Kalevi-Liiva, gelegen ca. 33 km östlich von Tallinn in Estland, war unter deutscher Besatzung eine Massenhinrichtungsstätte für Juden:Jüdinnen und Rom:nja.
Bis 1940 nutzte die estnische Armee die Dünen von Kalevi-Liiva als Artillerieschießplatz. Am 30. August 1942 informierte der damalige Leiter der Politischen Abteilung der deutschen Sicherheitspolizei (Sipo) in Estland, Heinrich Bergmann (1902–1980), seinen Amtskollegen Ain-Ervin Mere (1903–1969) von der estnischen Sicherheitspolizei über die Entscheidung, zwei Transporte mit Juden:Jüdinnen aus dem Deutschen Reich nach Estland umzuleiten. Im Gespräch wurde Kalevi-Liiva als möglicher Ort für die Massentötung der ankommenden deutschen und tschechischen Juden:Jüdinnen genannt. In den ersten Septembertagen musste eine Gruppe von Häftlingen aus dem Tallinner Zentralgefängnis in Kalevi-Liiva ein Massengrab ausheben. An zwei Tagen, dem 5. September und dem 1. Oktober 1942, ermordete ein Erschießungskommando der estnischen Sicherheitspolizei 1 754 Juden:Jüdinnen in Kalevi-Liiva.
Morde an Rom:nja
In der Folgezeit diente Kalevi-Liiva als Ort der Massentötung estnischer Rom:nja. Bislang liegen Informationen über fünf Erschießungen von Rom:nja vor, die mit Kalevi-Liiva in Verbindung gebracht werden.
Zweiundvierzig jugendliche Rom:nja, die in dem Erziehungslager für Jugendliche in Laitse inhaftiert waren, verloren zwischen dem 15. Oktober 1942 und März 1943 in Kalevi-Liiva ihr Leben. Einzelheiten zu diesem Massenmord stammen aus den Akten eines sowjetischen Kriegsverbrecherprozesses 1960/61. Dem Kontext nach muss dieser Massenmord etwa zur gleichen Zeit stattgefunden haben wie die erste größere Massenexekution von Rom:nja in Estland am 27. Oktober 1942 in Harku.
Wahrscheinlich war Kalevi-Liiva auch der Ort, an dem diejenigen Rom:nja ermordet wurden, die zwischen dem 8. und 14. Februar 1943 aus ganz Estland in das Zentralgefängnis von Tallinn gebracht wurden. Am 10. Februar tötete die deutsche Sipo 110 der inhaftierten Rom:nja und am 17. Februar weitere 337. Im offiziellen Sprachgebrauch wurden diese Personen „aus dem Arbeitserziehungslager Tallinn in die Obhut der deutschen Sicherheitspolizei überführt“. Das bedeutete nur eines – Massenmord.
Mindestens sechs Angeklagte in sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen erwähnen eine weitere Massentötung von Rom:nja in Kalevi-Liiva, die Anfang März 1943 stattgefunden haben soll. Anhand dieses Beweismaterials und der verfügbaren Polizeiakten konnten 36 Rom:nja (22 Frauen, vier ältere Menschen und zehn kleine Kinder) identifiziert werden, die damals ermordet wurden. Zu den grausamen Details, die ans Licht gekommen sind, gehören die Umstände des Todes einer älteren Frau, die die Letzte war, die an diesem Tag ihr Leben verlor. Sie hatte keine Beine mehr; das Opfer hatte den Wachleuten sein letztes Geld und einen goldenen Ring für das ‚Privileg‘ gegeben, zum Massengrab getragen und nicht geschleift zu werden. Höchstwahrscheinlich handelte es sich bei dem Opfer entweder um die 70-jährige Anastasia Tsubulski oder die 67-jährige Maria Ivanov, beide aus der Provinz Petseri.
Noch ein weiteres Mal wurden Rom:nja in Kalevi-Liiva erschossen: Im Frühjahr 1944 erhielt der Direktor der Jugendstrafanstalt Laitse von der deutschen Sipo den Befehl, die verbliebenen romani Kinder auszuliefern. Angeblich wurde ihm mitgeteilt, dass die Kinder ihre Eltern treffen und innerhalb einer Woche zurückkehren würden. Wie er später erfuhr, wurden sie jedoch in Kalevi-Liiva ermordet.
Vertuschung und Prozess
Im Frühjahr 1944 begann das Sonderkommando 1005 unter der Leitung von Paul Blobel (1894–1951), die Spuren der Massenmorde in Kalevi-Liiva durch das Verbrennen der Leichen zu beseitigen. Im März 1961 wurde vier Angeklagten, die an den Verbrechen in Kalevi-Liiva und im Tallinner Zentralgefängnis beteiligt waren, der Prozess gemacht, ein Ereignis, das von den sowjetischen Behörden weithin publik gemacht wurde.
Denkmal
Am 6. Mai 2007 errichtete die Romani Association of North Estonia ein Denkmal an der ehemaligen Massenhinrichtungsstätte in Kalevi-Liiva. Dies ist das erste und einzige Denkmal, das an die ermordeten Rom:nja Estlands erinnert.