Willy Blum

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Willy Blum
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 18. Mai 2025

Über den im Alter von 16 Jahren im Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordeten Willy Blum war viele Jahre lang nichts bekannt. Sein Name stand auf einer Liste neben dem durchgestrichenen Namen von Stefan Jerzy Zweig (1941–2024), der durch den Roman „Nackt unter Wölfen“ des Schriftstellers Bruno Apitz (1900–1971) als „Buchenwald-Kind“ weltberühmt wurde.

Familie und frühe Kindheit

Laut Geburtsurkunde kam Willy Blum am 13. Juli 1928 im Harzstädtchen Rübeland, Deutschland, als achtes von insgesamt zehn Kindern des Marionettentheater-Besitzers Aloysius (Aloys) Blum (1891–1982) und Antonie (Toni) Blum geborene Richter (1893–1968) zur Welt.1Sofern nicht anders angegeben, stammen die Informationen aus Leo, Das Kind auf der Liste. Polizeilich gemeldet war die Familie zu dieser Zeit in Wolfenbüttel. Rübeland war eine Station auf der Vorstellungstournee des Wandertheaters durch die umliegenden Städte und Gemeinden.

Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gab es in Deutschland sehr viele Wander-Marionettentheater. Die Betreiber:innen reisten mit Wohnwagen zu den Veranstaltungsorten, bauten in Gastwirtschaften und Gemeindesälen ihre Bühnen auf und spielten Märchen für die Kinder sowie romantische Historiendramen für die Erwachsenen. Zum Repertoire des Theaters der Blums gehörten jedoch auch Shakespeares „Hamlet“ und das Volksstück „Dr. Faustus zu Wittenberg“, für die Puppenbühne bearbeitet. Die Wandertheater waren Familienbetriebe. Die Eltern führten zusammen mit den älteren Söhnen und Töchtern die Marionetten. Nach den Aufführungen sangen, tanzten und musizierten sie gemeinsam in den so genannten Nachspielen. Die jüngeren Kinder verteilten die Programmzettel im Ort. Während der wenigen Wochen, in denen das Theater an einem Spielort blieb, gingen die Kinder dort zur Schule.

Rudolf Blum, der jüngste Sohn der Familie, wurde 1934 in Dresden geboren. In den folgenden vier Jahren bis 1938 war der dortige Vorort Laubegast Lebensmittelpunkt und Winterquartier der Familie. Im Adressbuch der Stadt präsentierte sich Aloys Blum als Marionettentheaterbesitzer. In Dresden wurde Willy Blum eingeschult.

Umzug nach Hoyerswerda

1938 zogen die Blums von Dresden nach Hoyerswerda. Sie konnten dadurch dem wachsenden Verfolgungsdruck der NS-Behörden auf Sinti:ze und Rom:nja vorerst noch ausweichen und weiter ihr Marionettentheater betreiben. Zu dieser Zeit gab es bereits die ersten kommunalen Zwangslager, größere Städte verweigerten den Wandertheatern und Fahrgeschäften die Gewerbegenehmigungen. In Hoyerswerda gingen Willy und seit 1941 auch Rudolf Blum in die Knabenschule, ihre Schwester Dora (1930–2014) besuchte die Volksschule. Willy Blum wurde 1942 in der katholischen Kirche von Hoyerswerda gefirmt. Seine beiden älteren Brüder – Willy Richter (geb. 1916), der noch den Mädchennamen der Mutter trug, und Hugo Blum (1920–1978) – wurden 1939/40 zur Wehrmacht eingezogen.

Festschreibung und Verhaftung

Im Februar 1942 wurde Aloys Blum der Wandergewerbeschein entzogen. Die Familie wurde „festgeschrieben“, das heißt, sie durfte Hoyerswerda nicht mehr verlassen. Damit verlor sie ihre Existenzgrundlage. Trotz der „Festsetzung“ fuhr Aloys Blum nach Berlin. In seinem Entschädigungsantrag von 1954 erklärte er, er habe „beim Ministerium“ vorgesprochen – vermutlich meinte er das von Joseph Goebbels (1897–1945) geleitete Propagandaministerium, dem die Reichskulturkammer und die Sektion Puppenspiel unterstand. Dort sei ihm die Gewerbegenehmigung „aus rassischen Gründen“ verweigert worden. Im April 1942 wurden Willy Richter und Hugo Blum aus der Wehrmacht ausgestoßen. Sie kehrten nach Hoyerswerda zurück und mussten dort ebenso wie ihre erwachsenen Schwestern Zwangsarbeit leisten. Zwei Monate später, am 8. Juni 1942, wurde Aloys Blum festgenommen, nachdem die Familie versucht hatte, aus Deutschland zu fliehen. Nach zweimonatiger Haft in Hoyerswerda kam er in das Polizeigefängnis Cottbus und von dort mit einem Sammeltransport nach Auschwitz, wo er am 7. August 1942 als Häftling registriert wurde. Seine Familienangehörigen durften nicht mehr im Wohnwagen wohnen. Sie wurden in eine Barackensiedlung am Rande der Stadt eingewiesen.

Deportation nach Auschwitz-Birkenau

Am 3. oder 4. März 1943 umstellten Polizisten die Baracke, in der Toni Blum mit ihren Kindern und Enkelkindern zusammengepfercht lebte. Sie durften nur das Notwendigste mitnehmen. Über ein Gefängnis in Breslau gelangten sie mit vielen anderen Sinti:ze nach Auschwitz-Birkenau. Auch Hugo Blum, der nach der Verhaftung seines Vaters aus Hoyerswerda geflohen war und sich einige Monate lang bei seinem Onkel Julius Richter (1879–unbekannt) versteckt hatte, war bei einer Razzia festgenommen und nach Verbüßung einer Haftstrafe ebenfalls nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Die einzige Blum-Tochter, die der Verhaftung entgangen war (von ihr ist nur ihr Rufname „Betzla“ bekannt), konnte ebenfalls bei einem Verwandten aus der Familie Richter untertauchen.

Unter den grausamen Bedingungen im so genannten Zigeunerfamilienlager in Auschwitz-Birkenau starben die beiden kleinen Söhne von Anna (1919–unbekannt) und Therese Blum (1921–2019). Aus den überlieferten Akten des SS-Hygieneinstituts von Auschwitz geht hervor, dass mindestens vier Geschwister von Willy Blum medizinischen Experimenten ausgesetzt waren.

Ravensbrück und Buchenwald

Anfang August 1944 wurde Aloys Blum zusammen mit seinen beiden jungen Söhnen Willy und Rudolf in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Toni Blum kam mit ihren Töchtern Anna, Therese, Liesbeth (1923–1999), Elli (1924–2020) und Dora sowie den erwachsenen Söhnen Willy Richter und Hugo Blum nach Ravensbrück. Während Anna, Therese und Liesbeth von dort aus weiter in das Außenlager Graslitz deportiert wurden, blieben Toni, Elli und Dora im Hauptlager. Im Männerlager von Ravensbrück wurden Hugo Blum und Willy Richter zwangssterilisiert. Ebenso erging es ihrer zu diesem Zeitpunkt bereits fünfzigjährigen Mutter Toni Blum, die sich von diesem brutalen Eingriff nie mehr erholen sollte.

Im Konzentrationslager Buchenwald wurde Aloys Blum schon nach wenigen Tagen von seinen beiden Söhnen getrennt und in das Außenlager Dora (das später selbstständige Konzentrationslager Mittelbau-Dora) geschickt, später von dort nach Bergen-Belsen. In Buchenwald zurück blieben der sechzehnjährige Willy und der zehnjährige Rudolf. Zusammen mit vielen anderen Kindern und Jugendlichen – mehrheitlich Sinti und Roma – waren sie in der Baracke 47 zusammengepfercht. Als die SS im September 1944 200 Kinder aus Buchenwald zurück nach Auschwitz in den sicheren Tod schicken wollte, stand auch der Name von Rudolf Blum auf der Transportliste. Willy Blum soll daraufhin gebeten haben, seinen kleinen Bruder begleiten zu dürfen. Dies jedenfalls legt ein Schreiben des SS-Arztes Dr. August Bender (1909–2005) vom 23. September 1944 nahe, der dazu „keine Bedenken“ äußerte.2Abgedruckt in Ebd., Abb. 14. Original in Arolsen Archives, 1.1.5.1/5340714, Lagerarzt August Bender, 23. September 1944. Zu Bender siehe Biermanns, Nico, „August Bender“, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/august-bender/DE-2086/lido/5f92db8c073bc3.62053386 [Zugriff: 15.04.2025]. In letzter Minute von der Liste gestrichen wurde der Name des damals dreijährigen Stefan Jerzy Zweig, dessen Rettung der Schriftsteller Bruno Apitz in seinem 1958 im Mitteldeutschen Verlag der Deutschen Demokratischen Republik erschienenen Roman „Nackt unter Wölfen“ weltberühmt machte.

Von den 200 Kindern, die am 26. September in Auschwitz ankamen, überlebten nur zwei: Rudolf Böhmer (1928–1968) und Alfred Rosenbach (geb. 1931).3Vgl. https://www.buchenwaldbahn.de/namen/boehmer-rudolf-74192.html und https://www.buchenwaldbahn.de/namen/rosenbach-alfred-74100.html [Zugriff: 15.04.2025]. Alle anderen, unter ihnen die Brüder Rudolf und Willy Blum, wurden ermordet.

Wiedersehen in Hoyerswerda

Im Laufe des Sommers 1945 kamen die Mitglieder der Familie Blum aus den befreiten Konzentrationslagern, von Todesmärschen oder aus dem Versteck zurück nach Hoyerswerda: Außer Rudolf und Willy Blum hatten alle überlebt. Hoyerswerda lag in der sowjetischen Besatzungszone. Die Blums erhielten von der sowjetischen Kommandantur eine Wohnung und vom örtlichen Ausschuss „Opfer des Faschismus“ finanzielle Unterstützung.

Obwohl sie von den Misshandlungen und Entbehrungen traumatisiert, krank und geschwächt waren, wollten Aloys und Toni Blum zusammen mit ihren Kindern so schnell wie möglich wieder an ihr altes Leben anknüpfen. Doch der Wohnwagen samt Möbeln und Hausrat sowie die Marionetten, die sie in der Baracke hatten zurücklassen müssen, waren nicht mehr da.

Im Dezember 1945 überschritten die Blums die Grenze zur amerikanischen Besatzungszone, wo sie Hilfe und Beistand bei Verwandten in Bayern fanden. Seit 1947 waren Aloys und Toni Blum mit ihrem Sohn Hugo und vier ihrer Töchter wieder mit einem kleinen Wohnwagen und einer Marionettenbühne unterwegs. Doch die Zeiten hatten sich geändert, das Marionettenspiel hatte keine Zukunft mehr. In den Dörfern und kleinen Städten blieben die Zuschauer:innen aus. 1953 meldete Aloys Blum sein Gewerbe ab. Er war 62 Jahre alt. Aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte war das Ehepaar nicht mehr arbeitsfähig und auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Entschädigung

Bereits 1950 hatten einzelne Mitglieder der Familie Blum die ersten Anträge auf „Wiedergutmachung“ gestellt. Damit begann ein jahrzehntelanger Kampf, in dessen Verlauf sie immer wieder neue Nachweise erbringen, minutiöse Erklärungen abgeben, sich medizinischen Untersuchungen unterziehen mussten. Sie waren demütigenden Unterstellungen ausgesetzt, und sehr wahrscheinlich mussten sie einen großen Teil des Geldes, das sie schließlich nach langem Hin und Her bewilligt bekamen, an die Anwälte zahlen.

Im Vergleich zu anderen NS-Verfolgtengruppen erlebten die Blums ebenso wie viele Sinti:ze und Rom:nja in der Bundesrepublik Deutschland besondere Diskriminierung und Benachteiligung, weil sie sich mit der unheilvollen Kombination von ausgrenzenden Klauseln in der Entschädigungsgesetzgebung und rassistischen Vorurteilen der jeweiligen Bearbeiter:innen konfrontiert sahen. Als „Experten“ zogen die Entschädigungsämter häufig Kriminalpolizisten zu Rate, die während der NS-Zeit mit der Verfolgung der Minderheit befasst und daran interessiert waren, die Glaubwürdigkeit der Antragstellenden infrage zu stellen. So wäre es Hugo Blum beinahe ergangen, als Kriminalinspektor Georg Geyer (1909–1989), seit 1952 Leiter der „Landfahrerstelle“ der bayerischen Polizei,4Nerdinger, Die Verfolgung der Sinti und Roma, 252 f. ihn in seinem Gutachten auf Grundlage der NS-Akten als „Kriminellen“ abstempeln und ihm damit die Anerkennung als Verfolgter absprechen wollte. Die Zwangssterilisation wurde überhaupt erst Ende der 1960er-Jahre als „schwere Verstümmelung“ anerkannt und Hugo Blum eine Erwerbsminderung von 30 Prozent bescheinigt.

Gedenken

Am 13. Juli 2018 wurde in Rübeland anlässlich des 90. Geburtstags von Willy Blum und auf Initiative von Dr. Christoph Unger vom Harzklub-Zweigverein Rübeland eine Gedenktafel eingeweiht. Sie befindet sich auf dem Platz, an dem früher die Wohnwagen der Schausteller:innen und Händler:innen standen.

In der Gedenkstätte Buchenwald wird in der ständigen Ausstellung an die Geschichte von Willy und Rudolf Blum erinnert. Außerdem arbeiten Schüler:innen seit 2007 im Rahmen von Projekten am „Gedenkweg Buchenwald“ an einem ständig wachsenden Einzeldenkmal, indem sie am Ort des alten Lagerbahnhofs die Namen der 200 Kinder und Jugendlichen, die Ende September 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, auf Steinen aufbringen. Ihre Lebensdaten – auch die von Willy und Rudolf Blum – sind online über einen dort angebrachten Verweis abrufbar.

Am 8. März 2024 wurden in Dresden vor dem Haus Laubegaster Ufer 22 unter großer Anteilnahme der Bewohner:innen des Ortsteils Laubegast zwölf Stolpersteine für die Mitglieder der Familie Blum verlegt. Initiatoren waren der Verein „Weiterdenken“ unter dem Dach der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen und der Verein Stolpersteine Dresden.

Einzelnachweise

Zitierweise

Annette Leo: Willy Blum, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 18. Mai 2025.-

1942
7. August 1942Aloys Blum aus Hoyerswerda, Deutschland, wird in das Konzentrationslager Auschwitz eingewiesen. Er hatte versucht, mit seiner Familie ins Ausland zu fliehen.
1944
25. September 1944200 Sinti und Roma, alle Kinder und Jugendliche, werden vom Konzentrationslager Buchenwald in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überstellt. Nur zwei Überlebende dieses Transportes sind bekannt: Alfred Rosenbach und Rudolf Böhmer.