Wiener Holocaust Library

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Wiener Holocaust Library
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 8. Dezember 2024

Die Wiener Holocaust Library wurde 1934 in Amsterdam, Niederlande, unter dem Namen Jewish Central Information Office gegründet. Ihr Gründer war der deutsch-jüdische Exilant Dr. Alfred Wiener (1885–1965), der sich gegen den Nationalsozialismus engagierte. Angesichts der sich verschlechternden Perspektiven für einen Frieden in Europa und für die Juden:Jüdinnen in Deutschland verlegte die Organisation im Sommer 1939 ihren Sitz nach London, Vereinigtes Königreich

Seit den 1930er Jahren hat die Bibliothek Dokumente, Fotografien und Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus, den Holocaust, jüdische Flüchtlinge, die nach Großbritannien kamen, sowie andere Materialien zu diesen Themen gesammelt und ist heute eines der weltweit führenden und größten Archive über den Holocaust und die NS-Zeit.

Berichte von Augenzeug:innen

Die Wiener Holocaust Library besitzt eine Reihe wichtiger Berichte über die Verfolgung von Rom:nja und Sinti:ze. Besonders erwähnenswert ist die Sammlung 1656: Augenzeugenberichte. Diese Sammlung entstand, nachdem Dr. Eva Reichmann (1897–1998), die Forschungsleiterin der Bibliothek, Mitte der 1950er Jahre damit begonnen hatte, aus ganz Europa Augenzeugenberichte über den Holocaust zu sammeln.1Vgl. Joskowicz, Rain of Ash, 155f. Letztendlich wurden über tausend Berichte gesammelt, darunter eine sehr geringe Anzahl von Überlebenden der Rom:nja und Sinti:ze.2Die genaue Zahl wird derzeit ermittelt. Die Bestandsbeschreibungen beziehen sich bei 29 Berichten auf Sinti:ze und Rom:nja, wobei noch zu klären ist, ob es sich um Berichte von Sinti:ze und Rom:nja selbst oder von anderen Augenzeugen der Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja handelt. Diese Berichte in der Sammlung 1656 wurden von Emmi Moravitz, einer Mitarbeiterin der Bibliothek, in Wien zusammengetragen, nachdem Reichmann sie ausdrücklich darum gebeten hatte, zu versuchen, Rom:nja und Sinti:ze zu befragen.

Ein wichtiger Bestandteil der Sammlung ist das ausführliche Zeugnis der österreichischen Sintiza und Überlebenden Hermine Horvath (1925–1958) aus dem Jahr 1958 (Ref. Nr. 1656/3/8/795), in dem sie ihre Erlebnisse von der Zeit der deutschen Übernahme Österreichs 1938 bis zum Kriegsende dokumentiert. Ungewöhnlich für einen Bericht einer Frau aus dieser Zeit, sprach Horvath ausdrücklich über die sexuelle Gewalt durch die Schutzstaffel (SS), die sie erlebte und miterlebte. Die Sammlung enthält auch eine Reihe von Berichten über die Verfolgung von Rom:nja und Sinti:ze, die nicht von Angehörigen der Minderheit stammen. Viele der Augenzeugenberichte der Bibliothek, darunter auch der von Horvath, sind inzwischen ins Englische übersetzt worden und können auf der Website www.testifyingtothetruth.co.uk eingesehen werden.

Die „Kenrick Collection“

1968 finanzierte die „Wiener Bibliothek und das Institut für Zeitgeschichte“ (wie die Bibliothek damals hieß) ein Projekt der Forscher Donald Kenrick (1929–2015) und Grattan Puxon (geb. 1940) zur Untersuchung und Dokumentation des nationalsozialistischen Völkermordes an den Rom:nja und Sinti:ze mit. Puxon, der damalige Sekretär des Gypsy Council im Vereinigten Königreich, war von Jacques Dauvergne (alias Vanko Rouda) (1936–unbekannt), dem Sekretär des Comité International Tsigane [heute Comité International Rom], gebeten worden, Material zu sammeln, das Rom:nja und Sinti:ze bei Forderungen für Entschädigungen aufgrund der Verfolgung durch das NS-Regime helfen könnte. Kenrick hinterlegte später einen Teil des gesammelten Materials in der Bibliothek (Sammlung 611), darunter einen unveröffentlichten Band mit dem Titel Gypsies Under the Nazis, der 1972 überarbeitet und unter dem Titel The Destiny of Europe‘s Gypsies veröffentlicht wurdeDie Sammlung „Material zur Verfolgung der Zigeuner im Nationalsozialismus“, die oft als „Kenrick Collection“ [Sammlung Kenrick] bezeichnet wird, enthält auch eine Reihe persönlicher Erfahrungsberichte von Rom:nja als Überlebende des Völkermords (in 611/1), Kopien von Zeugenaussagen, die von anderen Forscher:innen zur Verfügung gestellt wurden (611/12), sowie einen Bericht von Hermann Langbein (1912–1995) über das so genannte Zigeunerlager im Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Zu den weiteren Materialien in der Sammlung 611 gehören Notizen zu verschiedenen Themen, z. B. zur Verfolgung von Rom:nja und Sinti:ze in Belgien und den Niederlanden.3Einen Überblick über die Sammlung 611 finden Sie unter https://wiener.soutron.net/Portal/Default/en-GB/RecordView/Index/70561. Für den Zugriff auf diese digitalen Inhalte müssen die Leser ein Terminal im Lesesaal buchen.

Sonstige Bestände

Weitere themenrelevante Dokumente in den Sammlungen der Bibliothek sind eine kleine Anzahl von Kopien von Täterfotos von Rom:nja in nationalsozialistischen Lagern (Sammlung 1 / Sammlung Blaues Album). Hinweise auf die Verfolgung und den Völkermord an Rom:nja und Sinti:ze finden sich außerdem in den Beweisdokumenten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: Die Bibliothek besitzt einen Satz von Kopien dieser Dokumente (Sammlung 1655).

In den letzten Jahren wurden die Sammlungen der Bibliothek mit Material zum nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Rom:nja und Sinti:ze um die einzige britische Kopie der Bestände des Internationalen Suchdienstes / Arolsen Archives erweitert. Diese digitale Sammlung enthält eine Fülle von Materialien zum Schicksal einzelner überlebender Rom:nja und Sinti:ze, zu Entschädigungsforderungen und -kampagnen in der Nachkriegszeit sowie zur NS-Politik gegenüber Rom:nja und Sinti:ze.

Einzelnachweise

  • 1
    Vgl. Joskowicz, Rain of Ash, 155f.
  • 2
    Die genaue Zahl wird derzeit ermittelt. Die Bestandsbeschreibungen beziehen sich bei 29 Berichten auf Sinti:ze und Rom:nja, wobei noch zu klären ist, ob es sich um Berichte von Sinti:ze und Rom:nja selbst oder von anderen Augenzeugen der Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja handelt.
  • 3
    Einen Überblick über die Sammlung 611 finden Sie unter https://wiener.soutron.net/Portal/Default/en-GB/RecordView/Index/70561. Für den Zugriff auf diese digitalen Inhalte müssen die Leser ein Terminal im Lesesaal buchen.

Zitierweise

Barbara Warnock: Wiener Holocaust Library, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 8. Dezember 2024.-

1958
Februar 1958Die österreichische Überlebende Hermine Horvath gibt ein Interview für die Sammlung Augenzeugenberichte der Wiener Holocaust Library, London (Vereinigtes Königreich).