug im Lager an. Nach der Ankunft in Westerbork wurden die Sinti:ze und Rom:nja registriert und es fand eine Selektion statt. Sinti:ze und Rom:nja mit italienischen und guatemaltekischen Pässen sowie Reisende wurden nach einigen Tagen entlassen. Am 19. Mai 1944 wurden 245 Sinti:ze und Rom:nja von Westerbork aus in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur 31 von ihnen sollten den Zweiten Weltkrieg überleben.

Einzelnachweise

  • 1
    Sijes, Vervolging van Zigeuners, 107–108.

Zitierweise

Bas Kortholt: Landesweite Razzia (16. Mai 1944), in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 25. Februar 2025.-

1944
14. Mai 1944In den von Deutschland besetzten Niederlanden ordnet der Befehlshaber der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD) die Inhaftierung im Lager Westerbork von „allen Personen […], die die Eigenschaft von Zigeunern besitzen“, an.
16. Mai 1944In den deutsch besetzten Niederlanden findet eine landesweite Razzia gegen Sinti:ze und Rom:nja statt. 578 Sinti:ze, Rom:nja und Fahrende werden in das Durchgangslager Westerbork gebracht.
19. Mai 1944In den deutsch besetzten Niederlanden werden 245 Sinti:ze und Rom:nja sowie 208 Juden:Jüdinnen vom Durchgangslager Westerbork in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. In Assen, deutsch besetzte Niederlande, werden zwölf Sinti:ze und Rom:nja in diesen Zug verladen. Dank der Hilfe eines Polizisten kann Zoni Weisz mit Tante und Cousins dieser Deportation entkommen. Ein Deportationszug aus Mechelen (Dossin-Kaserne), deutsch besetztes Belgien, wird unterwegs an den Zug aus Westerbork gekoppelt; in diesem Zug befindet sich Stevo Karoli.