Die Ortschaft Agnone liegt in der Provinz Isernia (zur damaligen Zeit in der Provinz Campobasso), Italien. Im Mai 1940 wurde das Kloster San Bernardino, welches der Diözese Trivento angehörte, als Konzentrationslager (campo di concentramento) bestimmt. Das Kloster befand sich in einer abgelegenen Gegend und war etwa einen Kilometer von dem Ort Agnone entfernt. Anfänglich sollte es etwa 150 Internierte beherbergen, später wurde die Zahl auf 141 reduziert, um Platz für eine Krankenstation und einen Isolierraum zu schaffen. Das Gebäude verfügte über mehrere Zimmer, Badezimmer und einen Speisesaal und wurde als in gutem Allgemeinzustand eingestuft, obwohl keine Heizung vorhanden war. Letzteres bedeutete angesichts der harten Winter in dem 800 Meter hoch gelegenen Ort für die Internierten eine zusätzliche Belastung.
Einweisung von Sinti:ze und Rom:nja
Ab Juli 1940 wurde das Lager für die Internierung von Staatsangehörigen der sogenannten Feindstaaten und „ausländischen Juden“1Mit Königlichem Gesetzesdekret vom 17. November 1938 wurde allen Juden:Jüdinnen die italienische Staatsbürgerschaft aberkannt, wenn sie diese nach dem 1. Januar 1919 erlangt hatten. verwendet. Diese wurden später in andere Lager verlegt, als am 23. Juli 1941 beschlossen wurde, dass in dem Lager nur „Zigeuner“ untergebracht werden sollten.2Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Massime, b. 117, fasc. Campobasso, s. fasc. Locali „La Manifattura Tabacchi“ di Boiano, von MI, DGPS, DAGER, sez. II, an Prefettura di Campobasso und Ufficio Internati Stranieri, Nr. 442/20817, 23 luglio 1941 [23. Juli 1941], Oggetto: Campo di concentramento di Boiano – Soppressione [Betreff: Konzentrationslager Bojano – Abschaffung]. Zwischen dem 16. und dem 24. August trafen dann Rom:nja und Sinti:ze ein, die zuvor im Lager Bojano interniert gewesen waren. Als das Lager eröffnet worden war, waren für die Überwachung drei Carabinieri und zwei Polizeibeamte eingesetzt. Im Februar 1942, als die Zahl der Internierten zunahm, wurde die Zuteilung von vier weiteren Carabinieri beantragt. Dennoch unternahmen viele Internierte einen Fluchtversuch, wurden aber meistens in einer der umliegenden Ortschaften wieder ergriffen und mussten dann einige Monate Haft im Gefängnis der nahe gelegenen Stadt Isernia verbüßen. Auf Veranlassung des Direktors des Lagers – so wurden die dem Innenministerium unterstehenden Lagerleiter offiziell bezeichnet – richtete man in einem Zimmer eine Mehrklassenschule für Kinder ein. Die Schuldirektion entsandte eine freiwillige Gemeindelehrerin, welche von Januar bis Juni 1943 21 Kinder unterrichtete.
Von August 1941 bis September 1943 betrug die Gesamtzahl der Internierten 176 Personen, die im Lager geborenen Kinder inbegriffen. Es handelte sich um Rom:nja und Sinti:ze sowohl mit italienischer als auch mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Bei den 81 Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft handelte es sich laut Lagerregister um 45 Mitglieder der miteinander verwandten Familien Goman und Bogdan mit kroatischer Staatsbürgerschaft, 25 Mitglieder der ebenfalls miteinander verwandten Familien Campos und Lossetto mit spanischer Staatsbürgerschaft, drei Niederländer, zwei Deutsche, zwei Belgier, einen Franzosen, eine in Montenegro geborene Jugoslawin und zwei in der Nähe von Ljubljana geborene Personen, bei denen die Eintragung der Staatsbürgerschaft durch ein Fragezeichen ersetzt ist.
Auflösung des Lagers
Was die Geschehnisse des Sommers 1943 anbelangt, so wissen wir, dass Rom:nja und Sinti:ze im Rahmen der Entscheidungen der Regierung von Pietro Badoglio (1871–1956) zur Befreiung der Internierten nicht beachtet wurden, sodass sie auch nach der Ankündigung des Waffenstillstands (8. September 1943) noch in den Konzentrationslagern verbleiben mussten. Einheiten der deutschen Wehrmacht, die bei der Errichtung einer nahe bei Agnone verlaufenden Verteidigungslinie („Barbara-Stellung“) eingesetzt waren, betraten am 6. Oktober 1943 das Kloster San Bernardino und ließen die Internierten frei. Einige von ihnen blieben in der dann von den Alliierten befreiten Zone und schlugen sich mit der Zeit Richtung Norden durch, als sich die Einheiten der Wehrmacht nach und nach zurückzogen. Andere versuchten sofort, Venetien und Friaul zu erreichen, und setzten damit angesichts der andauernden Kampfhandlungen sowie der stetigen Gefahr, von Behörden der neuen faschistischen Regierung (Repubblica Sociale Italiana, RSI) oder deutschen Einheiten aufgegriffen zu werden, ihr Leben aufs Spiel.
Nach dem Krieg
Unmittelbar nach dem Krieg wurde das Kloster San Bernardino in ein Internat umgewandelt und diente ab den 1970er-Jahren als Altersheim. Auf Initiative von Verbänden der Rom:nja und Sinti:ze wurde 2013 eine Gedenktafel in Erinnerung an das Konzentrationslager angebracht. Am 17. Mai 2018 fand eine Gedenkfeier statt, an der Aktivist:innen und Angehörige der ehemaligen Internierten teilnahmen.
Der erste Zeugenbericht über das Lager von Agnone stammt von der slowenischen Sintiza Zilka Heldt (unbekannt–unbekannt) und wurde 1975 von Donald Kenrick (1929–2015) und Grattan Puxon (geb. 1940) veröffentlicht. Zilka Heldt war zusammen mit ihrer Familie in der Provinz Ljubljana festgenommen worden, als sie fast noch ein Kind war. Ihre Beschreibung der Internierung in Agnone fiel nicht sehr negativ aus, und ihr Zeugenbericht, der nicht in angemessener Weise kontextualisiert wurde, trug indirekt dazu bei, dass die von Rom:nja und Sinti:ze in Italien erlittene Verfolgung verharmlost wurde. Völlig anders lautet der Zeugenbericht von Bruno Zlato Levak (unbekannt–unbekannt), der von dem im Lager erlittenen Hunger erzählt, wie auch der von Milka Goman (1920–2017), die mit ihrem nur wenige Monate alten Kind dort interniert war.
In der Nachkriegszeit geriet die Geschichte der in Agnone Internierten in Vergessenheit. Dieser Zustand dauerte mindestens bis ins Jahr 2005, als Milka Goman ihre Erlebnisse einer Gruppe von Forschenden erzählte, welche über illegale Siedlungen in der Hauptstadt Rom recherchierten, wo auch sie in ihrem Wohnwagen lebte. Dadurch kamen Milka Gomans „Rückkehr“ nach Agnone und ihre Begegnung mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat zustande, die ihr die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. In dem molisanischen Städtchen hatten schon gegen Ende der 1990er-Jahre auf Initiative eines Lehrers, Francesco Tanzj, und Schüler:innen des Gymnasiums von Agnone Nachforschungen im Stadtarchiv begonnen. Heute gibt es verschiedene Schriften, die von den Erfahrungen von Milka Goman und anderen in Agnone internierten Familien von Rom:nja und Sinti:ze erzählen.
Am 27. Januar 2013 wurde in Agnone eine Gedenktafel eingeweiht, die an die Internierung der Rom:nja und Sinti:ze erinnert.