Die Suche nach den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und die Klärung ihrer Schicksale war eine der großen Herausforderungen, mit der sich die alliierten Siegermächte nach Ende des Zweiten Weltkrieges konfrontiert sahen. Millionen Menschen, unter ihnen Zehntausende Sinti:ze und Rom:nja, warteten auf Nachrichten über verschleppte Partner:innen, Eltern, Kinder oder Geschwister. Zugleich versuchten die befreiten Überlebenden, ihre Familien zu kontaktieren und zu ihnen zu gelangen. Um dieser Situation zu begegnen, gründeten die Alliierten 1945 zunächst dezentrale Suchstrukturen. Aus diesen ging 1948 der International Tracing Service (Internationaler Suchdienst, ITS) im nordhessischen Arolsen (ab 1997 Bad Arolsen) in der damaligen amerikanischen Besatzungszone Deutschlands als zentraler Suchdienst für die Opfer der NS-Verfolgung hervor. Da schnell deutlich wurde, dass sehr viele Vermisste ermordet worden waren, galt die Suche auch Dokumenten, die Informationen zum Verbleib der Opfer enthielten und zur Schicksalsklärung genutzt werden konnten. Auf diese Weise entstand in Arolsen seit den späten 1940er-Jahren das weltweit größte Archiv zu Opfern der NS-Verfolgung, mit mehr als 30 Millionen Dokumenten, unter anderem zu Deportationen und der Inhaftierung in Konzentrationslagern, zur Zwangsarbeit von Ausländer:innen im Deutschen Reich, aber auch zur Betreuung der befreiten Displaced Persons durch die Alliierten.
Als Organisation der westalliierten Siegermächte positionierte sich der ITS an der Seite der Opfer. Dabei schloss der damalige Direktor Hugh G. Elbot (1911–1989) in einer Rede 1952 „Gypsies“1Arolsen Archives, 6.1.1/82507501/ITS Digital Archive, Manuskript einer Rede des US-amerikanischen ITS-Direktors Hugh G. Elbot anlässlich der Einweihung des neuen ITS-Hauptgebäudes, 20.08.1952. explizit mit ein. In der Auskunftspraxis wie beim Sammeln von Dokumenten konnte der ITS diesen Anspruch nicht für alle Opfer erfüllen, denn die Kommunikation mit und zu NS-Verfolgten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ in Mittel- und Osteuropa fand lange Zeit kaum statt. Mit Inkrafttreten des Deutschlandvertrags, in dem die drei westlichen Alliierten der Bundesrepublik Deutschland staatliche Souveränität zusprachen, musste dann 1955 ein neuer Träger für den Suchdienst gefunden werden. Da man die „archives of horror“ (Elbot) nicht wieder in deutsche Hände geben wollte, fiel die Trägerschaft an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf. Das IKRK stellte ab 1955 (bis 2012) die Direktoren, während die Bundesrepublik Deutschland die Einrichtung seither finanziert.
Schon vor diesem Leitungswechsel veränderten sich Anfang der 1950er-Jahre die Aufgaben des ITS: Die Mehrzahl der Anfragen und Auskünfte betraf nicht länger die Suche nach Vermissten, sondern die individuelle Dokumentation der Verfolgung in Form von Inhaftierungs- und Aufenthaltsbescheinigungen, die für Verfahren im Zusammenhang mit der Wiedergutmachung angefragt wurden. Während Hunderttausende politische Gegner:innen des NS-Regimes und Opfer des Holocaust durch die ITS-Auskünfte Ansprüche belegen konnten, betrachteten umgekehrt die Behörden westdeutscher Länder die Archivbestände in Arolsen vielfach als „von sehr großem Wert […] auch zur Ablehnung der Antragsteller, die keinerlei Berechtigung auf eine Entschädigung haben“.2Ebd., 11.26/5007-2, Landesamt für Wiedergutmachung und kontrolliertes Vermögen Rheinland-Pfalz an ITS, 09.05.1952. Hierzu zählten aus ihrer Sicht angesichts des eng definierten Verfolgtenbegriffs im Entschädigungsgesetz auch sehr viele Sinti:ze und Rom:nja, welche angeblich nicht „aus Gründen der Rasse“ in Konzentrationslagern inhaftiert worden seien. Der ITS zitierte in seinen Bescheinigungen stets wortgetreu aus den Dokumenten, die in den Konzentrationslagern verfasst worden waren, statt die Sprache dieser Dokumente zu erklären: „Kategorie, oder Grund für die Inhaftierung: ‚Zig. ASO‘ (Zigeuner, asozial)“3Ebd., 6.3.3.2/97644595/ITS Digital Archive, ITS-Inhaftierungsbescheinigung zu Rosa Mettbach, 24.05.1954. Vgl. zu diesem Fall auch Borggräfe, Höschler und Panek, Ein Denkmal aus Papier, 95–101.. In unzähligen Fällen lieferte die Auskunft aus Arolsen so Behörden und Gerichten in den 1950er- und 1960er-Jahren das zentrale Argument zur Abwehr der Ansprüche von Sinti:ze und Rom:nja. Persönliche Schilderungen der Verfolgung seitens der ehemaligen Häftlinge und ihrer Angehörigen oder Proteste gegen die aus den Täterdokumenten übernommenen Zuschreibungen konnten gegen die vermeintliche Objektivität der Bescheinigungen aus Arolsen kaum etwas ausrichten.
In den Entschädigungsverfahren westdeutscher Länder sahen sich Sinti:ze und Rom:nja zudem mit Rassismus konfrontiert. Pauschal wurde Angehörigen der Minderheit unterstellt, die tatsächlichen Gründe für erlittene Verfolgung zu verschleiern, an mehreren Orten Anträge parallel zu stellen oder durch Identitätswechsel Leistungen erschleichen zu wollen. In Württemberg-Baden und Bayern wurden ab 1950 sogar die Landeskriminalpolizeistellen damit beauftragt, angebliche Betrugsfälle aufzuspüren. Es waren oft dieselben kriminalpolizeilichen Strukturen und Personen, welche zuvor die Deportationen durchgeführt hatten, die nun den ITS kontaktierten, um persönliche Details über Antragsteller:innen in Erfahrung zu bringen.4Beispielhaft: Arolsen Archives, 6.3.3.2/89829422/ITS Digital Archive, Landesamt für Kriminalerkennungsdienst und Polizeistatistik Württemberg-Baden, Abt. I/5 an ITS, 09.10.1951; ebd., 6.3.3.2/92262316/ITS Digital Archive, Zentralamt für Kriminal-Identifizierung und Polizeistatistik des Landes Bayern, Abt. II/2 an ITS, 15.10.1952. Vgl. hierzu auch Margalit, Die Nachkriegsdeutschen, 144–148. Wie viele solcher Auskünfte der ITS erteilte, ist unbekannt. Deutlich ist jedoch, dass man diese Prüftätigkeit in Arolsen nicht infrage stellte. Im Gegenteil ist sogar mindestens ein Fall überliefert, wo der ITS einen Antragsteller, der Nachfragen zur Verfolgungsgeschichte der Sinti:ze und Rom:nja gestellt hatte, auf die ‚Experten‘ des „Referats Zigeunerfragen“ bei der Münchner Landeskriminalpolizei verwies.5Arolsen Archives, 6.3.3.2/105851830/ITS Digital Archive, ITS an Rechtsanwalt Hans-Jürgen Klemmt, 13.01.1961. Ich danke der Historikerin Sabine Moller für den Hinweis auf diesen Fall.
Die Auskünfte für Entschädigungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland dominierten die Arbeit des ITS bis Ende der 1960er-Jahre. Anschließend wandte sich die Einrichtung neuen Aufgaben zu und öffnete sich erstmals für historische Forschungen und Gedenkaktivitäten. Doch Anfang der 1980er-Jahre, als die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen erst richtig begann und die Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja sowie anderer ‚vergessener Opfer‘ öffentlich thematisiert wurde, vollzog die Leitung in Arolsen eine Kehrtwende und verschloss das Archiv für Forschung und Öffentlichkeit. Die Hintergründe waren komplex – das Selbstbild des IKRK als neutrale humanitäre Organisation spielte ebenso eine Rolle wie Interessen der Bundesregierung und strategische Abwägungen beim Sammeln weiterer Dokumente angesichts der neuen Bedeutung des Datenschutzes. Wichtig ist für den hier interessierenden Zusammenhang, dass durch die Sperrung zentraler Bestände zur Verfolgungsgeschichte der Sinti:ze und Rom:nja die Forschung und das Gedenken ein Vierteljahrhundert lang stark behindert wurden. Erst in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre gelang es durch öffentlichen Druck, das Archiv erneut zu öffnen. Seither hat die Einrichtung, die seit 2019 als Arolsen Archives firmiert, einen Transformationsprozess von einem abgeschotteten Suchdienst zu einem offenen Informationszentrum durchlaufen. Der Großteil der gut 30 Millionen Dokumente ist heute in einem Online-Archiv frei zugänglich.6Siehe https://collections.arolsen-archives.org.
Für Familienangehörige sind die Archivbestände und Auskünfte der Arolsen Archives nach wie vor von hoher Wichtigkeit. Für die Forschung liegt die Bedeutung des Archivs zum einen darin, dass es aufgrund der Erschließung über eine Zentrale Namenkartei einzigartige Recherchemöglichkeiten zu einzelnen Personen quer durch die Bestände eröffnet. Dies schließt mehr als 2,6 Millionen Tracing-/Documentation-Files mit der Korrespondenz zu einzelnen NS-Verfolgten seit 1945 mit ein, in denen für Tausende Sinti:ze und Rom:nja die fortwirkende Diskriminierung und Anerkennungskämpfe sichtbar werden. Zum anderen bieten die Archivbestände, die neben Originalunterlagen zu Deportationen und den Häftlingskarteien diverser Konzentrationslager auch zahlreiche Kopien von Erlassen und amtlicher Korrespondenz aus anderen Archiven umfassen, breite Möglichkeiten für themen- oder ortsbezogene Forschungen zur Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja im Deutschen Reich, aber auch darüber hinaus. In diesem Zusammenhang sei auf eine in Bad Arolsen überlieferte Sammlung von circa 155 000 Entschädigungsanträgen hingewiesen, welche die rumänische Regierung in den 1970er-Jahren an das Auswärtige Amt gesendet hatte. Hierunter befinden sich Tausende Anträge rumänischer Rom:nja. Fast alle Bestände der Arolsen Archives sind bereits gescannt und werden zunehmend tiefer erschlossen. In naher Zukunft wird es daher auch möglich sein, mithilfe des großen Datenbestands vergleichende Untersuchungen vorzunehmen, etwa zu Opfern der Verfolgungsaktionen im Deutschen Reich 1938, 1940 und 1943, zu Verfolgten aus unterschiedlichen Städten, Regionen und Ländern oder zu verschiedenen Alters-, Geschlechts- oder Berufsgruppen. Mit der stark wachsenden Verfügbarkeit digitalisierter Dokumente und Datensätze stellen sich aber auch neue ethische Herausforderungen, die weiter diskutiert werden müssen.