Im Zuge des Ersten Balkankriegs kam es in der südalbanischen Stadt Vlora 1912 zur Proklamation eines unabhängigen albanischen Nationalstaates. Dieses Ereignis war das Ergebnis der Entwicklung der albanischen Nationalbewegung Rilindja [Wiedergeburt] im 19. Jahrhundert und des politischen Machtverlustes des Osmanischen Reiches in Südosteuropa, zu dem das Gebiet des modernen Albaniens beinahe 500 Jahre gehörte. Eine nachhaltige Staatlichkeit konnte sich in Albanien aber erst nach dem Ersten Weltkrieg entwickeln, denn während des Krieges wurde der junge Staat, trotz seiner erklärten Neutralität, von verschiedenen Kriegsparteien besetzt.
Rom:nja leben seit über 600 Jahren auf dem Gebiet des modernen albanischen Nationalstaats. Dabei wurde das Gebiet auch ein Rückzugsort für muslimische Rom:nja aus anderen Regionen Südosteuropas, vor allem aus dem heutigen Rumänien, wo sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts Verfolgung und Sklaverei ausgesetzt gewesen waren.1Kolsti, Albanian Gypsies, 51 f.
Rom:nja im jungen albanischen Nationalstaat
In Albanien selbst veränderte sich nach der neu gewonnenen Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zunächst wenig für Rom:nja. Soziale und politische Machtstrukturen aus der Zeit, als Albanien an der Peripherie des Osmanischen Reichs lag, blieben weitestgehend bestehen. So war die albanische, postimperiale Gesellschaft etwa von einer hohen Kontinuität der lokalen Eliten geprägt. Wie zu Zeiten des Osmanischen Reichs waren Produkte, die von Rom:nja hergestellt oder von ihnen gehandelt wurden, auf den Märkten erlaubt. Auch konnten christlich-orthodoxe Rom:nja, die nun Teil der neuen, autokephalen albanisch-orthodoxen Kirche waren, weiter und ohne Einschränkungen alle kirchlichen Weihen empfangen. Auch interethnische Hochzeiten sind belegt.
Es kam also durchaus zu Assimilationsprozessen von Rom:nja in die albanische Mehrheitsbevölkerung oder andere Minderheitengruppen. Nichtsdestotrotz kam es aber auch zu Diskriminierungen und Ausgrenzung von Rom:nja. Muslimische Rom:nja waren etwa nicht gern in Moscheen und auf Friedhöfen gesehen.2Ebd., 52 f. Die Diskriminierung von Rom:nja verstärkte sich im Laufe der 1920er-Jahre weiter und war Ergebnis einer ethnisch-nationalistischen Homogenisierungspolitik, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Staaten Südosteuropas zu dieser Zeit, in verschiedenen Ausmaßen, verfolgt wurde.3Schmitt, Der Balkan, 10 f.
Der faktisch gescheiterte Versuch von Ahmet Zogu (1895–1961), damals noch Ministerpräsident Albaniens, öffentliches Tanzen von Rom:nja zu verbieten, war ein Ausdruck dieser Politik.4Kolsti, Albanian Gypsies, 52. Es kam aber auch zu drastischen Maßnahmen. 1929 ordnete das albanische Innenministerium an, alle Rom:nja in den Präfekturen zu erfassen, da sie angeblich die „öffentliche Moral“ zerstörten. In diesem Zusammenhang wurden in Kavaja lebende Rom:nja aus der Gemeinde ausgewiesen. Zuvor war es bereits zu Ausweisungen von Romn:ja aus Shkodra gekommen.5Matache et al., The Roma Holocaust, 32, 54.
Unter italienischer Besatzung, 1939–1943
Albanien wurde im April 1939, Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, von Italien besetzt. Auch wenn Albanien formal ein eigenes Staatsgebilde blieb, stand das Land fortan faktisch unter der Kontrolle des faschistischen Regimes in Rom. Die Besetzung Albaniens war ein wesentliches Element der außenpolitischen Ambitionen Italiens. Sie gehörte zum Plan der Schaffung eines spazio vitale [Lebensraum], eines Herrschaftsgebietes, welches die italienische Vorherrschaft im Mittelmeerraum manifestieren und in welchem eine faschistische Zivilisation etabliert werden sollte.6Zur ideengeschichtlichen Konzeption des Begriffes spazio vitale, der sich vom nationalsozialistischen Begriff des Lebensraums unterschied, vgl. Gentile, Fascismo, 198 f. Albanien, das erste von Italien besetzte europäische Land, wurde so zu einem Ausgangspunkt der weiteren faschistischen Expansion in Südosteuropa.
Während der italienischen Besatzung Albaniens kam es zu keiner systematischen Diskriminierung oder Verfolgung von Rom:nja, anders als in anderen italienisch besetzen Gebieten Südosteuropas und in Italien selbst.7Trevisan, La persecuzione. Die italienischen Besatzer konzentrierten sich auf den Aufbau einer faschistischen Gesellschaft in Albanien, die Teil des angestrebten faschistischen Imperiums werden sollte, und waren um politische Stabilität im Land bemüht. Rom:nja wurden dabei schlichtweg nicht als Sicherheitsproblem wahrgenommen, das diesem Ziel im Weg stehen könnte. Sie galten als unbedeutender, kleiner Teil der Gesamtbevölkerung, auch, wenn sich ihr Anteil aufgrund von Fluchtbewegungen aus dem 1941 von Deutschland angegriffenen Jugoslawien leicht erhöhte.8Polansky, One Blood, One Flame, 423–40, 459–66.
Hinzu kam, dass die italienische Besatzungsmacht teilweise Schwierigkeiten hatte, Romn:ja vom Rest der Bevölkerung zu unterscheiden. Assimilationsprozesse in die albanische Mehrheitsgesellschaft oder andere Minderheitengruppen, jahrhundertelange harte Lebensbedingungen, vor allem in ländlichen Gebieten, die ein Großteil der Bevölkerung miteinander teilten, die unterschiedlichen Sprachen und gesprochenen Dialekte und die religiöse Diversität im Land waren Gründe dafür.9Kolsti, Albanian Gypsies, 54 f. Das Ausbleiben einer systematischen Verfolgung von Rom:nja in Albanien lag also an der politischen Ressourcenverteilung der italienischen Besatzer:innen, die andere Prioritäten setzten, sowie einem gewissen Unvermögen, antiziganistische Maßnahmen durchzusetzen.
Ein Ausbleiben systematischer Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen während der italienischen Besatzung bedeutete aber nicht, dass Rom:nja nicht weiterhin Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt waren. Sie blieben eine stark marginalisierte Gruppe in der albanischen Gesellschaft. So wurden Personen, die von der italienischen Besatzungsmacht als Rom:nja gelesen wurden, als „Zingaro“ [‚Zigeuner’] stereotypisiert.10Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Uffici Giudiziari Militari [Militärjustizbehörden], Tribunali Militari di Guerra e Tribunali Militari Territoriali di Guerra [Kriegs-Militärgerichte und Territoriale Kriegs-Militärgerichte], Albania (1939–1943), Sentenze [Urteile] 1939–1943, b. 5. Außerdem war die albanische Gesellschaft während der Besatzung, wie andere besetzte Gesellschaften auch, wesentlich von Gewalt geprägt und nicht nur die italienischen Besatzer agierten gewalttätig. Durch die Besatzung entstanden vielmehr neue Handlungsoptionen der Gewalt, auch für Teile der besetzten Bevölkerung.11Tönsmeyer, „Besatzungsgesellschaften“.
In Albanien nahm die Gewalt vor allem ab 1942 zu, als der militärische Widerstand gegen die Besatzung wuchs. Die damals zwölfjährige Romnja Darinka Sejdović, die mit ihren Geschwistern aus Montenegro nach Nordalbanien geflohen war, bezeichnete etwa die albanischen Balli Kombëtar [Nationale Front] – eine politische Organisation, die eigene Kampfgruppen unterhielt – in einem 2008 publizierten Interview als „Unruhestifter“.12Polansky, One Blood, One Flame, 464.
Rom:nja waren aber nicht nur Opfer von Diskriminierung, Ausgrenzung und teils auch körperlicher Gewalt. Sie waren Akteur:innen, die unter den erschwerten Lebensbedingungen im besetzten Albanien versuchten, ihre spezifischen Interessen durchzusetzen oder schlichtweg zu überleben. So schlossen sich nachweislich auch Roma den Partisanengruppen an.13Osmanaj, The Roma Community, 230.
Unter deutscher Besatzung, 1943–1944
Nach der Absetzung Benito Mussolinis (1883–1945) schloss die neue italienische Regierung unter Pietro Badoglio (1871–1956) einen Waffenstillstand mit den Alliierten und Italien löste sich aus dem Bündnis mit dem Deutschen Reich. Anschließend besetzte die Wehrmacht große Teile Italiens und auch Gebiete, die vormals unter italienischer Besatzung standen. So gelangte auch Albanien im September 1943 unter deutsche Besatzung.
Wie zuvor, kam es zu keiner systematischen Verfolgung und Ermordung von Rom:nja in Albanien, da die deutsche Besatzungsmacht ebenfalls andere Prioritäten setzte. Das Deutsche Reich geriet militärisch an allen Fronten immer stärker unter Druck und die wenigen, in Albanien stationierten deutschen Truppen waren wesentlich mit der militärischen Sicherung des Landes beschäftigt. Das Ausbleiben einer systematischen Verfolgung lag also an fehlenden Kapazitäten und der kurzen Dauer der deutschen Besatzung, die nur etwas mehr als ein Jahr währte.14Kolsti, Albanian Gypsies, 55 f.
Von einem gewollten, regionalen Verzicht auf die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik kann daher nicht ausgegangen werden. Im Gegenteil: Dort, wo die deutsche Besatzung in Südosteuropa länger währte oder wo schon früher mit dem Deutschen Reich eng kooperierende Marionettenregime eingerichtet wurden (etwa im heutigen Serbien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina), waren Rom:nja umfassend Verfolgung und Ermordung ausgesetzt. Auch im nördlichen Kosovo, der bereits seit 1941 von deutschen Truppen besetzt worden war, wurden Rom:nja Opfer von Enteignung, Verfolgung und Zwangsarbeit.15Kenrick und Puxon, Sinti und Roma, 92. In Albanien hingegen fehlten den deutschen Besatzern schlichtweg die Mittel und die Zeit zur Umsetzung ihrer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik.
Ähnliche Faktoren waren auch der Grund dafür, dass es in Albanien nicht zu einer systematischen Verfolgung und Ermordung von Juden:Jüdinnen kam. Die weitgehend fehlende Kooperation albanischer Behörden mit den Besatzern in dieser Frage, eine vergleichsweise breite Unterstützung innerhalb der albanischen Zivilbevölkerung für das Verstecken von Jüdinnen und Juden sowie fehlende Ressourcen der deutschen Besatzer verhinderten dies.16Heim et al., Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 78, 85–88.
Albanien wurde so für viele Juden:Jüdinnen, aber auch für Rom:nja, ein Zufluchtsort, der sie vor Verfolgung bewahrte, und unterschied sich dahingehend stark von anderen Ländern und Regionen Südosteuropas. Es muss jedoch betont werden, dass insbesondere die Situation von Rom:nja in Albanien während des Zweiten Weltkriegs nach wie vor schlecht erforscht ist. Diese Tatsache spiegelt nicht zuletzt wider, dass Rom:nja in Albanien eine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe waren und sind.
Von der kommunistischen Diktatur bis heute
Nach dem Abzug der deutschen Truppen konnte die Kommunistische Partei Albaniens die Macht erringen und beherrschte die Politik des Landes bis 1991. Unter der kommunistischen Diktatur bewegte sich das Leben von Rom:nja in einem Spannungsfeld, das einerseits von einem gewissen sozialen Aufstieg und der Anhebung des Lebensstandards, andererseits von enormem politischem und sozialem Konformitätsdruck geprägt war. So schaffte die vom kommunistischen Regime angestrebte Vollbeschäftigung der arbeitsfähigen Bevölkerung Möglichkeiten zur Ausübung einer sicheren Erwerbstätigkeit für Rom:nja, die vorher in Albanien nie gegeben waren. Rom:nja arbeiteten in der Landwirtschaft, der Bauwirtschaft, der öffentlichen Verwaltung und in handwerklichen Berufen.17Osmanaj, The Roma Community, 230.
Gleichzeitig wurden jegliche kulturelle Unterschiede zur albanischen Mehrheitsgesellschaft gezielt unterdrückt. Die albanische Regierung verfolgte eine Politik der vollständigen Assimilierung der Rom:nja in einer auf absoluter sozio-kultureller Egalität ausgerichteten Gesellschaft. Anders als versprochen, kam es unter dem Regime nicht zu einer Anerkennung der albanischen Rom:nja als nationale Minderheit. Auch die Möglichkeit, in Schulen Romanes zu lernen oder auf Romanes unterrichtet zu werden, blieb ein leeres Versprechen.18Kolsti, Albanian Gypsies, 56–58.
Trotz dieses hohen Assimilierungsdruckes schafften es Rom:nja, ihre Sprache und kulturelle Identitäten im Privaten zu bewahren. Möglichkeiten für eine gesellschaftliche Partizipation gab es hingegen nicht. So konnte sich zu Zeiten der kommunistischen Diktatur auch keine öffentliche Erinnerungskultur herausbilden, die die Situation der Rom:nja vor und vor allem während des Zweiten Weltkriegs thematisierte. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war im kommunistischen Albanien bestimmt von einer geschichtspolitischen Glorifizierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Besatzer, dem sogenannten nationalen Befreiungskampf. Diese offizielle Erinnerungskultur lieferte dem kommunistischen Regime die zentrale Legitimationsgrundlage für die Errichtung einer auf nationaler Homogenität zielenden stalinistischen Diktatur.19Kera, Rethinking the Place of Second World War, 364–374. Geschichten von Ausgrenzung und Diskriminierung, aber auch von der Beteiligung von Rom:nja am Widerstand passten nicht in dieses Narrativ und blieben unerzählt.
Die Transition von einer kommunistischen zu einer kapitalistischen Gesellschaft in den 1990er-Jahren führte zu einem signifikanten sozialen Abstieg bis hin zur extremen Verarmung vieler Rom:nja. Ein geringeres Ausbildungsniveau als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung, aber vor allem Diskriminierung und der Zusammenbruch von staatlichen Industrie- und Landwirtschaftsunternehmen führten zu hoher Arbeitslosigkeit. Nach wie vor sind Rom:nja die wirtschaftlich schwächste und sozial am stärksten marginalisierte Gruppe Albaniens.
Mit der Demokratisierung der Gesellschaft entstanden aber auch Möglichkeiten der politischen und kulturellen Selbstorganisation, die zur Gründung von Organisationen und sozialen Initiativen führten, die sich für die Rechte, soziale Gleichstellung und die kulturelle Selbstbestimmung von Rom:nja einsetzten. Dieser Selbstorganisation von Rom:nja ist es wesentlich zu verdanken, dass die Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg im Land, obwohl nach wie vor stark an Narrativen einer national homogenen albanischen Mehrheitsgesellschaft orientiert, allmählich um Perspektiven von Rom:nja erweitert wird.
So wurde 2018 auf Initiative von Klaudia Veizaj und mit Unterstützung von Roma Versitas Albania ein Wandgemälde an einer Hauswand in Tirana geschaffen, welches an den Widerstand von Rom:nja gegen die italienischen und deutschen Besatzer erinnern soll.20https://www.facebook.com/media/set/?set=a.1445253458910278&type=3 [Zugriff: 18.11.2025]. Die gesellschaftliche Emanzipation der albanischen Rom:nja wird wesentlich aus der Community selbst vorangetrieben. Obwohl Rom:nja seit 2017 offiziell vom albanischen Staat als nationale Minderheit anerkannt sind, fehlt es ihnen nach wie vor an Repräsentant:innen in Kultur, Wissenschaft, Politik und Verwaltung.




