Fremdenpolizei (Belgien)

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Fremdenpolizei (Belgien)
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Die Fremdenpolizei [Police des Étrangers bzw. Vreemdelingenpolitie] war eine spezialisierte Polizeibehörde in Belgien. Der Justizminister hatte 1839 die ihm unterstehende Öffentliche Sicherheit [Sûreté publique/Openbare Veiligheid] mit dem Aufbau eines Polizeiapparats zur Kontrolle von ‚Fremden‘ und zum Ausweisen von ‚unerwünschten Personen‘ beauftragt. Dazu wurden neben Ausländer:innen auch alle Personen, die als Zigeuner galten, gezählt. Alle belgischen Verwaltungseinheiten, darunter Gemeinden, Städte, Militär und Gerichte, waren zur Zuarbeit und Weitergabe von Informationen an die Fremdenpolizei verpflichtet. Der Austausch von Daten fand auch im internationalen Rahmen statt: Unter anderem entsandte die Öffentliche Sicherheit im Jahr 1934 erstmals eine Delegation zur Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Wien.

Infolge des Beginns des Zweiten Weltkrieges übertrug das belgische Parlament weitgehende Befugnisse an die Exekutive und die Fremdenpolizei erhielt in dem Zusammenhang die Handlungsvollmacht über die in Belgien befindlichen ‚Fremden‘. Nach der deutschen Besatzung Belgiens im Mai 1940 wurde die Öffentliche Sicherheit aufgelöst, die Fremdenpolizei blieb jedoch bestehen. Der vorherige Leiter der Öffentlichen Sicherheit, Robert de Foy (1893–1960), wurde zum Leiter der Fremdenpolizei berufen. Die Fremdenpolizei war eine männlich geprägte Behörde. Der Großteil der höheren Beamten waren Männer mit einer juristischen Ausbildung, die lange Zeit dort angestellt waren. Frauen waren ausschließlich als Daktyloskopistinnen beschäftigt. In der zweiten Jahreshälfte 1943 wurden zudem eine größere Zahl junger Männer neu angestellt. Die Behörde erhielt in den Jahren der Besatzung vom deutschen Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich zusätzliche Befugnisse.

Einführung der Sondererfassung

Ende 1941 ergriffen die belgischen Behörden die Initiative und erfassten die von ihnen als ‚Zigeuner‘ betrachteten Personen als Rasse in einem Register. In einem Rundschreiben vom 12. Dezember 1941 ordnete die Fremdenpolizei den Austausch der bisherigen ‚reiswijzer‘ bzw. ‚feuilles de route‘ [‚Fahrtenblätter‘] durch eine ‚Zigeunerkaart‘ bzw. ‚carte de nomades‘ an, was die Gendarmerien zwischen dem 5. und dem 20. Januar 1942 auszuführen hatten. Ab dem 21. Januar 1942 war jede Person über 15 Jahren ohne festen Wohnsitz dazu verpflichtet, eine solche Karte bei sich zu tragen. Dabei handelte es sich um eine Aufenthaltserlaubnis, die alle drei Monate durch die Fremdenpolizei verlängert werden musste. Am 5. jedes Monats hatten sich die Inhaber:innen einer solchen Karte bei der Gendarmerie zu melden. Sie mussten mehrere Tage unter Aufsicht auf die Erneuerung ihrer Karten warten. Bei einer Ablehnung musste die betroffene Person Belgien verlassen. Durch die erkennungsdienstliche Erfassung war es möglich, Personen, die ohne eine solche Karte und unter Alias reisten, dennoch zu identifizieren. Ihnen wurde dann eine neue ‚Zigeunerkaart‘ ausgestellt.

Pläne für eine Internierung

Im Sommer 1943 plante die Fremdenpolizei, alle ‚Zigeuner‘ zu internieren. Neben der Unterbringung in Gefängnissen stand auch ein Lager in Lokeren zur Debatte. Die Fremdenpolizei ging von ca. 260 einzusperrenden Personen aus und hatte für jede der 57 Familien eigene Datenblätter angelegt, auf denen Namen, Geburtsdaten und die Nummer der ‚Zigeunerkaart‘ vermerkt waren. Die detailliert ausgearbeiteten Pläne zur Internierung wurden allerdings nicht umgesetzt, da im Herbst 1943 die Verhaftungen durch die deutschen Besatzer begannen. In einer Aktennotiz wurde dazu festgehalten: „Da die Besatzungsmacht beschlossen hatte, alle Romanichels zu verhaften, stellt sich die Frage nach ihrer Internierung derzeit nicht mehr. Die Angelegenheit wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut geprüft.“1Algemeen Rijksarchief, Ministerie van Justitie, Bestuur Openbare Veiligheid. Vreemdelingenpolitie. Algemene dossiers 2de reeks, 1245: N. 74/C/4/15, Internement des romanichels. Interne Notiz vom 25.11.1943. Original: „L’autorité occupante ayant decide de proceder a l’arrestation de tous les romanichels, la question de leur internement ne se pose plus pour l’instant. Affaire a revoir plus tard.“ Übersetzung ins Deutsche: Laura Stöbener. Die ‚Zigeunerkaarten‘ erwiesen sich dabei als nützliches Instrument, um ihre Inhaber:innen zu lokalisieren. Eine unmittelbare Beteiligung an Verhaftungen wies die Fremdenpolizei von sich. Gemäß dem Protokoll der Fremdenpolizei vom 10. Dezember 1943 waren der Generaldirektor Robert Standaert (1889–1975) und der Direktor der Abteilung für religiöse Angelegenheiten im Justizministerium, Leon Platteau (1905–1974), Ende November 1943 von einem Mitglied der Sicherheitspolizei (Sipo) und einem namentlich nicht genannten deutschen Kriminalrat aufgesucht worden. Die Deutschen hätten die Mitarbeit an den Verhaftungen durch die belgische Gendarmerie und die Fremdenpolizei gefordert. Die Fremdenpolizei habe die Kollaboration verweigert und dabei mit gesetzlichen Hürden argumentiert. In dem Protokoll heißt es dazu: „Antworteten, dass wir zwar möchten, dass alle Nomaden das Königreich verlassen, aber wir können sie zu diesem Zweck nicht festnehmen und der Besatzungsmacht übergeben.“2Algemeen Rijksarchief, Ministerie van Justitie, Dossier relatif aux instructions des autorités allemandes d’occupation concernant l’internement des nomades et les autorisations de visites, 1940–1943. Internes Protokoll vom 10.12.1943. Dok. 6. Original: „Répondu que si nous souhaitons voir tous des nomades quitter de Royaume, encore ne pouvons-nous, dans ce but, les arrêter pour les livrer a l’autorité occupante.“ Übersetzung ins Deutsche: Laura Stöbener.

Fortführung der Erfassung bis 1975

Nach der Befreiung Belgiens im September 1944 wurde die Öffentliche Sicherheit wiedereingesetzt und die Fremdenpolizei fiel erneut unter ihre Weisung. Erst 1952 wurde die Kriegsgesetzgebung beendet. Die Autonomie der Behörde wurde danach nur in geringem Maße eingeschränkt und die erweiterten Befugnisse der Kriegsgesetzgebung überdies gefestigt. Die Fremdenpolizei hielt an ihrer Praxis der ‚Zigeunerkaarten‘ fest: Sie wurden in identischer Form weitergenutzt und erst im Januar 1975 abgeschafft. Diskriminierende Sprache, die Weigerung der Anerkennung der belgischen Staatsbürgerschaft und daraus folgende willkürliche Ausweisungen durch die Fremdenpolizei fanden damit allerdings kein Ende.

Ende August 1977 wurde die Fremdenpolizei in Dienst Vreemdelingenzaken/Office des Étrangers [Dienst Fremdenangelegenheiten] umbenannt. Im Jahr 1994 wurde die Behörde aus der Zuständigkeit des Justizministeriums in diejenige des Innenministeriums überstellt. Trotz dieser Veränderung blieb ihr Aufgabenfeld bestehen: Noch heute müssen sich Ausländer:innen bei Ankunft im Königreich dort anmelden.

Einzelnachweise

  • 1
    Algemeen Rijksarchief, Ministerie van Justitie, Bestuur Openbare Veiligheid. Vreemdelingenpolitie. Algemene dossiers 2de reeks, 1245: N. 74/C/4/15, Internement des romanichels. Interne Notiz vom 25.11.1943. Original: „L’autorité occupante ayant decide de proceder a l’arrestation de tous les romanichels, la question de leur internement ne se pose plus pour l’instant. Affaire a revoir plus tard.“ Übersetzung ins Deutsche: Laura Stöbener.
  • 2
    Algemeen Rijksarchief, Ministerie van Justitie, Dossier relatif aux instructions des autorités allemandes d’occupation concernant l’internement des nomades et les autorisations de visites, 1940–1943. Internes Protokoll vom 10.12.1943. Dok. 6. Original: „Répondu que si nous souhaitons voir tous des nomades quitter de Royaume, encore ne pouvons-nous, dans ce but, les arrêter pour les livrer a l’autorité occupante.“ Übersetzung ins Deutsche: Laura Stöbener.

Zitierweise

Laurence Schram / Laura Stöbener: Fremdenpolizei (Belgien), in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1940
10. Mai 1940Deutschland erweitert den Krieg auf den Westen Europas; die Wehrmacht marschiert in Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden ein.
1942
21. Januar 1942Im deutsch besetzten Belgien werden auf Veranlassung der belgischen Fremdenpolizei Sonderausweise für Sinti:ze und Rom:nja eingeführt. Zur Ausgabe der Sonderausweise dürfen Sinti:ze und Rom:nja in der Zeit vom 5. bis 20. Januar ihren Wohnort nicht verlassen.
1943
9. Dezember 1943Die deutsche Kriminalpolizei im Bereich des Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich erstellt eine Liste mit den Namen von 351 Sinti:ze und Rom:nja, die für eine Deportation vorgesehen sind. Eine Frau, Jeanne Royenne Vados, wird später mit deportiert, ohne auf dieser Liste registriert gewesen zu sein.
1975
15. Januar 1975In Belgien schafft ein königlicher Erlass die ‚Zigeunerkarten‘ ab.