Die Kommune Tossicia liegt auf der Ostseite des Gran Sasso Massivs, im abruzzischen Apennin, Italien. Der etwa 30 Kilometer von der Stadt Teramo entfernte Ort zählte knapp 3 000 Einwohner:innen, als im Juni 1940 einige unweit des Zentrums Tossicias gelegene Gebäude als Konzentrationslager (campo di concentramento) bestimmt wurden. Die Anlage umfasste zwei Wohngebäude, später wurde ein kleineres Haus hinzugefügt, sodass insgesamt 120 Plätze vorhanden waren.1Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Massime, b. 136, Fasc. Campi concentramento – Teramo [Konzentrationslager – Teramo].
Das Lager von Tossicia war eines der wenigen, das von einem Podestà geleitet wurde; dabei handelte es sich um Bürgermeister, deren Position seit 1926 in Italien nicht mehr durch Wahl, sondern per Ernennung durch die Regierung besetzt wurde. Für die Verwaltung des Lagers standen dem Podestà sein Stellvertreter und der Gemeindesekretär zur Seite. Die Bewachung war Aufgabe der Carabinieri, deren Kaserne nur 50 Meter von den Lagergebäuden entfernt war, und zu denen ein Feldwebel und vier Soldaten zählten.
Die Internierten
Das Lager wurde im August 1940 eröffnet und nahm anfänglich ausländische Juden:Jüdinnen sowie Chines:innen auf, die später alle in andere Lager verlegt wurden, da die überaus schlechten hygienischen Zustände gründliche Sanierungsarbeiten erfordert hätten, welche aber nie in Angriff genommen wurden. Die als Konzentrationslager verwendeten Gebäude verfügten weder über fließendes Wasser, noch über Kanalisation, und die Latrinen gefährdeten die Gesundheit der Internierten. Am 22. Juni 1942 trafen die ersten 35 Rom:nja aus der Provinz Ljubljana ein, und am 22. Juli folgten weitere 78.2Archivio storico del Comune di Tossicia [Historisches Archiv der Kommune Tossicia], Kat. XIV, Pubblica Sicurezza [Öffentliche Sicherheit], b. 2, Fasc. 23, Elenco degli internati [Liste der Internierten]. Im Juni 1943 waren insgesamt 118 Menschen interniert.3Während der Internierung kamen sieben Kinder zur Welt und es gab zwei Todesfälle (eine Neugeborene und ein Junge, der nach langer Krankheit im Krankenhaus in Teramo verstarb). Archivio storico del Comune di Tossicia, Kat. XIV, Pubblica Sicurezza, b. 2, Fasc. 23, Elenco degli internati.
Flucht im September 1943
Die unübersichtliche Lage nach dem Waffenstillstand zwischen der Regierung von Pietro Badoglio (1871–1956) und den Alliierten blieb auch auf das Konzentrationslager Tossicia nicht ohne Auswirkungen. In der Nacht des 26. Septembers 1943 konnten alle Internierten fliehen, da sie nicht mehr überwacht wurden. Nach der Flucht versteckten sich die Rom:nja in den abruzzischen Bergen, wo ihnen sowohl von Bauern:Bäuerinnen als auch von Partisan:innen Hilfe zuteilwurde.
Am 10. Oktober 1943 erließ der Polizeipräsident in Teramo einen Runderlass, mit dem er befahl, die Geflohenen aufzuspüren, aber erst im März 1944 wurden zwei Familien der Rom:nja, insgesamt 16 Personen, in Forlì festgenommen und zurück nach Teramo gebracht. Da in den Konzentrationslagern der Provinz Teramo keine Plätze mehr zur Verfügung standen, wurden sie in den Räumen des kommunalen Wohlfahrtamts (Ente Comunale Assistenza) untergebracht, wo sie von Polizeibeamten der Polizeidirektion überwacht wurden.
Zu dem Zeitpunkt gehörte die Provinz Teramo zur Italienischen Sozialen Republik (Repubblica Sociale Italiana, RSI). Da der Provinzchef (wie der Präfekt in der RSI genannt wurde) nicht wusste, wo er die beiden Familien unterbringen sollte, wandte er sich an das Italienische Rote Kreuz Komitee [Comitato Italiano Croce Rossa, CICR], damit man ihnen einen Passierschein ausstellte, der ihnen die lange Reise zurück nach Julisch Venetien und nach Slowenien ermöglichen sollte. Beide Familien weigerten sich, die Reise anzutreten und beantragten, in der Provinz Teramo bleiben zu dürfen, wobei sie erklärten, sie befürchteten die Rache der „Aufständischen“, das heißt der jugoslawischen Partisan:innen. Der Provinzchef genehmigte ihr Gesuch, in Teramo bleiben zu dürfen. Zwei Monate später zogen die deutschen Truppen aus der Stadt ab.
Kriegsende und Aufarbeitung
Nach dem Krieg kehrte der Großteil der ehemaligen Internierten nicht nach Jugoslawien zurück, sondern ging nach Norditalien, um sich wieder dem Pferdehandel zu widmen.
Einen kurzen Hinweis auf die Lebensbedingungen der Internierten kann man der Autobiografie des istrischen Roms Giuseppe Levakovich (1902–1988) entnehmen, der mit einigen der Internierten hatte Kontakt aufnehmen können. Darüber hinaus liegt ein Bericht des ehemaligen Internierten Rave Hudorovich (unbekannt–unbekannt) vor, der 1983 in der Zeitschrift Lacio Drom veröffentlicht wurde. Außerdem wurden von der Ethnografin Jane Dick Zatta (1947–2005) Ende der 1990er-Jahre Interviews mit ehemaligen Internierten geführt und veröffentlicht.
Am 27. Januar 2013 haben Vereine der Sinti:ze und Rom:nja eine Gedenktafel an einem der als Konzentrationslager verwendeten Gebäude in Tossicia anbringen lassen.