Die Zeitschrift Lacio Drom (auf Romanes: Gute Reise) erschien in den Jahren 1965 bis 1999 in zweimonatigem Rhythmus und trug viel dazu bei, der italienischen Öffentlichkeit den Genozid an den Rom:nja und Sinti:ze Europas zur Kenntnis zu bringen. Herausgeber war die Opera Assistenza Nomadi, später Opera Nomadi (Nomadenwerk), Erscheinungsort war zunächst Bozen, von 1967 bis 1970 Padua (Pädagogisches Institut der Universität Padua) und von 1971 bis 1999 Rom (Centro Studi Zingari [Zentrum für Zigeunerstudien].
Die Pädagogin Mirella Karpati (1923–2017) war Chefredakteurin, dem Förderkomitee der Zeitschrift gehörten Tullio De Mauro (1932–2017), Sergio Franzese (geb. 1958), Vittorio Giuntella (1913–1996), Giovanna Grenga (geb. 1954), Andrea Mauri (geb. 1965), Bruno Morelli (geb. 1957), Don Bruno Nicolini (1927–2012), Leonardo Piasere (geb. 1955), Don Gian Fausto Rosoli (1938–1998), Santino Spinelli (geb. 1964), Giulio Soravia (geb. 1944), Angela Tropea (geb. 1960), Giorgio Viaggio (geb. 1964) und Jane Dick Zatta (1947–2005) an.
Entstehung
Lacio Drom war im Zusammenhang mit einem für die Beziehungen zwischen Katholischer Kirche und Angehörigen der Minderheit sehr wichtigen Ereignis entstanden: der Begegnung zwischen Papst Paul VI. und Tausenden aus ganz Europa angereisten Rom:nja und Sinti:ze in Pomezia (einer Stadt südlich von Rom) am 26. September 1965.1Papst Paul VI., „Voi siete nel cuore della Chiesa“ [Ihr seid im Herzen der Kirche], Lacio Drom, Nr. 3 (1965): 7; Nr. 4 (1965): 4–9; siehe auch Campo internazionale degli zingari. Omelia di Paolo VI, 26.09.1965, https://www.vatican.va/content/paul-vi/it/homilies/1965/documents/hf_p-vi_hom_19650926_intmeeting-nomads.html [Zugriff: 20.02.2024]. Unter den Organisatoren der Begegnung waren Don Bruno Nicolini und Mirella Karpati, die als treibende Kräfte zahlreicher Initiativen – neben der Zeitschrift Lacio Drom auch des Centro Studi Zingari (1971–1999) und des Vereins Opera Nomadi – in Erscheinung traten.2Piasere, La chiesa nomade, 82 f.
Don Bruno Nicolini gründete 1963 in Bozen die zunächst regional, dann national tätige Opera Assistenza Nomadi (Hilfswerk für Nomaden), die 1970 zu einer nationalen gemeinnützigen Körperschaft erklärt wurde und sich Opera Nomadi nannte. Viele Jahre hindurch war der Verein Opera Nomadi bevorzugter Ansprechpartner des italienischen Staates in Fragen, die „Nomaden“ oder „Zigeuner“ betrafen. Aus diesem Grund wird heute sein Wirken von den von Rom:nja und Sinti:ze selbst gegründeten Vereinen, wie zum Beispiel dem Thèm Romanó, kritisch beurteilt.
Die Zeitschrift trägt den gleichen Namen wie die im selben Jahr in einigen italienischen Städten eröffneten Sonderklassen für „Zigeunerkinder“, mit deren Organisation und Aufsicht Karpati beauftragt war. Ihr Engagement für die Zeitschrift Lacio Drom und für die gleichnamigen Sonderklassen erfolgte parallel, und viele Artikel in der Zeitschrift sind dem Thema der Einschulung von Kindern der Rom:nja und Sinti:ze gewidmet.
Ein weiterer Schritt im Hinblick auf die Dokumentation von und Sensibilisierung zu Thematiken der Minderheit war die 1971 in Rom erfolgte Eröffnung des eng mit der Zeitschrift Lacio Drom verbundenen Centro Studi Zingari, das bis 1999 bestand.
Themen der Zeitschrift
Lacio Drom zeichnete sich dadurch aus, dass alle Themen, die Rom:nja und Sinti:ze in Italien betrafen, behandelt wurden, ohne dabei das, was sich ansonsten in Europa ereignete, aus den Augen zu verlieren. Artikel über Erfahrungen und Debatten in anderen europäischen Ländern wurden von Karpati selbst, die ein internationales Netzwerk von Partnerschaften und Kooperationen mit Vereinen und Forschenden aufgebaut hatte, ins Italienische übersetzt. Die Zeitschrift behandelte zahlreiche Sujets aus der Anthropologie, Kulturanthropologie, Soziologie, Sprachwissenschaft, Pädagogik und Didaktik, Psychologie, Geschichte und Sozialen Arbeit, berichtete über Konferenzen und Studientagungen, Recht und Politik, Prosa, Dichtung und Kunst, Pastoral, Romanipé-‚Zigeunertum‘, lokale Geschehnisse, ‚Zigeuner‘ in der Literatur und veröffentlichte Zeugenberichte sowie Nachrufe.3Verschiedene Autor:innen: „Indice 1965–1989; Indice per autori, Indice per materie.“ [Verzeichnisse 1965–1989; Autorenverzeichnis; Themenverzeichnis], Lacio Drom, Nr. 6 (1989): 49–84.
Veröffentlichungen über den Genozid
Über den Genozid an den Rom:nja und Sinti:ze Europas schrieb Karpati selbst seit 1965 einige zusammenfassende Studien.4Mirella Karpati, „Il nazismo e lo sterminio degli zingari,“ Lacio Drom, Nr. 3 (1965): 6–20; dies., „Pellegrinaggio nell’orrore,“ Lacio Drom, Nr. 1 (1981): 15–22; dies., „Il genocidio degli Zingari,“ Lacio Drom, Nr. 1 (1987): 6–34. Von besonderer Bedeutung waren die ersten Zeugenberichte über die Internierung der Rom:nja und Sinti:ze in Italien, die Karpati gesammelt hatte und ab den 1970er-Jahren in Lacio Drom veröffentlichte. Es sei hier an den Zeugenbericht von Bruno Zlato Levak (unbekannt–unbekannt) zu den Konzentrationslagern Jasenovac und Agnone5Bruno Zlato Levak, „La persecuzione degli Zingari: una testimonianza,“ Lacio Drom, Nr. 3 (1976): 2–3. erinnert, sowie an die Texte von Rave Hudorovich (unbekannt–unbekannt) und Bruno Braidich (unbekannt–unbekannt) zum Lager in Tossicia.6Rave Hudorović Rave, „Il racconto Rave,“ Lacio Drom, Nr. 1 (1983): 35–37; Bruno Braidić, „Ricordo del campo,“ Lacio Drom, Nr. 2–3 (1984): 50–54. Karpati fasste die von ihr gesammelten Zeugenberichte in einem 1984 veröffentlichten Artikel zusammen, in dem sie auch den Mangel an Forschungsarbeiten zu dem Thema hervorhob.7Mirella Karpati, „La politica fascista verso gli Zingari d’Italia,“ Lacio Drom, Nr. 2–3 (1984): 41–47.
1981 wurde in Lacio Drom ein Artikel von Primo Levi (1919–1987) veröffentlicht, der am 2. Dezember 1979 in der Tageszeitung La Stampa mit dem Titel „Der Zigeuner“ erschienen war. Darin erzählt Levi von der Begegnung mit einem Rom, der mit ihm in der gleichen Baracke im Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau inhaftiert war.8Primo Levi, „Lo Zingaro,“ Lacio Drom, Nr. 6 (1981): 26–29. Mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit wurden außerdem Beiträge von zahlreichen Forschenden aus verschiedenen Ländern zum Genozid an den Sinti:ze und Rom:nja veröffentlicht, etwa von Joan Cioaba (1935–1937), Karola Fings (geb. 1962), Pater Jean Fleury (1905–1982), Jean Gotovitch (geb. 1940), Ctibor Nečas (1933–2017), Miriam Novitch (1908–1990), Boris Pahor (1913–2022), Grattan Puxon (geb. 1940), Erika Thurner (geb. 1952), Michael Zimmermann (1951–2007) und vielen anderen.9Siehe Bibliografie.
Bedeutung von Lacio Drom
Dem Reichtum an Informationen und Zeugenberichten, der in Lacio Drom enthalten ist, wurde bislang nur ungenügend Beachtung geschenkt, und es fehlt eine Gesamtbewertung der Rolle, welche die Zeitschrift in Italien und in Europa innehatte. Daher besteht die Gefahr, dass das von ihr versammelte Wissen zerstreut wird. Heute sind alle Ausgaben von Lacio Drom lediglich bei der Fondazione Fossoli, der Stiftung des ehemaligen Konzentrationslagers Fossoli bei Modena, archiviert. Mirella Karpati hat sie der Stiftung persönlich übergeben, zusammen mit der gesamten Bibliothek und der Dokumentation des Centro Studi Zingari.10Fondazione Fossoli, Il Patrimonio come risorsa. La biblioteca del Centro Studi Zingari [Das Erbe als Ressource. Die Bibliothek des Zentrums für Zigeunerstudien], 20.11.2018, https://www.fondazionefossoli.org/news-ed-eventi/news/20-novembre-2018-il-patrimonio-come-risorsa-la-biblioteca-del-centro-studi-zingari/ [Zugriff: 20.02.2024].