Berlin-Marzahn

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Berlin-Marzahn
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 2. Januar 2025

Berlin, die Hauptstadt Deutschlands, war in den 1930er-Jahren die Heimatstadt vieler Sinti:ze und Rom:nja. Am 16. Juli 1936 verschleppten Polizist:innen über 600 als Zigeuner verfolgte Personen in ein Lager am Stadtrand. Dieses euphemistisch als „Rastplatz“ bezeichnete Zwangslager für Sinti:ze und Rom:nja bestand von 1936 bis 1945.

Die Verfolger:innen nutzten es als zentrales Instrument zur Segregation, Isolation und Überwachung von insgesamt mehr als 1 200 Menschen, die über die Jahre hinweg dort festgehalten wurden. Ab 1938 diente es als Ausgangspunkt für die Deportation und Ermordung der festgehaltenen Sinti:ze und Rom:nja.

Gründung

Spätestens seit 1934 planten das Wohlfahrtsamt Berlin und die Berliner Polizeibehörde die Einrichtung des Zwangslagers. Diese Pläne wurden im Zuge des Runderlasses zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 6. Juni 1936 realisiert. Der Erlass schließt mit der Mitteilung des Ministers, dass er dem Polizeipräsidenten von Berlin die „Ermächtigung zur Durchführung eines allgemeinen Landesfahndungstages noch vor den Olympischen Spielen“ für Preußen erteilt habe.1Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 6. Juni 1936 betr. Bekämpfung der Zigeunerplage, in: Ministerialblatt des Reichs-und Preußischen Ministeriums des Innern 1936, Nr. 27, 75. Die Berliner Verantwortlichen nutzten diesen Auftrag für den „Landfahndungstag“ zur Umsetzung ihrer gemeinsam mit Wohlfahrtsamt und Bezirksämtern vorbereiteten Pläne.

Etwa einen Monat nach dem Erlass erließ die Staatspolizeileitstelle für den Landespolizeibezirk Berlin am 3. Juli 1936 eine polizeiliche Anordnung. Diese betraf das „Lagern von Zigeunern“ und wies an, dass „sämtliche in Groß-Berlin lagernde Zigeuner nach dem Rastplatz bei Marzahn überführt werden“ sollten.2Diese Anordnung konnte bisher nicht gefunden werden. Sie wird in einem Schreiben der Schutzpolizei (Schupo) vom 10.07.1936 erwähnt. Vgl. Bundesarchiv, R 8077/236, Bl. 83–85, hier Bl. 83.

Nach der Gründung des Lagers teilten sich das Berliner Wohlfahrtsamt und die Polizeibehörde die verwaltungstechnische und kriminalpolizeiliche Überwachung der Internierten sowie die Verwaltung des Lagers.

Lebensumstände

Das Berliner Lager befand sich im Stadtteil Marzahn auf einem am Rande der Hauptstadt gelegenen Feld, ohne Wasser- und Stromanschluss. Es lag zwischen Falkenberger Weg, den Bahngleisen der Eisenbahnlinie Wriezener Bahn, Rieselfeldern und dem städtischen Friedhof. Zur Gründungszeit bestanden als einzige Einrichtungen im Lager ein Brunnen, ein Abort und ein Wassertümpel.

Das Leben von allen Sinti:ze und Rom:nja im Lager kennzeichnete die verheerende Wohnsituation, der Mangel an Lebensmitteln, medizinischer Versorgung sowie hygienischen Wasch- und Kochmöglichkeiten, Zwangsarbeit und Gewalt. Erst 1938 ließ die Stadtverwaltung drei Wohnbaracken errichten. Zuvor lebten die im Lager festgehaltenen Männer, Frauen und Kinder in baufälligen Wohnwagen und selbst gebauten Unterkünften.

Die direkt nach Lagergründung begonnenen Tätigkeiten des Rassenforschers Gerhard Stein (1910–1979) markierten den Beginn dieser später durch die Mitarbeiter:innen der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF) fortgesetzten körperlichen und mentalen Übergriffe. Zudem waren die festgehaltenen Sinti:ze und Rom:nja mit gewalttätigen Übergriffen der Mitglieder der Lagerwache und ihrer Arbeitgeber:innen konfrontiert.

Mit der Verschärfung der nationalsozialistischen Rassenpolitik ab 1938 verschlechterte sich die Situation weiter. Das Lager in Marzahn diente zunehmend als Sammellager für die Deportation von Sinti:ze und Rom:nja in Konzentrationslager. Am 16. Juni 1938, um sechs Uhr morgens, verhafteten Berliner Kriminalpolizisten mit der Unterstützung von Mitarbeitern des 257. Polizeireviers in Friedrichsfelde eine unbekannte Anzahl an Männern und Jungen im Marzahner Lager. Die an diesem Tag und in der Folgezeit verschleppten Sinti und Roma wurden in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und nur in Einzelfällen wieder aus der Vorbeugungshaft entlassen. Eine deutliche Häufung von Nachweisen weiterer Deportationen nach Sachsenhausen findet sich in den überlieferten Quellen für Februar 1939.

Auch Frauen und Mädchen wurden unter der Vorgabe der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Eine exakte zeitliche Einordnung dieser Deportationen ist aufgrund fehlender Forschung derzeit nicht möglich. Der Überlebende Oskar Böhmer (1920–unbekannt) berichtete, dass die Verhaftung einer hohen Anzahl an Frauen und Mädchen zentral an einem Tag, den er zeitlich „Ende 1938“ einordnete, stattgefunden habe.3Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg, WdE 1025 (Regine Böhmer, Sonstige Materialien): Oskar Böhmer, Wenn ich daran denke… : Oskar Böhmer erzählt sein Leben, aufgeschrieben von Karin Guth.

Männer, Frauen und Kinder aus dem Lager leisteten schwere Zwangsarbeit, zum Beispiel im Straßenbau oder in der Rüstungsproduktion, sowohl in Fabriken, als auch in Privathaushalten. Zudem missbrauchte die Regisseurin Leni Riefenstahl (1902–2003) neben Sinti:ze und Rom:nja, die im Salzburger Zwangslager Maxglan festgehalten wurden, auch Internierte des Zwangslagers Berlin-Marzahn als Kompars:innen für ihr Filmprojekt „Tiefland“.

Erfassung und Deportation

Infolge des „Runderlasses zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938 wurde wenige Monate später die Dienststelle für Zigeunerfragen unter der Leitung von Leo Karsten (1898–unbekannt) im Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz eingerichtet. Die von der Dienststelle spätestens seit Sommer 1939 aktiv betriebenen Verfolgungsmaßnahmen setzte sie in Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen der Kripo Berlin – wie der Kriminalinspektion Vorbeugung –, der RHF, der Gestapo und teils übereifrigen Mitarbeiter:innen von Fürsorgebehörden, Standesämtern und Krankenhäusern um.

Im Zuge der reichsweiten Deportationen von Sinti:ze und Rom:nja in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Frühjahr 1943 deportierten die Verfolger:innen auch fast alle zu diesem Zeitpunkt noch im Lager Marzahn lebenden Männer, Frauen und Kinder. Die Verschleppten wurden in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht und dort bis zu ihrer Deportation festgehalten. Den Deportierten wurde schriftlich bekannt gegeben, dass sie in das „KL Auschwitz-Birkenau“ deportiert werden würden. Sie mussten dies mit einer Unterschrift oder dem Abdruck des rechten Zeigefingers bestätigen. Die Personenzüge fuhren unter Bewachung von Polizei und Wehrmachtsangehörigen vom Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof, ab. Nur sehr wenige überlebten.

Nach den Deportationen und bis zur Befreiung des Lagers im April 1945 lebten noch etwas mehr als 30 Personen im Lager. In ihrer Notlage mussten einige der Überlebenden auch noch nach der Befreiung bis 1947 auf dem Gelände ausharren.

Anerkennung und Erinnerung

Fortdauernder Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja in West- und Ostberlin führten dazu, dass das Leid der wenigen Überlebenden des Zwangslagers Berlin-Marzahn nur in einigen seltenen Fällen anerkannt wurde. Gedenkinitiativen, wie sie der Bürgerrechtler und Schriftsteller Reimar Gilsenbach (1925–2001) in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bereits in den 1960er-Jahren vorschlug, nahmen erst seit Ende der 1980er-Jahre allmählich Gestalt an. Am 29. Juni 1986 fand die erste von der evangelischen Kirche organisierte Gedenkveranstaltung unweit des ehemaligen Lagergeländes statt. Am 12. September des Jahres wurde im Rahmen einer nicht öffentlich bekannt gemachten Veranstaltung der erste Gedenkstein zur Erinnerung an das Zwangslager auf dem Parkfriedhof Marzahn enthüllt. Die Inschrift lautete: „Vom Mai 1936 bis zur Befreiung unseres Volkes durch die ruhmreiche Sowjetarmee litten in einem Zwangslager unweit dieser Stätte hunderte Angehörige der Sinti. Ehre den Opfern.“

Der Überlebende und damalige Vorsitzende der neu gegründeten Cinti Union Berlin (heute: Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg), Otto Rosenberg (1927–2001), veranlasste gemeinsam mit Reimar Gilsenbach die Verlegung einer ergänzenden Marmortafel, die am 16. Juni 1990 erfolgte. Ihre Inschrift lautet: „Den Berliner Sinti, die im Zigeunerlager Marzahn litten und in Auschwitz starben. Mai 1936 – Mai 1945, Atschen Devleha [Romanes: Bleib mit Gott].“ Seit 1991 vervollständigt eine weitere Kupfertafel das Gedenkensemble für die im Zwangslager Berlin-Marzahn inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja auf dem Parkfriedhof Marzahn. Auf ihr ist zu lesen: „Auf einem ehemaligen Rieselfeld nördlich dieses Friedhofs richteten die Nazis im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 einen ‚Zigeunerrastplatz‘ ein, auf dem Hunderte Sinti und Roma gezwungen wurden zu leben. Zusammengepfercht in düstere Baracken, fristeten die Lagerbewohner ein elendes Dasein. Harte Arbeit, Krankheit und Hunger forderten ihre Opfer. Willkürlich wurden Menschen verschleppt und verhaftet. Demütigende ‚rassenhygienische Untersuchungen‘ verbreiteten Angst und Schrecken. Im Frühjahr 1943 wurden die meisten der ‚Festgesetzten‘ nach Auschwitz deportiert. Männer und Frauen, Greise und Kinder. Nur wenige überlebten.“

2007 wurden ein Platz und eine Straße auf dem Gelände des früheren NS-Zwangslagers nach Otto Rosenberg benannt. 2011 entstand auf Initiative des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V. ein Ort der Erinnerung und Information.

Einzelnachweise

  • 1
    Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 6. Juni 1936 betr. Bekämpfung der Zigeunerplage, in: Ministerialblatt des Reichs-und Preußischen Ministeriums des Innern 1936, Nr. 27, 75.
  • 2
    Diese Anordnung konnte bisher nicht gefunden werden. Sie wird in einem Schreiben der Schutzpolizei (Schupo) vom 10.07.1936 erwähnt. Vgl. Bundesarchiv, R 8077/236, Bl. 83–85, hier Bl. 83.
  • 3
    Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg, WdE 1025 (Regine Böhmer, Sonstige Materialien): Oskar Böhmer, Wenn ich daran denke… : Oskar Böhmer erzählt sein Leben, aufgeschrieben von Karin Guth.

Zitierweise

Patricia Pientka: Berlin-Marzahn, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 2. Januar 2025.-

1936
6. Juni 1936In Deutschland ergeht der Runderlass „Zur Bekämpfung der Zigeunerplage“, mit dem eine ständige Kontrolle und restriktive Maßnahmen gegenüber Sinti:ze und Rom:nja angeordnet werden.
3. Juli 1936Die Staatspolizeileitstelle für den Landespolizeibezirk Berlin, Deutschland, ordnet die Überführung von Sinti:ze und Rom:nja in Groß-Berlin in ein Zwangslager im Stadtteil Marzahn an, die ab dem 16. Juli umgesetzt wird.
1938
8. Dezember 1938Der von Heinrich Himmler herausgegebene Runderlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ stellt die rassenpolitische Zielsetzung der staatlichen Maßnahmen in Deutschland heraus.
1986
12. September 1986Auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn, Deutschland, werden eine Gedenktafel und ein Gedenkstein in Erinnerung an die Opfer des Zwangslagers Marzahn eingeweiht.
2011
1. Juni 2011Auf Initiative des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V. erfolgt am ehemaligen Standort des Zwangslagers Berlin-Marzahn, Deutschland, der erste Spatenstich für einen Erinnerungsort.