Tridentinisches Venetien

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Tridentinisches Venetien
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 15. Februar 2024

Am Ende des Ersten Weltkrieges bekam Italien im Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye (1919) einige bis dahin zur Habsburgermonarchie gehörende Gebiete zugesprochen, darunter das Trentino und Südtirol, die zusammen den Namen Tridentinisches Venetien erhielten. Südtirol wurde in Alto Adige umbenannt;1Der Name ist vom italienischen Namen der Etsch (Adige) hergeleitet, dem Fluss, der im Obervinschgau (Val Venosta) entspringt und in die Adria mündet. 1927 wurde es dann zur Provinz Bozen (Italienisch: Bolzano). In der neuen territorialen Gestaltung war nun der Brennerpass – auf 1 372 Metern Höhe – die Staatsgrenze zwischen dem Königreich Italien und der Republik Österreich (1919–1934).

In der Provinz Trient wurde überwiegend Italienisch gesprochen, in der Provinz Bozen war die Bevölkerung dagegen mehrheitlich deutschsprachig. Nach Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 hätte der Status von Südtirol/Alto Adige ein Hindernis für das Bündnis mit Italien darstellen können. Adolf Hitler (1889–1945) beschloss aber, keine Ansprüche zu erheben, und einigte sich 1939 mit Benito Mussolini (1883–1945) dahin gehend, dass die deutschsprachigen „altoatesini (Südtiroler)“, sofern sie es wünschten, für die Staatsbürgerschaft des Reiches optieren könnten, in das sie dann aber auch umzuziehen hätten.

Sinti:ze im Tridentinischen Venetien

Im Tridentinischen Venetien waren einige Sinti Familien beheimatet, die in den Alpentälern wohnten. Sie nannten sich selbst Gagkane (Deutsche) Sinti und Estraixaria (Österreichische) Sinti. Letztere waren um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in Südtirol eingetroffen. Sie bewegten sich gewöhnlich zwischen dem historischen Tirol, dem Trentino, Kärnten, dem Gebiet um Gorizia (Görz) und dem Triestiner Karst.

Der Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye regelte auch die Frage der Staatsbürgerschaft jener Bevölkerungen, die ab 1919 einem anderen Staat angehörten. In den ehemaligen habsburgischen Gebieten erlangten die italienische Staatsbürgerschaft automatisch all diejenigen, die in den an Italien übergegangenen Kommunen geboren waren, aber auch beweisen konnten, dass sie am 24. Mai 1915, das heißt an dem Tag, an dem Italien dem Ersten Weltkrieg beigetreten war, das Heimatrecht (Italienisch: diritto di pertinenza) besaßen. Gemäß der italienischen Rechtsprechung waren Vorzugskriterien auch die Abstammung von einem Vater, der seinerseits das Heimatrecht besaß, und der Wohnsitz ab Kriegsende in den an Italien abgetretenen Kommunen. Diese Situation war für die Rom:nja und Sinti:ze des Tridentinischen Venetiens von Nachteil, da sie nur in seltenen Fällen ihr ganzes Leben und über mehrere Generationen hinweg in einer einzigen Kommune verbracht hatten.

Verhaftung und Verbannung

Mit Runderlass vom 6. Dezember 1937 ordnete der Polizeichef Arturo Bocchini (1880–1940) die Festnahme sämtlicher Zigeuner an, die sich in den Provinzen Bozen, Trient, Triest, Gorizia, Pola, Fiume und Zara befanden.2Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Kat. A4bis, b. 159, Da Capo della polizia a prefetti di Trieste, Gorizia, Pola, Fiume, Zara, Bolzano e Trento, 6 dicembre 1937 circolare telegrafica n. 459416 [Von Polizeichef an Präfekten von Triest, Gorizia, Pola, Fiume, Zara und Trento, 6. Dezember 1937, Telegrafischer Runderlass Nr. 459416]. Nachdem ihre Anzahl ermittelt worden war, wurde mit Runderlass vom 17. Januar 1938 beschlossen, dass die „Verdächtigen“ nach Mittel- und Süditalien geschickt werden sollten, wo sie obligatorisch ihren festen Wohnsitz nehmen und einer geregelten Arbeit nachgehen sollten, während diejenigen, die als „gefährlich“ eingestuft wurden, zur polizeilichen Verbannung (confino) verurteilt wurden.3ACS, MI, DGPS, Polizia amministrativa e sociale [Verwaltungs- und Sozialpolizei], b. 865, Fasc. Zingari. Statistica [Zigeuner. Statistik], Da Capo della polizia a prefetti Trieste, Gorizia, Pola, Fiume, Zara, Bolzano, Trento, 17 gennaio 1938, circolare telegrafica n. 1803/10 [Von Polizeichef an Präfekten von Triest, Gorizia, Pola, Fiume, Zara, Bozen Trento, 17. Januar 1938, Telegrafischer Runderlass Nr. 1803/10]. Nach dem jetzigen Stand der Forschung ist bekannt, dass aus der Provinz Trient circa 15 Menschen gezwungen wurden, ihren Wohnsitz in Mittel- und Süditalien zu nehmen, während in der Provinz Bozen vier Frauen zur Verbannung verurteilt und nach Süditalien geschickt wurden. Um sich diesen polizeilichen Maßnahmen zu entziehen, verließen viele Sinti:ze das Tridentinische Venetien und begaben sich in andere italienische Provinzen.

Internierung in Kommunen

Mit dem Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg wurden Rom:nja und Sinti:ze in Konzentrationslagern (campi di concentramento) und Kommunen interniert. Der Präfekt von Bozen beschloss, keine Internierungsorte bereitzustellen, und erklärte, dass Bozen eine aus militärischer Sicht wichtige Grenzprovinz sei. In der Provinz Trient wurde dagegen die Kommune Castello Tesino zum Internierungsort bestimmt, und 14 Menschen wurden gezwungen, dort von April 1941 bis September 1944 zu leben. Die in Castello Tesino internierte Familie bestand aus Giuseppina Wagner (1876–unbekannt) und drei erwachsenen Kindern, Pietro (1914–unbekannt), Anna (1908–unbekannt) und Enrico (1897–unbekannt); die Kinder, von denen zwei wiederum selbst bereits Kinder hatten, trugen den Nachnamen des Vaters, Pasquale. Eines von Enrico Pasquales sieben Kindern, Francesco (1922–unbekannt), wurde 1942 einberufen. Enrico Pasquales Frau, Giovanna Mayer (1905–1943), starb 1943 während der Internierung an einer schweren Infektion.

Die Lage ab September 1943

Ab September 1943 wurden die Provinzen von Trient, Bozen und Belluno zur „Operationszone Alpenvorland“ (OZAV) zusammengefasst und in das Deutsche Reich eingegliedert. Chef der Zivilverwaltung war Franz Hofer (1902–1975), Gauleiter von Tirol-Vorarlberg.

Die Familie in Castello Tesino blieb dort mindestens bis September 1944, als den Männern befohlen wurde, sich zur Zwangsarbeit in Trient zu melden. Einige Wochen später, am 28. Dezember 1944, wurde Enrico Pasquale aufgefordert, sich zur Deportation beim Hauptkommando in Verona zu melden. Um nicht als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt zu werden, floh er. Einer von Enrico Pasquales Söhnen, Vittorio (1927–2005), hat wiederholt behauptet, ein Teil seiner Familie sei im SS-Lager Bozen-Gries interniert gewesen, doch bis heute konnten keine zeitgenössischen Dokumente gefunden werden, die dies bestätigen. Die die Internierten betreffenden Dokumente wurden von SS-Angehörigen kurz vor der Befreiung des Lagers durch die Alliierten vernichtet. Vittorio hat verschiedene Gedichte über die Verfolgung von Rom:nja und Sinti:ze geschrieben, von denen einige in der Zeitschrift Lacio Drom veröffentlicht wurden.

Nach der Befreiung

Nach dem Krieg beschlossen viele Familien der Sinti:ze, die früher im Alpenraum zwischen Julisch Venetien und Tridentinischem Venetien gereist waren, um ihrer Arbeit nachzugehen, sich angesichts der Spannungen zwischen der Republik Italien und der Sozialistischen Republik Jugoslawien in den Provinzen Trient und Bozen niederzulassen. Viele von ihnen blieben bis in die 1960er-Jahre ohne Staatsbürgerschaft und ohne Ausweispapiere.

Einzelnachweise

  • 1
    Der Name ist vom italienischen Namen der Etsch (Adige) hergeleitet, dem Fluss, der im Obervinschgau (Val Venosta) entspringt und in die Adria mündet.
  • 2
    Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Kat. A4bis, b. 159, Da Capo della polizia a prefetti di Trieste, Gorizia, Pola, Fiume, Zara, Bolzano e Trento, 6 dicembre 1937 circolare telegrafica n. 459416 [Von Polizeichef an Präfekten von Triest, Gorizia, Pola, Fiume, Zara und Trento, 6. Dezember 1937, Telegrafischer Runderlass Nr. 459416].
  • 3
    ACS, MI, DGPS, Polizia amministrativa e sociale [Verwaltungs- und Sozialpolizei], b. 865, Fasc. Zingari. Statistica [Zigeuner. Statistik], Da Capo della polizia a prefetti Trieste, Gorizia, Pola, Fiume, Zara, Bolzano, Trento, 17 gennaio 1938, circolare telegrafica n. 1803/10 [Von Polizeichef an Präfekten von Triest, Gorizia, Pola, Fiume, Zara, Bozen Trento, 17. Januar 1938, Telegrafischer Runderlass Nr. 1803/10].

Zitierweise

Paola Trevisan: Tridentinisches Venetien, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 15. Februar 2024. -

1937
3. Dezember 1937Im faschistischen Italien weist Polizeichef Arturo Bocchini die Präfekten an, die Anzahl der in den einzelnen Provinzen anwesenden Sinti:ze und Rom:nja zu melden.
6. Dezember 1937In einem Runderlass ordnet der Polizeichef Arturo Bocchini, Italien, die Festnahme sämtlicher „Zigeuner” an, die sich in den Provinzen Bozen, Trient, Triest, Gorizia, Pola, Fiume und Zara befinden.
1938
17. Januar 1938In Italien ergeht der Beschluss, dass Sinti:ze und Rom:nja ihren Wohnsitz in Provinzen in Süd- und Mittelitalien zu verlegen haben; für diejenigen, die als besonders „gefährlich“ gelten, ist die polizeiliche Verbannung (confino) nach Süditalien oder Sardinien vorgesehen.
1940
11. Juni 1940In Italien wird beschlossen, dass alle „verdächtigen Zigeuner“, insbesondere diejenigen ohne italienische Staatsangehörigkeit, auf Vorschlag des Präfekten in ein Konzentrationslager überführt werden können.
11. September 1940In Italien wird gegenüber Sinti:ze und Rom:nja mit „feststehender oder vermutlicher italienischer Staatsangehörigkeit“ die Internierung in Kommunen angeordnet.