Das im annektierten Elsass (Frankreich) errichtete Konzentrationslager Natzweiler war eine Verfolgungsstätte für mindestens 501 Sinti und Roma unter den 52 000 Internierten, die dieses Lager und seine Außenlager zwischen 1941 und 1944 durchliefen. Die Häftlinge mussten Zwangsarbeit leisten, erfuhren systematische Gewalt durch das Wachpersonal und es wurden – vor allem an den Sinti und Roma – medizinische Experimente durchgeführt. Das Lager, das von den deutschen Behörden wegen seiner Nähe zur elsässischen Gemeinde Natzwiller offiziell ‚KZ Natzweiler‘ genannt wurde, wird in der französischen Nachkriegsgeschichte meist als ‚Le Struthof‘ bezeichnet, da es in der Nähe des Weilers Struthof eingerichtet worden war. Heute wird diese ehemalige Verfolgungsstätte meistens als Konzentrationslager Natzweiler-Struthof bezeichnet.
Einrichtung des Lagers
Im September 1940 entdeckten Ingenieure der SS (Schutzstaffel) bei geologischen Untersuchungen eine große Granitader an einem Ort namens Le Struthof in der Gemeinde Natzweiler [heute Natzwiller, Frankreich]. Der Struthof liegt auf einer Höhe von 750 Metern über dem Bruche-Tal, in dem einige Monate zuvor das Lager Schirmeck-Vorbruck errichtet worden war. Im April 1941 erließ Heinrich Himmler (1900–1945) eine genaue Anweisung, an diesem Ort ein Konzentrationslager zu errichten, um einen Steinbruch zu betreiben. Er ernannte SS-Hauptsturmführer Hans Hüttig (1894–1980) zum ersten Lagerkommandanten und SS-Obersturmführer Josef Kramer (1906–1945), der in Dachau ausgebildet worden war, zum Schutzhaftlagerführer.
Natzweiler wurde offiziell am 1. Mai 1941 für männliche Häftlinge eingerichtet. Am 21. und 23. Mai 1941 trafen am Bahnhof Rothau die ersten Transporte mit 300 Häftlingen aus Sachsenhausen ein, die direkt nach Natzweiler geschickt wurden, um die Infrastruktur des Lagers aufzubauen. In den folgenden Monaten wurde das Gelände nach und nach mit einem elektrifizierten Stacheldrahtzaun und mehreren Baracken und Blocks ausgestattet, um einen effizienten Betrieb des nach dem Vorbild der Konzentrationslager in Deutschland konzipierten Lagers zu ermöglichen. Am 26. Oktober 1941 wurden die ersten zehn Sinti und Roma, die als ‚Zigeuner‘ bezeichnet wurden, in einem aus insgesamt 150 Personen bestehenden Transport aus Buchenwald nach Natzweiler gebracht. Sie waren die ersten Häftlinge, die im Lager nach rassischen Kategorien inhaftiert wurden. Auch als der Granitsteinbruch bereits in Betrieb war, blieb die Zahl der Zwangsarbeiter im Lager Natzweiler begrenzt: Ende 1942 befanden sich 921 Häftlinge – vor allem ‚politische‘ Häftlinge aus dem Reich und Osteuropa – vor Ort, während im Vergleich dazu in Buchenwald 82 000 Häftlinge untergebracht waren.
1943 erreichte das Lager Natzweiler-Struthof mit zahlreichen Außenlagern auf beiden Seiten des Rheins seine größte Ausdehnung – insgesamt gab es mehr als 50 Standorte während des Bestehens des Lagers – und einer regelmäßigen Zufuhr von Häftlingen unterschiedlicher Herkunft aus ganz Europa. Die Zahl der registrierten Häftlinge hatte sich seit 1942 verdreifacht: Ende 1943 waren 2 428 Häftlinge auf das Hauptlager und das Netz von Außenkommandos und Außenlagern verteilt.
Medizinische Verbrechen
Vor allem im Jahr 1943 wurde Natzweiler-Struthof zum Schauplatz medizinischer Verbrechen durch NS-Ärzte, die gezielt Sinti und Roma zur Erforschung der Wirkung von Giftgas und zur Entwicklung von Impfstoffen gegen Fleckfieber missbrauchten. Dazu gehörten vor allem Eugen Haagen (1898–1972), Otto Bickenbach (1901–1971) und August Hirt (1898–1945), die an der 1941 von den Deutschen gegründeten Reichsuniversität in Straßburg tätig waren. Mit Unterstützung des Ahnenerbes der SS führte Bickenbach zwischen Juni und Juli 1943 in einer im April in der Nähe des Lagers errichteten Gaskammer die ersten Versuche mit dem Giftgas Phosgen an zehn Natzweiler Häftlingen durch. Diese Gaskammer diente nicht dem Massenmord an Häftlingen, sondern war Experimenten und rassistischen wissenschaftlichen Projekten vorbehalten. Im August 1943 wurden 86 jüdische Häftlinge in dieser Gaskammer für die Skelettsammlung von August Hirt getötet.
Für das erste Phosgen-Experiment scheinen keine Sinti oder Roma ausgewählt worden zu sein. Doch im August 1943 schrieb Haagen an das Ahnenerbe und bat um ‚Menschenmaterial‘ für seine Typhusforschung. 100 Sinti und Roma aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden im November 1943 zu diesem Zweck nach Natzweiler geschickt. Aufgrund der Bedingungen auf dem Transport kamen 18 von ihnen während der Überstellung ums Leben, und nur 20 wurden als geeignet für die Erprobung des experimentellen Fleckfieberimpfstoffs ausgewählt. Nachdem zehn weitere Häftlinge in Natzweiler gestorben waren, wurden die 72 noch lebenden Männer am 24. Dezember 1943 nach Auschwitz zurückgeschickt; während des Transports gab es 28 weitere Todesfälle. Auf Antrag von Haagen wurde eine zweite Gruppe von 89 Sinti und Roma im Alter zwischen 12 und 37 Jahren von Auschwitz nach Natzweiler verlegt, wo sie am 12. Dezember 1943 eintrafen.1Steegman, Struthof, 76–77; Bonah et al., La faculté de médecine de la Reichsuniversität Straßburg, 358–359. Im Januar 1944 wurden sie in zwei Gruppen aufgeteilt – die eine immunisiert, die andere nicht – und einer Testinfektion ausgesetzt. Laut Nachkriegsberichten ritzten die Ärzte ihre Arme auf, um ihr Blut mit Fleckfieberbakterien zu vermischen und ihre körperlichen Reaktionen zu beobachten. Im Mai 1944 fand ein zweites Fleckfieberexperiment mit Sinti und Roma statt. Diejenigen, die die Torturen überlebten, wurden später in Außenlager – vor allem nach Neckarelz – gebracht und leisteten dort Zwangsarbeit. Von Juni bis August 1944 nahmen Hirt und Bickenbach ihre Versuche mit Phosgen wieder auf und nutzten erneut die Gaskammer von Natzweiler-Struthof, um ihr neues Verfahren zu testen. Dieses Giftgas-Experiment konzentrierte sich ausschließlich auf eine Gruppe von 16 Sinti und Roma. Einige von ihnen waren zuvor als Probanden in Haagens Fleckfieberforschung eingesetzt worden. Zum ersten Mal wurden tödliche Dosen von Phosgen verabreicht, die bei vier von ihnen direkt zum Tode führten.2Die Namen dieser Opfer werden am Ende des Beitrags genannt. Ein weiterer Sinto, Albert Reinhardt (1921–1945), starb nach der Befreiung. Vgl. ebd., 332–333.
Evakuierung
Im Herbst 1944 befanden sich etwa 7 000 Häftlinge im Hauptlager und mehr als 20 000 in den Außenlagern. Anfang September 1944 ordnete die Inspektion der Konzentrationslager die Evakuierung des KZ Natzweiler und seiner Außenlager aufgrund des Vormarsches der alliierten Armeen an. Die Häftlinge wurden nach Dachau verlegt, von wo aus sie in verschiedene Außenlager im Südwesten Deutschlands geschickt wurden. Die Lagerverwaltung von Natzweiler arbeitete auch nach der Evakuierung des Hauptlagers weiter und verteilte neue Häftlinge auf zahlreiche rechtsrheinische Außenlager: Im Oktober 1944 wurden 231 Sinti und Roma direkt von Dachau nach Schömberg – einem Außenlager von Natzweiler – verlegt, um in einer Erdölförderanlage zu arbeiten. Im April 1945 wurden die letzten Häftlinge nach Dachau geschickt und das KZ Natzweiler aufgelöst.
Anzahl der Opfer unter den Häftlingen der Sinti und Roma
Während die Identität der inhaftierten Sinti und Roma lange Zeit unbekannt war, haben jüngste Forschungen von Historiker:innen der Universität Straßburg und Forscher:innen des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma es ermöglicht, die Namen der Opfer zu benennen und ihre Biografien zu rekonstruieren. Nach der bahnbrechenden wissenschaftlichen Arbeit von Robert Steegmann (geb. 1953) veröffentlichte die Gedenkstätte Natzweiler eine Online-Datenbank, die den 52 000 Häftlingen gewidmet ist und Informationen über ihre Schicksale enthält. Laut einer 2006 von Anita Awosusi (geb. 1956) und Andreas Pflock (geb. 1968) veröffentlichten Liste durchliefen zwischen 1941 und 1944 501 Sinti und Roma – vor allem aus Ungarn und Deutschland – Natzweiler oder seine Außenlager. Mindestens 133 von ihnen starben an den Folgen der entsetzlichen Lebensbedingungen, der Zwangsarbeit, der Gewalt und der Misshandlungen oder wurden Opfer von medizinischen Verbrechen. Insgesamt starben zwischen 1941 und 1945 mehr als ein Viertel der Sinti und Roma als Häftlinge.
Nachwirkungen
1954 wurden die beiden deutschen Ärzte Haagen und Bickenbach, die medizinische Experimente an Lagerinsassen durchgeführt hatten, von einem Gericht in Lyon zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber 1955 begnadigt. Während der Gerichtsverhandlungen wurden die an Roma und Sinti begangenen medizinischen Verbrechen aufgedeckt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde auf dem ehemaligen Gelände des Lagers Natzweiler-Struthof im Rahmen einer staatlichen Initiative eine „Gedenkstätte für die Helden und Märtyrer der Deportation” errichtet, die 1960 eingeweiht wurde. An der im Inneren des ehemaligen Lagers errichteten Gedenkmauer erinnert eine Gedenktafel an die Opfer unter den ‚Zigeunern‘. Im Jahr 2005 wurde das Europäische Zentrum der deportierten Widerstandskämpfer als Museum und Dokumentationsstätte eröffnet. Aber erst 2015 wurde die Geschichte der Opfergruppe der Sinti und Roma mit der Enthüllung einer Gedenktafel in der Nähe der Gaskammer von Natzweiler-Struthof in Erinnerung an die Opfer der Phosgen-Experimente in den Mittelpunkt gerückt. Die Namen der vier Sinti und Roma, die diesen Misshandlungen zum Opfer fielen, sind auf der Tafel eingraviert: Adalbert Eckstein (1924–1944), Andreas Hodosy (1911–1944), Zirko Rebstock (1907–1944) und Josef Reinhardt (1913–1944).