Abraham (Avrom) Sutzkever, geboren am 15. Juli 1913 in Smorgon (Belarussisch: Smarhon) im heutigen Belarus, war ein jiddischer Dichter, Partisan und Zeuge der nationalsozialistischen Verbrechen gegen Juden:Jüdinnen. Seine Schriften sind ein frühes Zeugnis der Verfolgung und Ermordung polnischer und litauischer Rom:nja und des Kampfes um eine Sprache zur Beschreibung ihres Schicksals. Sutzkever starb am 20. Januar 2010 in Tel Aviv, Israel.
Frühe Poesie
Sutzkever begann schon früh mit dem Schreiben von Gedichten, zunächst auf Hebräisch und dann auf Jiddisch, was ihn in den Kreis einer Gruppe avantgardistischer jiddischer Schriftsteller namens Yung Vilne [Junges Vilnius] führte. Es existieren zwar keine Aufzeichnungen darüber, wann Sutzkever zum ersten Mal über Rom:nja nachdachte, aber es ist bekannt, dass einer seiner engsten Freunde von Yung Vilne, der Dichter Shimshn (Shimshon) Kahan (1905–1941), ein besonderes Interesse an Rom:nja entwickelt hatte. Kahan übersetzte Romani Lieder ins Jiddische und veröffentlichte 1932 ein Gedicht, in dem er eine „Zigeunerrepublik“ forderte. Abgesehen von einem romantisierenden Kurzgedicht, dem „Zigeunerherbst“ (1936), hat Sutzkever selbst vor dem Zweiten Weltkrieg kein großes Interesse an diesem Thema erkennen lassen.
Verfolgung, Widerstand und Flucht
Sutzkevers Beschäftigung mit Romani Themen änderte sich durch seine Erfahrungen während des Krieges. Er war bereits ein angesehener jiddischer Dichter, als Deutschland in die Sowjetunion einmarschierte. Von Juni 1941 bis September 1943 lebte Sutzkever im Getto von Wilna (Litauisch: Vilnius), wo er an den Widerstandsbemühungen und geheimen Aktivitäten zur Rettung schriftlicher jüdischer Kulturgüter (der so genannten Papierbrigade) teilnahm. Er verlor seinen kleinen Sohn im Getto und wurde zu einem der prominentesten Zeugen, die über die antijüdischen Gräueltaten im Getto berichteten. Vor der Liquidierung des Gettos floh er mit seiner Frau in die Wälder, schloss sich dort kommunistischen Partisan:innen an und wurde später in einer militärischen Spezialoperation aus dem von den Nazis kontrollierten Gebiet nach Moskau ausgeflogen.
Schriften über die Verfolgung und Ermordung der Rom:nja
Schon bald wurde Sutzkever von der sowjetischen Anklagevertretung als eines von nur drei jüdischen Opfern, die vor dem Internationalen Militärtribunal aussagten, als Zeuge zum Nürnberger Prozess geladen.
Eine der wenigen Quellen, die von direkten Begegnungen mit Rom:nja während des Zweiten Weltkrieges zeugen, findet sich in einem Prosabuch über das Schicksal des Wilnaer Gettos, das er 1946 auf Jiddisch und Russisch veröffentlichte.1Sutzkever, From the Vilna Ghetto to Nuremberg, 31–32. Sutzkever beschreibt, wie er zu Beginn der Besatzungszeit auf eine Gruppe von Rom:nja trifft, als ihn einer von ihnen plötzlich auf Jiddisch anspricht. Zunächst verwechselt er den Mann mit dem Bruder von Maria Kwiek (Kviek), einer ihm bekannten Romnja und Sängerin, doch bald erfährt er, dass es sich um einen jüdischen Schulfreund, Khayim (Chajm) Gordon, handelt, der sich unter den reisenden Rom:nja versteckt hatte. Nach eigenen Angaben hatte Gordon eine Massenerschießung überlebt und sich einer Gruppe von Rom:nja anschließen können, die gezwungen worden war, die jüdischen Toten zu begraben.
An anderen Stellen seiner Memoiren erwähnt er Augenzeugenberichte von jüdischen Überlebenden, die von der Ermordung von Rom:nja in Ponar (litauisch: Paneriai) berichten.2Ebd., 74. Einer der Juden, die gezwungen worden waren, an der Ausgrabung der Opfer an diesem Ort teilzunehmen (siehe Aktion 1005), sagte aus, dass er Zeuge der Ermordung von 15 Rom:nja war.3Ibid., 208, übersetzt das jiddische Original falsch mit 50 (statt 15). Vgl. Abraham Sutzkever, Fun Ṿilner geṭo (Moskow, Der Emes, 2009), 240; Abraham Sutzkever, Ṿilner Geṭo, 1941–1944 (Paris: Farband fun di Ṿilner in Franḳraykh, 1946), 220. Ein anderer erzählte, wie Martin Weiss (1903–1984), ein SS-Offizier, der unter anderem für die litauischen Erschießungskommandos in Ponar zuständig war, eine Gruppe von Rom:nja mit ihren Pferden und Wagen in einem Wald überfiel, gefangen nahm und sie hinrichten ließ.4Sutzkever, From the Vilna Ghetto to Nuremberg, 78.
Sutzkever verfasste später keine Prosawerke über das Getto und griff nur selten auf seine Memoiren zurück, die er unter schwierigen Verhältnissen in der stalinistischen Sowjetunion geschrieben hatte. Stattdessen nutzte er die Sprache der Poesie, um die Ereignisse, die Tragödie und die Emotionen von Verfolgung und Massenmord zu vermitteln. Sutzkevers erste Gedichte, die sich mit den Erfahrungen der Rom:nja befassen, erschienen in einem Zyklus, den er bereits während des Krieges begonnen hatte. In „Epitaphe“, die er zwischen 1943 und 1946 in Wilna, Moskau und Paris schrieb, spricht jedes „Epitaph“ aus der Perspektive eines Opfers des Nationalsozialismus. Epitaph 13 ist die Stimme eines „Zigeuners“, der auf seine Hinrichtung wartet, weil er einen Deutschen erstochen hat.
Ein zweites wegweisendes Gedicht über den Völkermord an den Rom:nja mit dem Titel „Encamped Gypsies of Lithuania and Poland“ folgte bald darauf.5Sutzkever, „Taboren Zigeiner“. In Sutzkever, Lider fun yam ha-moves, 273. Übersetzt als ‘Encamped Gypsies’ in Joskowicz, Rain of Ash, 1. Sein Gedicht ist ein Klagelied über einen Völkermord, der nicht nur parallel, sondern in unmittelbarer Nähe zu dem an den Juden:Jüdinnen stattfand. In einer Zeile spricht er von einem „Ascheregen über Mutter Vilija“, womit er sich auf den Fluss bezieht, der durch Vilnius und unweit des Geländes von Ponar fließt. Dieses Gedicht ist eine ausgedehnte Meditation über die Frage „Wer wird der Vernichtung der Zigeuner in einem Lied gedenken?“ und arbeitet sich an der Frage ab, wie der Völkermord an einer anderen Gruppe angemessen erinnert werden kann, einem Völkermord von dem er glaubte, dass es nur wenige Überlebende gab.
Rom:nja kommen auch in einigen späteren Gedichten vor. Die längste Erwähnung findet sich in einem Teil seines großen Gedichtzyklus „Geheime Stadt“ [Geheymstodt], der sich mit dem Wilnaer Getto beschäftigt. „Geheime Stadt“ enthält einen langen Abschnitt über „Petro, den Zigeuner“, der die Geschichte eines Rom und Messerschleifers erzählt, der jüdische Kinder rettete, indem er sie aus dem Getto zu Rom:nja im Wald schmuggelte.6Sutzkever, Lider fun yam ha-moves, 264–265.
Das Thema Rom:nja und Getto greift er in einem weiteren Gedicht auf, „Die Zigeunerin Maria Kvieck“. Es wurde 1979 in der Zeitschrift Di goldene keyt [Die goldene Kette] veröffentlicht, die er jahrzehntelang in Israel herausgab. In diesem Gedicht kehrt er zur Figur der Romnja und Sängerin Maria Kwiek zurück, die er in seinen Prosaerinnerungen von 1946 erwähnt hatte. In dem Gedicht ist sie 18 Jahre alt und aus ihrer Heimatstadt Troki (Litauisch: Trakai) aufgebrochen, um ihren Geliebten, Shimshn Kahan, in den verlassenen Straßen von Wilna zu finden. Kahan konnte nicht mehr antworten. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot, erschossen in Ponar, wo auch viele Rom:nja ermordet worden waren.7Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik, 1396.