Am 6. November 1926 verabschiedete das faschistische Regime Italiens den Einheitstext der Polizeigesetze (Testo unico delle leggi di pubblica sicurezza, TULPS), der die Macht der Polizei für repressive Zugriffe verstärkte und ein allgegenwärtiges Überwachungssystem gegen jegliche politische oder soziale Kritik einführte.1Königliches Dekret Nr. 1848 vom 06.11.1926. Der Text wurde später überarbeitet, um ihn mit dem neuen Strafgesetzbuch und der neuen Strafprozessordnung in Einklang zu bringen, und mit Königlichem Dekret vom 18. Juni 1931 in Kraft gesetzt.2Königliches Dekret Nr. 773 vom 18.06.1931.
Ohne gerichtlichen Beschluss
Der TULPS sah verschiedene Maßnahmen vor, darunter die Errichtung des „Sondergerichts zur Verteidigung des Staates“ sowie die polizeiliche Verbannung (confino di polizia). Letztere bestand für die davon betroffenen Personen, sofern sie als „besonders gefährlich“ galten, in dem Zwang, in einer Verbannungskolonie auf einer der kleineren Inseln zu leben, und für alle anderen darin, in einer abgelegenen Ortschaft auf dem Festland zu verbleiben. In beiden Fällen musste man eine Reihe von Verboten und Verpflichtungen beachten, die den Aufenthalt zu einer Art Haft in einem Gefängnis ohne Mauern werden ließen.
Es war eine vorbeugende Polizeimaßnahme, die die Festnahme und die Haft ohne gerichtlichen Beschluss erlaubte, und zwar einzig und allein aufgrund einer Entscheidung der Provinzkommission für die Verbannung (Commissione provinciale per il confino). Vorsitzender der Kommission war der Präfekt, und sie war aus einem Offizier der Freiwilligen Miliz für die Nationale Sicherheit (Milizia volontaria per la sicurezza nazionale), dem königlichen Staatsanwalt, dem Polizeipräsidenten und dem Ortskommandanten der Carabinieri zusammengesetzt. Anlass des Verfahrens war eine Anzeige oder eine Meldung des Polizeipräsidenten oder der Carabinieri. 1927 wurde bei der Abteilung „Allgemeine und geheime Sachen“ (Divisione affari generali e riservati) des Innenministeriums ein eigenes, für die politische Verbannung zuständiges Büro errichtet, wobei die Zuständigkeit für die gewöhnliche Verbannung, die gegen wegen ‚Gemeinverbrechen‘ oder ‚mafiösen Verbrechen‘ verurteilte Personen verhängt wurde, weiterhin bei der Abteilung Polizei (Divisione di Polizia) blieb.
Die gewöhnlichen und die politischen Verbannten unterlagen dem gleichen Bewachungsregime und den gleichen Einschränkungen in ihrer Freiheit und ihren Rechten, da sie als eine „Gefahr“ für die öffentliche Sicherheit galten. Die Dauer der Strafe konnte zwischen einem Jahr und fünf Jahren betragen und konnte erneuert werden, falls der Verbannte „kein Anzeichen der Einsicht zeigte“.
Willkürliche Polizeimaßnahmen
Gemäß TULPS von 1931 war die Verurteilung zur Verbannung für folgende Personen vorgesehen: 1. Verwarnte; 2. Personen mit schlechtem Leumund, das bedeutet Personen, die „in der Allgemeinheit den Ruf hatten“, einer ganzen Reihe von Verbrechen „gewöhnlicherweise schuldig zu sein“; 3. diejenigen, die „Betätigungen nachgingen oder die Absicht an den Tag gelegt hatten, Betätigungen nachzugehen, die darauf abzielten, die bestehende politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ordnung des Staats mit Gewalt umzustürzen oder die Tätigkeit der Staatsmächte zu bekämpfen oder zu behindern“. Dies führte dazu, dass eine hohe Anzahl von im Grundsatz willkürlichen Polizeimaßnahmen verhängt wurden, was sich auf die italienische Gesellschaft jener Jahre massiv auswirkte und dem gesamten faschistischen Repressionssystem eine totalitäre Färbung gab. Zum „confino“ verurteilt wurden nicht nur politische Gegner:innen, sondern auch Homosexuelle, Prostituierte, Frauen, die Abtreibungen durchführten, und generell alle, deren Verhalten von den Vorstellungen des Regimes abwich. Eine genaue Übersicht über die Anzahl all derjenigen, die von Verbannung betroffen waren, existiert nicht.
Sinti:ze und Rom:nja
Die Verbannung war eine der Polizeimaßnahmen, die gegen jene Rom:nja und Sinti:ze des Julischen Venetiens und des Tridentinischen Venetiens verhängt wurden, die nach Ansicht des Polizeipräsidenten oder des Präfekten als „gefährlich“ galten. Da es sich um eine Präventivmaßnahme (ante delictum) zum Schutz der öffentlichen Sicherheit handelte und keine Beweise, wie etwa bei einer gerichtlichen Verhandlung, erforderlich waren, war der Ermessensspielraum bei der Anwendung dementsprechend groß.
Am 17. Juni 1938 betrug die Gesamtzahl der von der polizeilichen Verbannungsmaßnahme des „confino“ betroffenen Rom:nja und Sinti:ze aus dem Julischen und Tridentinischen Venetien 43 Erwachsene (22 Männer und 21 Frauen). Mit in der Verbannung befanden sich 99 Familienangehörige, vorwiegend Minderjährige; insgesamt handelte es sich also um 142 Personen. Im Laufe der folgenden Jahre stieg die Anzahl um wenige Personen an.
Der Großteil der Rom:nja und Sinti:ze aus dem Julischen und Tridentinischen Venetien wurde nach Sardinien verbannt, ein geringerer Teil auch in die Basilikata und nach Kalabrien. Durch die große Anzahl von Minderjährigen, die den Eltern in die Verbannung folgten, war die finanzielle Situation der Familien von Rom:nja und Sinti:ze besonders schwierig. Über mögliche weitere Orte der Verbannung von Sinti:ze und Rom:nja fehlt es an Forschung.
Lebensbedingungen
1938 erhielten die verbannten Rom:nja und Sinti:ze einen Zuschuss von 50 Lire pro Monat für die Unterkunft und 5 Lire pro Tag für die Verpflegung. Die mit ihnen lebenden Familienangehörigen erhielten 1 Lira pro Tag. Dieser Betrag erwies sich selbst für die Deckung der Grundbedürfnisse als völlig unzureichend, besonders wenn auch Familienangehörige zu versorgen waren. Ab August 1942 wurde lediglich der Zuschuss für die Verpflegung der Verbannten auf 7 Lire pro Tag erhöht, ansonsten blieb alles unverändert. Nur einige Präfekten beantragten zusätzliche Zuschüsse beim Innenministerium, um die kläglichen Lebensbedingungen der Verbannten und ihrer Familien zu lindern. Für die Verbannten war die Möglichkeit vorgesehen, eine Arbeit aufzunehmen, um damit ihren Unterhalt zu bestreiten, aber die äußerste Armut der Ortschaften, in die man sie verbannt hatte, machte dies unmöglich.
Aufhebung erst 1946
Mit dem Vormarsch der Alliierten wurden nach und nach die politischen Gegner:innen des Regimes freigesetzt, alle anderen mussten bis Juni 1946, das heißt bis zur Verkündung der Generalamnestie am 22. Juni 1946, in der Verbannung bleiben.3Decreto presidenziale, 22 giugno 1946, n. 4 Amnistia e indulto per reati comuni, politici e militari [Präsidialdekret, 22. Juni 1946, Nr. 4, Amnestie und Straferlass für gewöhnliche, politische und militärische Verbrechen], https://www.normattiva.it/uri-res/N2Ls?urn:nir:stato:decreto.presidenziale:1946-06-22;4 [Zugriff: 15.04.2024]. Das Dekret betraf Taten, die nach der Verkündung des Waffenstillstands und in der unmittelbaren Nachkriegszeit begangen worden waren. So auch Romn:ja und Sinti:ze.
Einen Wohnsitz, an den sie zurückkehren konnten, hatten sie in der Regel nicht. Auch zu den Folgen, die die Verbannung für die Familien hatte, liegen keine Untersuchungen vor. Lediglich anhand des Berichtes von Rosa Raidich (1911–1981), die nach Perdasdefogu, Provinz Nuoro auf Sardinien, verbannt worden war, und ihrer Lebensgeschichte, die in einem Aufsatz von Licia Porcedda wiedergegeben wird, lässt sich etwas davon erahnen.