In Stettin, gelegen in der damaligen Provinz Pommern im Osten des Deutschen Reiches, heute Szczeczin in der Woiwodschaft Westpommern [Województwo Zachodniopomorskie] in Polen, errichtete die Stadt seit 1938 zwei eigens für Sinti:ze errichtete Zwangslager. Die Lager zielten zunächst auf eine stadträumliche Isolierung und einen Ausschluss der Menschen aus dem öffentlichen Leben. Kurz nach ihrer Errichtung wurden die Lager Orte des erleichterten Zugriffs der Täter:innen zum Zwecke rassenhygienischer Forschungen, Ausbeutung durch Zwangsarbeit, körperlicher Gewalt, Zwangssterilisationen und Ausgangspunkte von Deportationen in Konzentrations– und Vernichtungslager.
Lukasstraße 2
Ab März 1938 wurden in der Lukasstraße 2 mehrere Familien in einem mehrstöckigen Haus und eigens separat errichteten Wohnbaracken konzentriert. Im Mai 1938 ordnete Robert Gatzke,1Biographische Angaben gehen weder aus den Prozessakten der eingesehenen Entschädigungsverfahren noch aus den Polizeiakten des Stettiner Archivs hervor. Möglicherweise handelt es sich um den nach 1945 in Gifhorn lebenden Kriminalpolizei-Wachtmeister Robert Gatzke. Vgl. Adressbuch der Stadt Gifhorn, Ausgabe 1950/1951. Soltau: Wirtschaftsverlag Wilhelm Rohscheid, 1951, 55. leitender Beamter der Kriminalpolizei Stettin auf Grundlage des „Erlasses zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ des Reichsministers des Innern die lückenlose Erfassung von in Frage kommenden „Asozialen“ und „Arbeitsscheuen“ an. Im Zuge der darauffolgenden „Aktion Arbeitsscheu Reich“ wurden im Juni 1938 Sinti:ze aus Stettin und Umgebung wie auch der Lukasstraße 2 in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Mauthausen deportiert.
Ab Anfang November 1939 wurde mit dem Festsetzungserlass den in der Lukasstraße lebenden Menschen bei Verlassen des Wohnortes die Einweisung in ein Konzentrationslager angedroht. Lisbeth Steinbach (1930–unbekannt) und andere Überlebende setzten das Leben in der Lukasstraße mit der Situation in einem Getto gleich. Ihren Erinnerungen nach war das Viertel mit etwa zwei Meter hohen Brettern umzäunt. Zudem gab es immer wieder willkürliche Kontrollen, Gewalttaten und Verschleppungen durch Angehörige der Gestapo und der Kriminalpolizei. Dies bezeugt auch Lisbeth Steinbach: „Ich erinnere noch einen Namen von der Kriminalpolizei, einer von denen hieß Nells. Der kam fast jeden Tag in unsere Straße und kontrollierte. Wenn ihm etwas nicht passte, dann haben wir Schläge bekommen.“2Strauß, …weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, 189. Im Adressbuch für Stettin aus dem Jahr 1942 werden 13 Familien aufgeführt, von denen jeweils die Familienvorstände namentlich genannt werden (Adler, Ernst, Franz, Krause, Kreutzer und Rose). Das Lager durften die Menschen nur zu Zwangsarbeiten verlassen. Die dort konzentrierten Kinder wurden nach Angaben zahlreicher Überlebender ab Ende 1939 und damit lange vor einer am 24. März 1941 erfolgten reichsweiten Anordnung aus rassistischen Gründen vom Besuch der Schulen ausgeschlossen. Ebenfalls nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Überlebender betraten seit Ende des Jahres 1939 Mitarbeiter:innen der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF), darunter Eva Justin (1909–1966), das Lager und kategorisierten die Menschen anhand der erstellten Gutachten nach „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“. Seit 1939/1940 wurden Kinder, Jugendliche und Erwachsene unter Bewachung der Kriminalpolizei von Ärzten direkt vor Ort oder in städtischen Krankenhäusern zwangssterilisiert. Nur wenige konnten sich der Sterilisation durch Flucht entziehen. Andere als „Zigeuner“ verfolgte Menschen hatten sich unter Androhung von KZ-Haft einer Zwangssterilisation zu unterziehen. Eichwald Rose (1908–unbekannt), der 1938 von Stettin in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert worden war, sagte 1947 im Rahmen der Ermittlungen zu den Nürnberger Prozessen als Zeuge aus. Ihm sei dort das Versprechen unterbreitet worden, dass er unter der Bedingung einer „freiwilligen“ Sterilisation entlassen werde und zukünftig keine KZ-Haft mehr zu befürchten habe. 1940 wurde er aus Sachsenhausen entlassen und im Mai 1941 auf Anordnung von Dr. Robert Ritter (1901–1951) in einem Krankenhaus nahe Stettin zwangssterilisiert. Im September 1942 wurde er jedoch abermals mit weiteren Familienangehörigen in Pommern verhaftet. Er selbst wurde wieder nach Sachsenhausen deportiert, sein Vater und seine sechs Geschwister im Frühjahr 1943 nach Auschwitz-Birkenau.3Staatsarchiv Nürnberg, KV-Anklagedokumente, NG-552, Eidesstattliche Erklärung von Eichwald Rose.
Die Wohnhäuser und Baracken in der Lukasstraße 2 waren seit 1943 alliierten Bombenangriffen ausgesetzt. Deshalb wurden manche Sinti:ze zwischenzeitlich in Wohnungen in der Altdammer Straße festgeschrieben, andere direkt in das zweite, spätestens seit 1940 existierende Zwangslager „Kuhdamm“ verbracht. Nach der vollständigen Zerstörung der Lukasstraße durch alliierte Bombenangriffe im August 1944 inhaftierte man die in der Altdammer Straße Verbliebenen ebenso im Zwangslager „Kuhdamm“.
„Kuhdamm“
Bereits in der Zwischenkriegszeit existierte die Siedlungskolonie „Kuhbruch“ sowie kleinindustrielles Gewerbe am südöstlichen Rand des Stadtteils Pommerensdorf [Pomorzany] auf einer Fläche an Nebenarmen des Flusses Oder und einem größeren Sumpfgebiet. Dort planten, errichteten und verwalteten seit 1940 die für die Siedlungskolonie zuständigen Beamten der städtischen Verwaltung, Walter Faust und Erich Rüsch,4Für beide sind in den eingesehenen Akten keine Lebensdaten überliefert. ein eigenständiges Lager durch eine separate, feste Umzäunung und die Errichtung von mindestens sieben Baracken, die die städtische Verwaltung unter der Bezeichnung „Schwarzer Damm Nr. 13“ führte.
In einem überlieferten Meldeblatt der Kriminalpolizei Stettin vom 1. April 1941 wird der „Schwarze Damm“ als „Zigeunerlager“ bezeichnet. Gängiger unter den Überlebenden war „Kuhdamm“ als Bezeichnung für das Lager. Größe und Lage des Zwangslagers sind heute durch die Straßenführung von Szczawowia [Schwarzer Damm], die Umzäunung der Fläche, auf der sich Lagerhallen und Schrottplätze finden lassen, und die umliegende sumpfige Vegetation eindeutig zu verorten und visuell nachzuvollziehen.
In leitender Funktion kontrollierten und bewachten die Polizisten Robert Gatzke und Willy Sielaff, zusammen mit weiteren 15 namentlich bekannten Polizisten,5Gatzke und Sielaff waren leitende Beamte der Kriminalpolizeileitstelle Stettin. Die anderen 15 Polizisten (Bruno Belling, Bruno Block, Karl Boldt, Hermann Buse, Siegfried Höfs, Friedrich Dassow, Paul Junker, Willi Kemnitz, Emil Lück, Franz Marquardt, Josef Mischnik, Hans Mitzinnek, Robert Rohde, Gotthard Wege und Paul Zierke) waren zum Teil der Kriminalpolizei, zum Teil der Ordnungspolizei unterstellt. In den Akten sind keine Lebensdaten zu diesen Personen überliefert. Vgl. Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern, Sammlung, Entschädigungsakten, K_E_71. das Zwangslager. Dieses stand unter permanentem willkürlichem Zugriff der Wachposten von Kriminalpolizei und Ordnungspolizei, welche Schäferhunde und schwere Bewaffnung mit sich führten. Die Gestapo war in der Zuteilung der Menschen zur Zwangsarbeit in industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben involviert.
In dem Lager wurden Sinti:ze, die bereits unter der Zuständigkeit städtischer Verwaltung in der Siedlungskolonie „Kuhbruch“ lebten, aber auch Sinti:ze aus der Lukasstraße, anderen Stadtteilen, der ländlichen Umgebung von Stettin sowie weiteren Regionen Pommerns, familienweise konzentriert. Das Verlassen des Lagers war nur zu Einkäufen in bestimmten Geschäften und den zwangsweisen Arbeitsdienst im Tiefbau und Betrieben wie der Färbereifirma Teege und kleineren nahegelegenen Landwirtschaftsbetrieben gestattet. Den Lagerinsass:innen wurden „Ausländerlebensmittelkarten“ ausgegeben, wodurch sich die Ernährungssituation im Vergleich zur übrigen Bevölkerung ungemein schlechter gestaltete. Der Besuch in Gaststätten, Kinos und Theatern, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sowie das Verlassen der Stadt wurde verboten. Bei Zuwiderhandlung drohte die Deportation in ein Konzentrationslager.
Spätestens seit Sommer 1941 sind die im Lager „Kuhdamm“ lebenden Kinder systematisch aus den Volksschulen in Stettin ausgeschlossen und ebenso zur Zwangsarbeit verpflichtet worden. Kriminalpolizisten und Gestapoangestellte führten in den Baracken regelmäßig Razzien durch, misshandelten und folterten die Insass:innen auch körperlich. Mangelhafte Sanitärinstallationen und fehlende medizinische Versorgung waren die Ursache von Typhusepidemien im Lager. Helene Herzberger (1934–2022), mittlerweile verstorbene Überlebende des Lagers, war 1940 im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern im „Kuhdamm“ inhaftiert worden. Sie verlor dort wegen der unmenschlichen Haftbedingungen eine Schwester.6Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma trauert um Helene Herzberger, https://zentralrat.sintiundroma.de/der-zentralrat-deutscher-sinti-und-roma-trauert-um-helene-herzberger/ [Zugriff: 09.01.2025]. Überlebende berichten zudem von einem Verbot der Polizei, schwangere Mütter zur Entbindung, Säuglinge, erkrankte Kinder und alte Menschen aus dem Lager in städtische Krankenhäuser zu bringen, was den Tod oder bleibende Gesundheitsschäden dieser besonders vulnerablen Menschen zur Folge hatte.
Auf Grundlage des Auschwitz-Erlasses vom 16. Dezember 1942 deportierte die Kriminalpolizei Schätzungen Überlebender zufolge am 13. März 1943 mindestens 100 Menschen aus dem Lager „Kuhdamm“ in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. In den Lagerbüchern von Auschwitz sind 88 Personen mit dem Geburtsort Stettin verzeichnet. Bislang konnten lediglich vier Personen namentlich identifiziert werden, die unmittelbar vor ihrer Deportation im Lager „Kuhdamm“ inhaftiert gewesen waren. Aufgrund nicht überlieferter Inhaftierungsdokumente für die Lagerinsass:innen ist eine Rekonstruktion der exakten Zahl kaum mehr möglich.
Ausgenommen von der Deportation blieben einige in den Augen der Täter:innen „reinrassige und sozial angepasste Zigeuner“, welche 1943 und 1944 zwangssterilisiert wurden. Betroffen hiervon war auch die Mutter von Helene Herzberger. Insbesondere ab Ende Juli 1944 wurden diese Menschen zu Zwangsarbeiten für die Wehrmacht eingeteilt. Den Bombenangriffen der Alliierten auf Stettin in den Jahren 1943/44 waren die in „Kuhdamm“ verbliebenen Sinti:ze häufig schutzlos ausgeliefert. Bei einem Luftangriff Ende 1944 wurden einige Siedlungshäuser und Baracken zerstört. Dabei starben einige Sinti:ze, da ihnen der Zutritt in Luftschutzbunker verwehrt worden war. Nach dem Angriff wurden nur wenige Baracken nochmals aufgebaut. Angesichts des Herannahens der Roten Armee wurde das Lager im März 1945 endgültig aufgelöst.
Stettin-Pölitz
In Pölitz (poln. Police), das von den Nationalsozialisten 1939 in Stettin eingemeindet worden war, gab es seit dem Herbst 1941 ein von der Gestapo betriebenes Arbeitserziehungslager, welches als selbstständige Macht- und Terroreinrichtung der Gestapo diente. Das Lager ist unter dem Namen „Hägerwelle“ bekannt.7Vgl. die am ehemaligen Standort errichtete Gedenktafel, abgebildet in: https://www.komoot.com/de-de/highlight/4500271 [Zugriff: 15.01.2025]. Immer wieder wurden Sinti:ze aus der Lukasstraße und dem Lager „Kuhdamm“ dorthin eingewiesen. Die Überlebende Lisbeth Steinbach wurde zwei Mal eingewiesen: Das erste Mal, weil sie aufgrund von Krankheit auf der Arbeit gefehlt hatte, und ein zweites Mal, weil sie der Sabotage beschuldigt wurde.8Strauß, …weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, 191–192. Hunger, Schwerstarbeiten, unzureichende Hygiene und medizinische Betreuung, schikanöse Appelle, brutale Misshandlungen und sexuelle Übergriffe waren in Pölitz an der Tagesordnung.
Nach 1945
In Verfahren und Prozessen der Wiedergutmachung von 1950 bis in die 1990er-Jahre bewerteten Juristen der Entschädigungsbehörden und Landgerichte die Lager Lukasstraße, „Kuhdamm“ und Pölitz regelmäßig nicht als genuin nationalsozialistische Haftstätten und lehnten häufig Entschädigungszahlungen ab. In manchen Entschädigungsprozessen wurden ehemalige Beamte der Polizei und städtischen Verwaltung als Zeugen berufen; ihren Aussagen wurde mehr Glauben geschenkt als den Überlebenden. Zur Selbstentlastung leugneten die ehemaligen Täter regelmäßig, dass es sich bei der Lukasstraße 2 und „Kuhdamm“ um Zwangslager gehandelt habe.
In den im Laufe der Jahrzehnte erweiterten Gesetzesblättern zum Entschädigungsrecht wurden die Lager zu keinem Zeitpunkt als Haftstätten anerkannt. An den ehemaligen Standorten der Lager „Kuhdamm“ und Lukasstraße 2 erinnert nichts an deren Existenz etwa in Form einer Gedenk- oder Informationstafel. Erst im Jahr 2001 nahm die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) lediglich Pölitz als „Lager für Sinti und Roma“ in das von ihr geführte Haftstättenverzeichnis auf.