Agnone

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Agnone
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Die Ortschaft Agnone liegt in der Provinz Isernia (zur damaligen Zeit in der Provinz Campobasso), Italien. Im Mai 1940 wurde das Kloster San Bernardino, welches der Diözese Trivento angehörte, als Konzentrationslager (campo di concentramento) bestimmt. Das Kloster befand sich in einer abgelegenen Gegend und war etwa einen Kilometer von dem Ort Agnone entfernt. Anfänglich sollte es etwa 150 Internierte beherbergen, später wurde die Zahl auf 141 reduziert, um Platz für eine Krankenstation und einen Isolierraum zu schaffen. Das Gebäude verfügte über mehrere Zimmer, Badezimmer und einen Speisesaal und wurde als in gutem Allgemeinzustand eingestuft, obwohl keine Heizung vorhanden war. Letzteres bedeutete angesichts der harten Winter in dem 800 Meter hoch gelegenen Ort für die Internierten eine zusätzliche Belastung.

Einweisung von Sinti:ze und Rom:nja

Ab Juli 1940 wurde das Lager für die Internierung von Staatsangehörigen der sogenannten Feindstaaten und „ausländischen Juden1Mit Königlichem Gesetzesdekret vom 17. November 1938 wurde allen Juden:Jüdinnen die italienische Staatsbürgerschaft aberkannt, wenn sie diese nach dem 1. Januar 1919 erlangt hatten. verwendet. Diese wurden später in andere Lager verlegt, als am 23. Juli 1941 beschlossen wurde, dass in dem Lager nur Zigeuner untergebracht werden sollten.2Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Massime, b. 117, fasc. Campobasso, s. fasc. Locali „La Manifattura Tabacchi“ di Boiano, von MI, DGPS, DAGER, sez. II, an Prefettura di Campobasso und Ufficio Internati Stranieri, Nr. 442/20817, 23 luglio 1941 [23. Juli 1941], Oggetto: Campo di concentramento di Boiano – Soppressione [Betreff: Konzentrationslager Bojano – Abschaffung]. Zwischen dem 16. und dem 24. August trafen dann Rom:nja und Sinti:ze ein, die zuvor im Lager Bojano interniert gewesen waren. Als das Lager eröffnet worden war, waren für die Überwachung drei Carabinieri und zwei Polizeibeamte eingesetzt. Im Februar 1942, als die Zahl der Internierten zunahm, wurde die Zuteilung von vier weiteren Carabinieri beantragt. Dennoch unternahmen viele Internierte einen Fluchtversuch, wurden aber meistens in einer der umliegenden Ortschaften wieder ergriffen und mussten dann einige Monate Haft im Gefängnis der nahe gelegenen Stadt Isernia verbüßen. Auf Veranlassung des Direktors des Lagers – so wurden die dem Innenministerium unterstehenden Lagerleiter offiziell bezeichnet – richtete man in einem Zimmer eine Mehrklassenschule für Kinder ein. Die Schuldirektion entsandte eine freiwillige Gemeindelehrerin, welche von Januar bis Juni 1943 21 Kinder unterrichtete.

Von August 1941 bis September 1943 betrug die Gesamtzahl der Internierten 176 Personen, die im Lager geborenen Kinder inbegriffen. Es handelte sich um Rom:nja und Sinti:ze sowohl mit italienischer als auch mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Bei den 81 Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft handelte es sich laut Lagerregister um 45 Mitglieder der miteinander verwandten Familien Goman und Bogdan mit kroatischer Staatsbürgerschaft, 25 Mitglieder der ebenfalls miteinander verwandten Familien Campos und Lossetto mit spanischer Staatsbürgerschaft, drei Niederländer, zwei Deutsche, zwei Belgier, einen Franzosen, eine in Montenegro geborene Jugoslawin und zwei in der Nähe von Ljubljana geborene Personen, bei denen die Eintragung der Staatsbürgerschaft durch ein Fragezeichen ersetzt ist.

Auflösung des Lagers

Was die Geschehnisse des Sommers 1943 anbelangt, so wissen wir, dass Rom:nja und Sinti:ze im Rahmen der Entscheidungen der Regierung von Pietro Badoglio (1871–1956) zur Befreiung der Internierten nicht beachtet wurden, sodass sie auch nach der Ankündigung des Waffenstillstands (8. September 1943) noch in den Konzentrationslagern verbleiben mussten. Einheiten der deutschen Wehrmacht, die bei der Errichtung einer nahe bei Agnone verlaufenden Verteidigungslinie („Barbara-Stellung“) eingesetzt waren, betraten am 6. Oktober 1943 das Kloster San Bernardino und ließen die Internierten frei. Einige von ihnen blieben in der dann von den Alliierten befreiten Zone und schlugen sich mit der Zeit Richtung Norden durch, als sich die Einheiten der Wehrmacht nach und nach zurückzogen. Andere versuchten sofort, Venetien und Friaul zu erreichen, und setzten damit angesichts der andauernden Kampfhandlungen sowie der stetigen Gefahr, von Behörden der neuen faschistischen Regierung (Repubblica Sociale Italiana, RSI) oder deutschen Einheiten aufgegriffen zu werden, ihr Leben aufs Spiel.

Nach dem Krieg

Unmittelbar nach dem Krieg wurde das Kloster San Bernardino in ein Internat umgewandelt und diente ab den 1970er-Jahren als Altersheim. Auf Initiative von Verbänden der Rom:nja und Sinti:ze wurde 2013 eine Gedenktafel in Erinnerung an das Konzentrationslager angebracht. Am 17. Mai 2018 fand eine Gedenkfeier statt, an der Aktivist:innen und Angehörige der ehemaligen Internierten teilnahmen.

Der erste Zeugenbericht über das Lager von Agnone stammt von der slowenischen Sintiza Zilka Heldt (unbekannt–unbekannt) und wurde 1975 von Donald Kenrick (1929–2015) und Grattan Puxon (geb. 1940) veröffentlicht. Zilka Heldt war zusammen mit ihrer Familie in der Provinz Ljubljana festgenommen worden, als sie fast noch ein Kind war. Ihre Beschreibung der Internierung in Agnone fiel nicht sehr negativ aus, und ihr Zeugenbericht, der nicht in angemessener Weise kontextualisiert wurde, trug indirekt dazu bei, dass die von Rom:nja und Sinti:ze in Italien erlittene Verfolgung verharmlost wurde. Völlig anders lautet der Zeugenbericht von Bruno Zlato Levak (unbekannt–unbekannt), der von dem im Lager erlittenen Hunger erzählt, wie auch der von Milka Goman (1920–2017), die mit ihrem nur wenige Monate alten Kind dort interniert war.

In der Nachkriegszeit geriet die Geschichte der in Agnone Internierten in Vergessenheit. Dieser Zustand dauerte mindestens bis ins Jahr 2005, als Milka Goman ihre Erlebnisse einer Gruppe von Forschenden erzählte, welche über illegale Siedlungen in der Hauptstadt Rom recherchierten, wo auch sie in ihrem Wohnwagen lebte. Dadurch kamen Milka Gomans „Rückkehr“ nach Agnone und ihre Begegnung mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat zustande, die ihr die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. In dem molisanischen Städtchen hatten schon gegen Ende der 1990er-Jahre auf Initiative eines Lehrers, Francesco Tanzj, und Schüler:innen des Gymnasiums von Agnone Nachforschungen im Stadtarchiv begonnen. Heute gibt es verschiedene Schriften, die von den Erfahrungen von Milka Goman und anderen in Agnone internierten Familien von Rom:nja und Sinti:ze erzählen.

Am 27. Januar 2013 wurde in Agnone eine Gedenktafel eingeweiht, die an die Internierung der Rom:nja und Sinti:ze erinnert.

Einzelnachweise

  • 1
    Mit Königlichem Gesetzesdekret vom 17. November 1938 wurde allen Juden:Jüdinnen die italienische Staatsbürgerschaft aberkannt, wenn sie diese nach dem 1. Januar 1919 erlangt hatten.
  • 2
    Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Massime, b. 117, fasc. Campobasso, s. fasc. Locali „La Manifattura Tabacchi“ di Boiano, von MI, DGPS, DAGER, sez. II, an Prefettura di Campobasso und Ufficio Internati Stranieri, Nr. 442/20817, 23 luglio 1941 [23. Juli 1941], Oggetto: Campo di concentramento di Boiano – Soppressione [Betreff: Konzentrationslager Bojano – Abschaffung].

Zitierweise

Paola Trevisan: Agnone, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1940
11. Juni 1940In Italien wird beschlossen, dass alle „verdächtigen Zigeuner“, insbesondere diejenigen ohne italienische Staatsangehörigkeit, auf Vorschlag des Präfekten in ein Konzentrationslager überführt werden können.
1941
23. Juli 1941Es wird beschlossen, dass in dem im Juni 1940 eingerichteten Konzentrationslager (campo di concentramento) Agnone, Italien, zukünftig nur noch Rom:nja und Sinti:ze interniert sein sollen.
16. August 1941Bis zum 24. August 1941 werden alle Rom:nja und Sinti:ze aus dem Konzentrationslager (campo di concentramento) Bojano, Italien, in das Lager Agnone überführt.
1943
8. September 1943Nach dem Sturz Benito Mussolinis am 25. Juli 1943 verhandelt die neue Regierung unter Marschall Pietro Badoglio mit den Alliierten. Der Waffenstillstand wird am 3. September 1943 unterschrieben und am 8. September bekannt gegeben. Am 10. September wird die Entlassung der „Staatsangehörigen eines Feindstaates“ aus den Konzentrationslagern (campi di concentramento) verordnet. Politisch Internierte und andere ‚Kategorien´ waren schon früher entlassen worden. „Zigeuner“ wurden nicht beachtet und kamen daher noch nicht frei.
12. September 1943Deutschland stellt nach dem Sturz Benito Mussolinis ehemals italienische Provinzen unter Militärverwaltung. Südtirol, Trentino und Belluno werden als „Operationszone Alpenvorland“ verwaltet, die Provinzen Udine, Görz, Triest, Pula und Fiume als „Operationszone Adriatisches Küstenland“.
23. September 1943Im Norden Italiens wird nach der Verkündung des Waffenstillstands und der Befreiung Mussolinis durch deutsche Fallschirmjäger die Repubblica Sociale Italiana (Italienische Sozialrepublik) gegründet, ein unter der Protektion Deutschlands stehender faschistischer Marionettenstaat.
2013
27. Januar 2013Vereine der Sinti:ze und Rom:nja bringen an den Stätten der ehemaligen Konzentrationslagern (campo di concentramento) in Tossicia und Agnone, Italien, Gedenktafeln an.
2018
17. Mai 2018Aktivist:innen und Angehörige von ehemaligen Internierten nehmen in Agnone, Italien, an einer Gedenkfeier zur Erinnerung an die im dortigen Konzentrationslager (campo di concentramento) interniert gewesenen Rom:nja und Sinti:ze teil.