Esztergom

Logo
Suche
Esztergom
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 17. Juli 2025

Esztergom ist eine Stadt an der Donau im nördlichen Ungarn, die in den 1930er- und 1940er-Jahren zwischen 17 000 und 22 000 Einwohner:innen hatte. Einer Erhebung aus dem Jahr 1932 zufolge lebten etwa 250 Zigeunerinner- und außerhalb des Stadtgebietes. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden die Rom:nja mehrmals von der Stadtverwaltung umgesiedelt. Diese Umsiedlungen waren immer mit gewaltsamen Maßnahmen gegen die Familien verbunden. 1939 wurden die Rom:nja in die Nähe eines Hochwasserschutzdammes verbracht. Mit der Umsiedlung sollten sie so gut wie möglich von den anderen Einwohner:innen der Stadt isoliert und von den von Tourist:innen besuchten Orten ferngehalten werden.

Segregation

Am 22. Juli 1942 verabschiedete der Stadtrat eine Verordnung über die Bewohner:innen der „Zigeunersiedlung“ von Esztergom. Die Ausarbeitung der Verordnung hatte 1939 begonnen, und die endgültige Fassung orientierte sich an einer ähnlichen Verordnung, die 1941 in Salonta (heute Rumänien, bis 1920 und von 1940 bis 1944 unter dem Namen Nagyszalonta zu Ungarn gehörend) erlassen worden war. In der Verordnung – offiziell als sogenannte lokale Verordnung [szabályrendelet] ausgegeben – wurde die Siedlung als ausschließlicher Aufenthaltsort für alle in Esztergom lebenden „Zigeuner“ bestimmt.1 Die Mitglieder der Gemeinschaft werden in den archivarischen Quellen der damaligen Zeit häufig als „zeltbewohnende Zigeuner“ [„sátoros cigányok“] bezeichnet, was sich in erster Linie auf die Mobilität bestimmter romani Communitys und nicht auf ihre Wohnverhältnisse bezieht. Sie durften die Siedlung „nur für den Arbeitsdienst“ verlassen. Die Verordnung verbot ihnen unter anderem sogar, sich in der Stadt auf Bänke zu setzen. In dem Dokument wurde definiert, wer als „Zigeuner“ galt: „Als Zigeuner gelten alle Personen zigeunerischer Herkunft und alle Personen, die mit Zigeunern zusammenleben, unabhängig von ihrer Herkunft.“2 MNL OL, KECA, V. 1. a. 203/1942. Diese Definition zeigt, dass die damaligen Behörden die Gemeinschaften der Rom:nja in zweierlei Hinsicht stigmatisierten: Sie betrachteten sie sowohl als Rasse– gemäß der auf „Rasse“ basierenden Ideologie jener Zeit – als auch als geschlossene soziale Gruppe, in die man hinabsteigen, aus der man aber nicht aufsteigen konnte.3 Obwohl die Verordnung besagte, dass „ein Zigeuner, der seinen Lebensunterhalt bestreitet und in der Lage ist, eine angemessene Wohnung zu mieten oder ein Haus zu kaufen, mit Genehmigung des Bürgermeisters jederzeit aus der Zigeunersiedlung ausziehen kann“, war dies aufgrund der fast vollständigen Segregation der örtlichen Gemeinschaft der Rom:nja nicht möglich. Vgl. Ebd.

Der Wissenschaftler János Bársony (geb. 1951) machte auf die Verordnung von Esztergom aufmerksam, indem er die geschlossene Siedlung als Getto interpretierte.4 Bársony et al., Pharrajimos, 24 f. Die tatsächliche Umsetzung einer Gettoisierung von Rom:nja in Esztergom wurde nach Erscheinen einer Publikation von László Karsai (geb. 1950) von mehreren Historiker:innen infrage gestellt, weil das Innenministerium die Verordnung nicht bestätigt hatte.5 Purcsi, A cigánykérdés „gyökeres és végleges megoldása,“ 75; Karsai, A cigánykérdés Magyarországon, 61, 97 f. Der Stadtrat musste das Innenministerium allerdings nur deshalb um eine Bestätigung ersuchen, weil in der Verordnung auch strafrechtliche Sanktionen vorgesehen waren. Im Allgemeinen stand es den Stadt- und Komitatsräten in Ungarn frei, in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich Verordnungen zu erlassen, und in dringenden Ausnahmefällen konnten diese bereits vor einer Ratifizierung durch das Innenministerium Gültigkeit erlangen.

Tatsächlich scheint die Verordnung lokal als gültig angesehen worden zu sein. In der zeitgenössischen Presse wurde berichtet, dass der Gesetzgebungsausschuss des Komitats Esztergom die Verordnung im September 1942 bestätigt und das Komitat beschlossen hatte, die Regierung um eine entsprechende landesweite Regelung zu ersuchen. Der Abgeordnetenrat von Esztergom befasste sich in seiner ordentlichen Sitzung am 29. Oktober 1942 erneut mit der Verordnung, und am 30. November ergänzte der Stadtrat diese um den Hinweis, dass die Siedlung nicht nur eine Gefahr für die öffentliche, sondern auch für die „tierärztliche“ [!] Gesundheit darstelle. Am 28. Juli 1944 setzte der Stadtrat die Teile der Verordnung, die keine strafrechtlichen Sanktionen enthielten, zum 16. August in Kraft.

Die archivalischen Quellen und neue historische Studien über Rom:nja in Esztergom zeigen, dass die rassistische Ausgrenzung und Verfolgung eine allgemeine soziale Erfahrung war. Durch die Ereignisse nach 1939 und die Verordnung von 1942 wurde die Ausgrenzung nochmals verschärft. Obwohl in dem Dokument der Begriff Getto nicht verwendet wurde, erfüllte die isolierte „Zigeunersiedlung“ von Esztergom die Funktion eines Gettos und wurde von Zeitgenoss:innen als solches empfunden. Der Wortlaut der Verordnung ähnelt eher kommunalen Verordnungen gegen romani Gemeinschaften als Dekreten zur Einrichtung von Ghettos für Juden:Jüdinnen, aber ihre Ursprünge standen natürlich in Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen und rassistischen Ideologien der damaligen Zeit.

Ghettoisierung und Deportation der jüdischen Bevölkerung

Nach der deutschen Besetzung Ungarns am 19. März 1944 ordnete der stellvertretende Gouverneur des Komitats Esztergom auf Anweisung des Innenministers die Einrichtung eines Gettos für die Juden:Jüdinnen der Stadt und des Kreises an. Die Einweisung in das Getto sollte am 2. Mai  beginnen und am 12. Mai 1944 enden. Dr. Jenő Etter (1897–1973), seit 1941 Bürgermeister von Esztergom, änderte die Anordnung dahingehend ab, dass die jüdischen Familien nicht in einem einzigen abgesonderten Teil der Stadt unterzubringen waren. Schließlich wurden den Juden:Jüdinnen bestimmte Häuser zugewiesen, und zwar ausschließlich solche, in denen bereits jüdische Familien lebten oder zuvor gelebt hatten.

Wenig später, am 5. Juni, wurden die jüdischen Familien aus Esztergom nach Komárom und von dort am 13. und 16. Juni 1944 in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.6 Miklós, Mindennapi élet a háborús hátországban, 137 f.

Zwangsarbeit und Deportationen

Über die Geschichte der Deportation der Rom:nja aus Esztergom ist wenig bekannt. Auch anhand späterer mündlicher Überlieferungen lässt sich die Verfolgung nur bruchstückhaft rekonstruieren. Mehrere Angehörige der damals in Esztergom lebenden Familien wurden zur Zwangsarbeit oder in Konzentrationslager deportiert. Der Lokalhistoriker Tamás Miklós (geb. 1987) schreibt unter Verweis auf ein zeitgenössisches Tagebuch, dass die Deportation der Rom:nja am Abend des 1. März 1945 stattgefunden haben müsse.7 Miklós, „A cigánykérdés a cigányok elhelyezésével megoldva nincsen,“ 82. Gemäß überlieferter Zeugnisse wurden die meisten Bewohner:innen der Siedlung in das Lager „Csillagerőd“ in Komárom gebracht.

Ein überlebender Rom aus Esztergom erinnerte sich Jahre später an das Trauma der Massenexekutionen am Donauufer in Komárom (deren Opfer laut Quellen vor allem die jüdischen Mitgefangenen waren): „Ich war mit der ganzen Familie dort, zehn Kinder und die Frau […] Viele der Zigeuner, die es bis dorthin geschafft hatten, wurden früh abgeholt, am Ufer erschossen und ins Wasser geworfen.“8 OSA, 369-1-1:7/3. Mehrere Rom:nja aus Esztergom wurden in Konzentrationslager deportiert, andere wurden mit dem Näherrücken der Front nach Galanta (heute Südslowakei) zwangsumgesiedelt.

Nachwirkungen

Nach dem Krieg garantierte das sozialistische System seinen Bürger:innen im Prinzip Gleichheit. Aus Quellen aus den 1950er-Jahren geht jedoch hervor, dass die segregierte Siedlung in dem hochwassergefährdeten Gebiet von Esztergom nicht nur bestehen blieb, sondern dass eine zweite Siedlung in einem anderen Vorort, in Esztergom-Kertváros (Esztergom-Tábor), gegründet wurde. Nach dem 20. Juni 1961, als eine Resolution der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei die Zwangsassimilierung von Rom:nja ankündigte, wurden Programme zur Auflösung von Siedlungen eingeleitet. Auch diesmal war das primäre Ziel, Siedlungen an Hauptverkehrsstraßen und in der Nähe von Touristenzielen zu beseitigen.

Die Esztergom-Siedlung, die später als Töltés-Straße bekannt wurde, blieb auch nach dem Regimewechsel 1989 bestehen. Sie wurde wiederholt durch Überschwemmungen zerstört und von ihren Bewohner:innen wieder aufgebaut. Nicht wegen des historischen Hintergrunds, sondern wegen der sozialen Isolation der Bewohner:innen wurde sie von Einheimischen und in der Presse noch in den 2000er-Jahren als „Getto“ bezeichnet.

2019 wurde im Hof der St.-Stephans-Kirche in Esztergom eine kleine Gedenkstätte für die Rom:nja, die während des Zweiten Weltkrieges getötet wurden, errichtet. Sie ist für die lokale Community der Rom:nja zu einem Gedenkort geworden, an dem anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti:ze und Rom:nja jeweils am 2. August Veranstaltungen abgehalten werden.

Einzelnachweise

  • 1
    Die Mitglieder der Gemeinschaft werden in den archivarischen Quellen der damaligen Zeit häufig als „zeltbewohnende Zigeuner“ [„sátoros cigányok“] bezeichnet, was sich in erster Linie auf die Mobilität bestimmter romani Communitys und nicht auf ihre Wohnverhältnisse bezieht.
  • 2
    MNL OL, KECA, V. 1. a. 203/1942.
  • 3
    Obwohl die Verordnung besagte, dass „ein Zigeuner, der seinen Lebensunterhalt bestreitet und in der Lage ist, eine angemessene Wohnung zu mieten oder ein Haus zu kaufen, mit Genehmigung des Bürgermeisters jederzeit aus der Zigeunersiedlung ausziehen kann“, war dies aufgrund der fast vollständigen Segregation der örtlichen Gemeinschaft der Rom:nja nicht möglich. Vgl. Ebd.
  • 4
    Bársony et al., Pharrajimos, 24 f.
  • 5
    Purcsi, A cigánykérdés „gyökeres és végleges megoldása,“ 75; Karsai, A cigánykérdés Magyarországon, 61, 97 f.
  • 6
    Miklós, Mindennapi élet a háborús hátországban, 137 f.
  • 7
    Miklós, „A cigánykérdés a cigányok elhelyezésével megoldva nincsen,“ 82.
  • 8
    OSA, 369-1-1:7/3.

Zitierweise

György Majtényi: Esztergom, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 17. Juli 2025.

1942
22. Juli 1942In Ungarn erlässt der Stadtrat von Esztergom eine Verordnung über die Einrichtung einer geschlossenen „Zigeunersiedlung“ und bittet das Innenministerium, den Erlass zu bestätigen.
1944
19. März 1944Deutsche Truppen marschieren in Ungarn ein und etablieren eine von Deutschland abhängige Regierung.
28. Juli 1944In Ungarn beschließt der Stadtrat von Esztergom, eine Verordnung über eine geschlossene „Zigeunersiedlung“ ab dem 16. August 1944 in Kraft zu setzen.
16. Oktober 1944Im deutsch besetzten Ungarn übernimmt die faschistische Pfeilkreuzlerpartei unter Ferenc Szálasi die Regierung.
1945
1. März 1945Die meisten Rom:nja aus Esztergom, deutsch besetztes Ungarn, werden in das Lager „Csillagerőd“ in Komárom deportiert.
2019
18. Dezember 2019Im Hof der St.-Stephans-Kirche in Esztergom, Ungarn, wird ein Denkmal für die während des Zweiten Weltkrieges deportierten und ermordeten Rom:nja errichtet.