Väinö Valdemar Lindberg

Logo
Suche
Väinö Valdemar Lindberg
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Väinö Valdemar Lindberg war ein finnischer Rom, Pastor freikirchlicher Gemeinden, Aktivist, Lokalpolitiker, Pferdezüchter, Musiker und Memoirenautor. Er wurde am 22. März 1938 im finnischen Hämeenlinna in die Familie des Pferdehändlers Robert Edvard Lindberg (1907–1982), genannt Roope, geboren. Seine Mutter Saara Elisabeth „Anni“ (1917–1997), geborene Asp, trug mit dem Verkauf von Handarbeiten zum Unterhalt der Familie bei. Zu dieser gehörten noch die Schwester Saga Miranda (geb. 1940) sowie die Brüder Otto Kristan (1944–2004), Raimo Allan (geb. 1946) und Henry Orvo Lindberg (geb. 1948). In seinen 2012 erschienen Memoiren beschrieb Väinö Lindberg, wie die Familie auf Märkten Handel trieb und dabei immer wieder andere Roma, die als Händler tätig waren, traf.

Dies fand jedoch im Sommer 1944 ein jähes Ende, als Väinös Vater Roope Lindberg und seine Onkel Otto (1900–1947) und Oskari Lindberg (1902–1985) bei einer Polizeirazzia auf dem Markt von Tampere festgenommen wurden. Die Festnahmen basierten auf Gesetzen, mit denen die finnische Regierung für die Dauer des Krieges die Bewegungsfreiheit bestimmter Personengruppen wie vermeintlichen „Vagabunden“ (‚Irtolaislaki‘) einschränkte und eine allgemeine Arbeitspflicht (‚Työvelvollisuuslaki‘) einführte. Diese Gesetzgebung fand im Verlauf des Krieges noch einmal eine Verschärfung. Ein am 1. Dezember 1943 in Kraft getretenes Gesetz ermöglichte die einjährige Einweisung von Personen in gesonderte Arbeitslager (Erikoistyöleirilaki), die aus Sicht des Gesetzgebers nicht gewillt waren, eine geregelte Arbeitstätigkeit aufzunehmen oder einen Lebensstil hatten, der nicht der allgemeinen Ordnungsvorstellung entsprach. In der Gesetzesvorlage wurden Zigeuner (mustalaiset; schwedisch zigenare) ausdrücklich als eine von drei Zielgruppen der Maßnahmen genannt – was die Festnahme der Lindbergs, die sehr wohl mit ihren Berufen ihren Lebensunterhalt bestritten, erklärt.

Nachdem Anni Lindberg von der Verhaftung ihres Ehemanns Kenntnis erhalten hatte, begab sie sich umgehend mit den Söhnen Väinö und Otto nach Tampere. Väinö Lindberg blieb eindrücklich in Erinnerung, wie seine Mutter am Abend ihre Schürze auf dem schmalen Boden der örtlichen Polizeiwache ausbreitete. Auf dieser Schürze verbrachten alle drei die kommende Nacht.

Roope Lindberg wurde nach seiner Festnahme mit seinen Brüdern in das „Sonderlager 6“, das Arbeitslager bei Kihniö nördlich von Tampere, eingewiesen. Das Lager war mit Stacheldrahtzaun umgeben und stand unter Bewachung. Anni Lindberg folgte ihrem Mann auch nach Kihniö und kampierte mit Väinö und Otto außerhalb des Lagerzaunes, wo sie auf weitere Familien, ebenfalls Rom:nja, trafen. Väinö Lindberg erinnerte sich bis in das späte Erwachsenenalter daran, dass er in dieser Zeit unter starkem Hunger litt. Einmal habe er mit in das Lager gedurft, wo sein Vater ihm etwas von seinem Essen abgeben wollte, was aber die Aufseher verbaten und den Jungen verscheuchten. Der Vater solle, so ein Aufseher, das Essen selbst zu sich nehmen, damit er arbeitsfähig bleibe. Väinö Lindberg wusste von der Solidarität unter jenen Familien zu berichten, die vor dem Stachelzahndraht ausharrten, weil ihre Angehörigen, ebenfalls Roma, im Lager waren. Eine der Familien habe eines ihrer beiden Pferde verkauft, um mit dem Erlös Brot und andere Lebensmittel zu beschaffen, die dann an die anderen Familien verteilt worden seien. Auch Verwandte von finnischen Roma, die als Soldaten an der Front dienten, befanden sich in dem Arbeitslager. Sein Cousin Valde Lindeman (1923–1993) sei, so Väinö Lindberg, während eines Genesungsurlaubes nach Kihniö gereist, um – getrennt durch den Lagerzaun – Familienmitglieder zu treffen.

Als sich eine passende Gelegenheit bot, flohen Roope Lindberg und seine beiden Brüder aus dem Lager und kehrten zu ihren Familien zurück. Die Flucht zog keine Konsequenzen nach sich, was mit der damaligen chronischen Unterbesetzung der finnischen Polizeikräfte und der politischen Neuorientierung Finnlands nach dem „Waffenstillstand von Moskau“ mit der Sowjetunion am 19. September 1944, einhergehend mit der schrittweisen Außerkraftsetzung der kriegsbedingten Sondergesetzgebungen, zu tun gehabt haben dürfte.

Väinö Lindberg besuchte nach dem Krieg die Volksschule in Loviisa und von 1954 bis 1957 das Theologische Seminar der Freikirche Finnlands (Suomen Vappakirko) in Hanko. In seinen Jugendjahren ging er dem Boxsport nach und wurde 1960 finnischer Meister im Schwergewicht. Lindberg gründete eine Familie und war über 20 Jahre bei der finnischen Zollbehörde beschäftigt. Anschließend ging er für die Christlich Demokratische Partei Finnlands (Suomen Kristillisdemokraatit) in Turku in die Lokalpolitik, wo er sich für die Belange finnischer Rom:nja einsetzte. Von 1997 bis 2000 fungierte er außerdem als Pastor freikirchlicher Gemeinden in Heinola, Teuva und Porvoo. Für sein langjähriges politisches Engagement als Aktivist wurde ihm im Jahr 2002 von der finnischen Präsidentin Tarja Halonen (geb. 1943) der Ehrentitel eines Sozialrates („Sosiaalineuvos“) verliehen.

Das „Sonderarbeitslager 6“ in Kihniö hinterließ indes bei Väinö Lindberg eine tiefe Erfahrung von Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Im Rahmen eines 2009 veranstalteten Seminars über finnische Minoritätsgruppen während des Krieges (Minoriteter i Finlands krig) der finnlandschwedischen Denkfabrik Magma, dem er als 2. Vorsitzender des Nationalen Rates für Angelegenheiten der Rom:nja (Romaniasian neuvottelukunta) beiwohnte, thematisierte er erstmals öffentlich die Einweisungen von Rom:nja in Arbeitslager. Durch ein 2010 im finnischen Wochenjournal „Kuvalehti“ veröffentlichtes Interview mit ihm wurde diese Thematik auch einem breiten Publikum bekannt. Väinö Lindberg starb 14. März 2022 in Turku.

Zitierweise

Malte Gasche: Väinö Valdemar Lindberg, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1937
1. Januar 1937In Finnland tritt ein Gesetz (‚Irtolaislaki‘) in Kraft, um arbeitsfähige Personen, die eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen“, zu kontrollieren und zu regulieren.
1939
16. Juni 1939In Finnland tritt ein Gesetz zur Arbeitspflicht in Kriegszeiten (‚Työvelvollisuuslaki‘) in Kraft.
30. November 1939Beginn des finnisch-sowjetischen „Winterkriegs“ mit dem Angriff der Sowjetunion auf Finnland. Die Kampfhandlungen enden am 13. März 1940.
1940
12. März 1940Der „Frieden von Moskau“ am 12. März 1940 beendet den „Winterkrieg“ zwischen Finnland und der Sowjetunion. Unter den 450 000 karelischen Flüchtlingen befinden sich etwa 1 500 und 2 000 finnische Rom:nja.
26. Juni 1940Der sogenannte „Fortsetzungskrieg“ („jatkosoda“) umfasst erneute Kampfhandlungen zwischen Finnland und der Sowjetunion und dauert bis zum 19. September 1944. Die militärischen Aktivitäten Finnlands werden eng mit dem nationalsozialistischen Angriffskrieg auf die Sowjetunion koordiniert.
1943
1. Dezember 1943In Finnland tritt ein Gesetz in Kraft (‚Erikoistyöleirilaki‘), das die Einweisung in gesonderte Arbeitslager ermöglicht, wenn Personen aus Sicht der finnischen Gesetzgeber nicht gewillt sind, einer Arbeit nachzugehen oder einen nicht erwünschten Lebensstil haben.
1944
19. September 1944Der „Waffenstillstand von Moskau“ zwischen Finnland und der Sowjetunion beendet die finnisch-sowjetischen Kampfhandlungen.