Heeresgruppe Nord

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Heeresgruppe Nord
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 1. Dezember 2021

Der so genannte Nordabschnitt war von 1941 bis 1944 Militärverwaltungsgebiet der Heeresgruppe Nord in der deutsch besetzten Sowjetunion. Er umfasste den Nordwesten Russlands und entsprach in etwa der heutigen Oblast Pskov sowie großen Teilen der heutigen Oblaste Leningrad und Novgorod. Die Heeresgruppe Nord war auch für die 28-monatige Blockade der Stadt Leningrad verantwortlich. Verwaltungstechnisch gliederte sich das Gebiet in die frontunmittelbaren Armeegebiete 583 (18. Armee) und 584 (16. Armee) sowie das rückwärtige Heeresgebiet Nord, das von den Sicherungsdivisionen 207, 281 und 285 kontrolliert wurde. Die sicherheitspolizeiliche „Bearbeitung“ des Nordabschnitts übernahm die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD.

Geographisch bestimmten Wälder, Seen und Sümpfe die Gegend, was den sowjetischen Partisanen günstige Rückzugsmöglichkeiten bot. Dennoch bildete der Nordabschnitt bis ins Jahr 1943 kein bedeutendes Zentrum der Partisanenbewegung. Gravierender war für die Bevölkerung, dass das Gebiet seit jeher zu den wirtschaftlichen Zuschussgebieten der Sowjetunion gehörte, sodass die deutschen Vertreibungen und Abschiebungen aus den frontnahen Gebieten in Verbindung mit der gezielten Hungerpolitik der Besatzer ein massives Flüchtlingsaufkommen mit sich brachten, was die Sicherheitslage stark beeinträchtigte.

Laut Volkszählung von 1926 lebten in der Oblast Leningrad, welche zu dieser Zeit auch große Teile der heutigen Oblaste Pskov und Novgorod umfasste, 3.620 „Zigeuner“. In der letzten Vorkriegsvolkszählung von 1939 waren es, ohne die Stadt Leningrad gerechnet, 4.546 Rom:nja. Nationale Zigeunerkolchosen, wie sie im Zuge der sowjetischen Nationalitätenpolitik in den 1930er Jahren in anderen Teilen der Sowjetunion entstanden waren, entwickelten sich hier nicht, obwohl unter den Rom:nja seit dem 19. Jahrhundert einige Bauernfamilien nachgewiesen werden können.

Zwischen Oktober und November 1941 erließen die Befehlshaber der Heeresgruppe Nord und der Heeresgruppe Mitte gleichlautende Anordnungen über die Behandlung von Rom:nja: „Zigeuner“, die bereits zwei Jahre an ihrem Aufenthaltsort wohnten und als „politisch und kriminell unverdächtig“ einzuschätzen seien, sollten lediglich überwacht werden, während „herumziehende Zigeuner“, die pauschal der Spionage und Partisanenunterstützung verdächtigt wurden, der Sicherheitspolizei [zur Erschießung] zuzuführen seien. Diese Regelung blieb offiziell bis zum Ende der Okkupation in Kraft und wurde mehrfach in Erinnerung gerufen. Die Vorgaben boten den Einheiten der Wehrmacht einen breiten Ermessensspielraum, den sie nur allzu gerne gegen die betroffenen Rom:nja nutzten. Nach derzeitigem Forschungsstand sind allerdings für das Jahr 1941, abgesehen von zwei Einzelerschießungen in Botanok, keine Morde an Rom:nja überliefert.

Gezielte Erschießungen ab 1942

Mit Beginn des Jahres 1942 ging jedoch die Einsatzgruppe A dazu über, Rom:nja unterschiedslos zu ermorden und damit de facto den Juden:Jüdinnen gleichzustellen. Während die Opfer im Falle von Siverskij noch als aufgegriffene „Zigeunerbande“ beschrieben wurden, geht aus zahlreichen anderen Fällen (wie etwa Krivicy, Savinovščina, Oredež, Utorgoš) hervor, dass auch ortsfest lebende Dorf- und Stadtbewohner:innen in die Vernichtungsmaßnahmen einbezogen wurden. In den Meldungen der Einsatzgruppe A, wie zum Beispiel der Außenstelle des Einsatzkommandos 1c in Volosovo, wurde der Begriff „Zigeuner“ zu einer selbsterklärenden Erschießungskategorie, wie dies bereits zuvor im Falle von Juden:Jüdinnen der Fall gewesen war. Diese faktische Angleichung zeigt sich auch bei der im April 1942 durchgeführten Massenerschießung von 101 Rom:nja aus der Stadt Krasnogvadarejsk, die das Teilkommando Meiswinkel zunächst als „Judenaktion“ meldete, dann aber in „Zigeuneraktion“ korrigierte.

Die Vorgehensweise der Sicherheitspolizei war der Wehrmacht zweifellos bekannt und fand nach enger Absprache statt, wie sich aus einer Meldung der Einsatzgruppe A ablesen lässt: „Das Zusammenarbeiten mit den Wehrmachtsdienststellen ist z.T. derartig eng, daß jeweils regelmäßig in den Dienststellen der Kommandos der Einsatzgruppe A Besprechungen über die örtlich interessierenden Fragen mit den Ortskommandanten und sonstigen beteiligten Wehrmachtsdienststellen stattfinden (so z.B. in Sluzk).“1BAB, R 58/219, Bl. 363, Ereignismeldung UdSSR Nr. 150, 2.1.1942. Doch ging die Rolle der Wehrmacht über die bloße Billigung hinaus. Ab dem Frühjahr 1942 sind mehrere Fälle bekannt, in denen Wehrmachtdienststellen eigens Massenmorde an Rom:nja anordneten (Feldkommandanturen, Ortskommandanturen) und verübten (Feldgendarmerie, Geheime Feldpolizei und einheimische Hilfswillige). Am weitesten ging die Feldkommandantur in Ostrov, die im Mai 1942 den Befehl herausgab, „Zigeuner stets wie Partisanen zu behandeln“, woraus die Massaker in Novoržev und Puškinskie Gory resultierten. Auf Weisung der 281. Sicherungsdivision musste die Feldkommandantur ihren Befehl später wieder aufheben und zu den bestehenden Regelungen zurückkehren. Letztlich ging es bei diesem bürokratischen Akt jedoch nicht darum, die Morde an Rom:nja als solche in Frage zu stellen, sondern um die Berücksichtigung der alleinigen Kompetenz der Sicherheitspolizei, „umherziehende Zigeuner“ zu erschießen.

Die vollständige Erfassung ortsfremder Rom:nja war nur unter Einbindung von lokalen Starosten beziehungsweise Dorfältesten, die auch für die Registrierung der ortsansässigen Rom:nja ein entscheidender Faktor waren, vorstellbar. In einer in russischer Sprache verfassten Anordnung der Landwirtschaftsverwaltung des Rayons Sol’cy an den Ältesten der Landgemeinde Klevicy vom Juli 1942 hieß es dazu: „Wir teilen Ihnen mit, dass Sie, wenn auf dem Gebiet Ihrer Landgemeinde nomadisierende Zigeuner angetroffen werden, verpflichtet sind, die Pferde zu beschlagnahmen und an Dorfbewohner, die Pferde brauchen, zu übergeben. Die Zigeuner sind zwecks ihrer Heranführung an Arbeit in die nächstgelegene Kommandantur zu schicken.“2Staatliches Historisches Archiv der Oblast Novgorod (Gosudarstvennyj istoričeskij archiv Novgorodskoj oblasti – GIANO), f. R-2113s, op. 1, d. 6, l. 13, Landwirtschaftsverwaltung des Rayons Sol’cy an den Ältesten der Landgemeinde Klevicy, 21.7.1942. Was auf die Rom:nja in der Kommandantur tatsächlich zugekommen wäre, nämlich die Überstellung an die Sicherheitspolizei zur „Sonderbehandlung“, dürfte im Juli 1942 bereits ein offenes Geheimnis gewesen sein. Zugleich war die Aussicht, Pferde für die Dorfgemeinde beschlagnahmen zu können, in Anbetracht der angespannten Versorgungs- und Verpflegungslage ein verlockendes Angebot. Letztlich hing es vom Willen des Starosten ab, ob er Rom:nja meldete oder nicht.

Rassenzugehörigkeit“ als Mordmotiv

Während die Unterscheidung nach Sesshaftigkeit für die Wehrmacht offiziell das entscheidende Kriterium für die Behandlung der Rom:nja blieb und jede Erschießung einer Legitimierung durch einen vermeintlich bestätigten Partisanenverdacht bedurfte, war für die Sicherheitspolizei weiterhin die bloße „Rassenzugehörigkeit“ das leitende Mordmotiv. In einer Anordnung vom 3. November 1942 untersagte der Kommandeur des Einsatzkommandos 1c, SS-Obersturmbannführer Karl Tschierschky (1906-1974), den nachgeordneten Teilkommandoführern und Außenstellenleitern „alle Sonderbehandlungen ohne meine ausdrückliche Genehmigung“. Jeder Einzelfall sollte ihm fortan mit schriftlicher Begründung zur Entscheidung vorgelegt werden. Lediglich zwei Gruppen wurden von dieser Regelung ausgenommen: „Für Juden und Zigeuner, bei denen die Rassenzugehörigkeit einwandfrei feststeht, übertrage ich die Genehmigung bis auf weiteres den Teilkommandoführern, jedoch ist auch hier eine kurze Meldung über Ort und Zeit der Sonderbehandlung und eine namentliche Liste der betroffenen Personen unter Angabe der vollen Personalien einzureichen.“3BAL, B 162/1646 (AR-Z 91/71), Bl. 5/3, Anordnung des Einsatzkommandos 1c der Einsatzgruppe A (gez. Tschierschky, SS-Obersturmbannführer und Kommandeur) an die Teilkommandos und Außenstellen sowie die Abteilungen im Stab, 3.11.1942. Entsprechend setzten sich die Morde an Rom:nja, wo immer sie ausfindig gemacht wurden (Loknja, Oredež, Loboži), ungemindert fort.

Doch auch die Heeresgruppe Nord verübte noch bis ins Jahr 1943 Verbrechen an der Roma-Bevölkerung, wie etwa in Savino, insbesondere im Zuge der großangelegten „Säuberungen“, mit denen sie auf die erstarkende Partisanenbewegung reagierte, wie im Falle von Strugi Krasnye.

Einzelnachweise

  • 1
    BAB, R 58/219, Bl. 363, Ereignismeldung UdSSR Nr. 150, 2.1.1942.
  • 2
    Staatliches Historisches Archiv der Oblast Novgorod (Gosudarstvennyj istoričeskij archiv Novgorodskoj oblasti – GIANO), f. R-2113s, op. 1, d. 6, l. 13, Landwirtschaftsverwaltung des Rayons Sol’cy an den Ältesten der Landgemeinde Klevicy, 21.7.1942.
  • 3
    BAL, B 162/1646 (AR-Z 91/71), Bl. 5/3, Anordnung des Einsatzkommandos 1c der Einsatzgruppe A (gez. Tschierschky, SS-Obersturmbannführer und Kommandeur) an die Teilkommandos und Außenstellen sowie die Abteilungen im Stab, 3.11.1942.

Zitierweise

Martin Holler: Heeresgruppe Nord, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 1. Dezember 2021. -