Rivesaltes

Logo
Suche
Rivesaltes
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 11. Februar 2025

Das am 14. Januar 1941 eröffnete Lager Rivesaltes, gelegen in den südlichen Pyrenäen Frankreichs, war bis zu seiner Auflösung am 22. November 1942 das wichtigste Zwangslager für ‚Nomades‘ in dieser Region.

Netz von Internierungslagern im Pyrénées-Orientales

Im Departement Pyrénées-Orientales hat das Netz von Internierungslagern, das das Vichy-Regime gegen die ‚Nomads‘ einsetzte, seine Wurzeln in der politischen Reaktion der Dritten Republik auf die Folgen des Spanischen Bürgerkrieges. Überwältigt von der Ankunft der zahlreichen republikanischen Flüchtlinge und besiegten Soldaten, errichteten die französischen Behörden in aller Eile behelfsmäßige Internierungslager entlang der Küste des Roussillon: Argelès, Saint-Cyprien, Le Barcarès und Agde wurden zu diesem Zweck im Februar 1939 eingerichtet. Nach der Niederlage Frankreichs im Jahr 1940 beschloss das Vichy-Regime, in diesen Lagern ‚unerwünschte‘ Personen wie Jüdinnen:Juden aus Deutschland und Mitteleuropa sowie andere Flüchtlingskategorien zu internieren. Am 28. September 1940 ordnete ein Rundschreiben des Innenministeriums über die Behandlung der im Sommer 1940 von den Deutschen aus dem Elsass und Lothringen vertriebenen Bevölkerung an, dass die ‚Nomades‘ aus dem Elsass und Lothringen in das Lager von Argelès gebracht werden sollten. 

Ab Oktober 1940 waren Argelès und Agde die beiden Hauptinternierungslager für Sinti:zeRom:nja und Jenische, aber die Überlieferung in den Archiven, die ihre Anwesenheit dokumentieren, ist sehr lückenhaft. Anfang November 1940 gab ein Bericht des Internationalen Roten Kreuzes an, dass 382 ‚Nomades‘ aus dem Elsass und Lothringen in Argelès interniert waren, und zwar in einem bestimmten Bereich des Lagers, in dem die Lebensbedingungen besonders katastrophal waren und zu mehreren Ausbrüchen von Diphtherie und Masern führten. Die Sterblichkeitsrate war hoch und betraf hauptsächlich Kinder; zwischen Oktober 1940 und Juli 1941 wurden im Lagerkrankenhaus 23 Todesfälle registriert. Darüber hinaus verursachte eine schwere Überschwemmung im Oktober 1940 erhebliche Sachschäden in Teilen des Lagers. Die Behörden nutzten Argelès auch zur Internierung von wandernden Familien mit Verbindungen nach Spanien und von ‚Nomades‘, die von den Präfekten anderer Departements in der unbesetzten Zone nach einem Zwangsweisem Aufenthalt dorthin verlegt wurden. Im gleichen Zeitraum wurde das Lager von Agde auch für die Aufnahme von ‚Nomades‘ genutzt, die aus dem Elsass und Lothringen vertrieben worden waren; am 28. November 1940 waren 231 ‚Nomades‘ aus diesen Regionen im Lager registriert. Unter ihnen befanden sich Charles Meckes (1911–unbekannt), Geneviève Meyer (1914–unbekannt) und ihre beiden Kinder Charles (1934–unbekannt) und Xavier (1935–unbekannt), eine jemenitische Korbmacherfamilie, die vor dem Krieg in einem Wohnwagen in den Vororten von Haguenau gelebt hatten. Mit der Eröffnung des Lagers von Rivesaltes im Januar 1941 wurden die Internierten aus Agde und Argelès nach und nach dorthin verlegt; am 15. Januar 1941 verzeichnete das Eingangsregister des Lagers von Rivesaltes 93 ‚Nomades‘ aus Agde und am 20. Juni 1941 448 Internierte aus Argelès.

Lager Rivesaltes

Das Lager von Rivesaltes, auch bekannt als ‚Camp Joffre‘ – nach Joseph Joffre (1852–1931), einem siegreichen französischen General des Ersten Weltkrieges –, wurde 1935 vom Kriegsministerium zunächst für militärische Zwecke geplant. Während des Baus hatten die französischen Behörden aufgrund der für die Region Pyrénées-Orientales typischen Unwetter mit logistischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die in der Nähe der Stadt Perpignan gelegene, 6 Quadratkilometer große und 150 Baracken umfassende Anlage, die auf einer ausgedehnten, von starken Winden heimgesuchten Buschlandschaft errichtet wurde, diente unter dem Vichy-Regime als Internierungslager für die Zivilbevölkerung. In weniger als zwei Jahren wurden insgesamt 17 500 Personen in Rivesaltes interniert; mehr als 9 000 Spanier, 7 000 Juden und fast 1 400 ‚Nomades‘ durchliefen dieses Lager zwischen Januar 1941 und November 1942. Die ‚Nomades‘ waren bis August 1942 hauptsächlich im Block (îlot) K untergebracht, der für die Internierung jüdischer Familien genutzt wurde, die während der Massenverhaftungen im Sommer 1942 in Südfrankreich festgenommen worden waren.

Rivesaltes war nie das einzige aktive Lager in der Region, in dem ‚Nomades‘ interniert waren; eine Verlegung von Internierten zwischen Rivesaltes, Argelès, Le Barcarès und Gurs fand häufig statt und führte zur Trennung vieler Familien. Die Zeugenaussagen der Überlebenden berichten von den prekären Lebensbedingungen im Lager und den zahlreichen Versuchen der internierten Familien, zu ihren in Städten wie Lyon versteckten Verwandten zu fliehen oder über die Demarkationslinie ins Elsass zurückzukehren. Mehr als die Hälfte der Internierten von Rivesaltes hat mindestens einmal versucht zu fliehen. Dies war so bei Antoine Weiss (1897–unbekannt) und seiner Familie, die in der Nähe von Dijon erneut verhaftet und am 10. September 1941 im Lager Arc-et-Senans interniert wurden. Insgesamt starben in Rivesaltes 34 ‚Nomades‘, hauptsächlich Kinder und ältere Menschen. Angesichts dieser Lebensbedingungen engagierten sich mehrere Hilfsorganisationen im Lager, um den Internierten zu helfen. Friedel Bohny-Reiter (1912–2001) vom Schweizerischen Kinderhilfswerk dokumentierte ihre Tätigkeit in einem veröffentlichten Tagebuch und in zahlreichen Fotos von ‚Nomades‘ aus dem Elsass, die in das Lager aufgenommen wurden. Ab dem Sommer 1942 war Rivesaltes auch der Haupttransitort, an dem das Vichy-Regime die in der unbesetzten Zone zusammengetriebenen jüdischen Familien sammelte; für die meisten von ihnen waren die nächsten Stationen Drancy und Auschwitz.

Am 25. März 1942 fand in Vichy ein Treffen zur Regelung der ‚Nomadesfrage‘ in der unbesetzten Zone statt. Im Anschluss an diese Konferenz beschlossen die Behörden von Vichy den Bau eines neuen Internierungslagers in der Camargue und die Verlegung der ‚Nomades‘ aus Rivesaltes. Im November 1942, nach dem Einmarsch der Deutschen und Italiener in die unbesetzte Zone, wurde das Lager von den deutschen Einheiten übernommen, und am 22. November wurden die 299 ‚Nomades‘, die sich noch in Rivesaltes aufhielten, in das Internierungslager Saliers am Rande von Arles in den Bouches-du-Rhône verlegt.

Nachwirkungen

Nach dem Krieg wurde das Lager von Rivesaltes von den französischen Behörden weiterhin zur Internierung von Zivilisten genutzt, darunter sogenannte ‚Harki‘-Familien – algerische Araber, die während des Algerienkrieges (1954–1962) in der französischen Armee gedient hatten und 1962 aus Algerien flohen. Die Geschichte des Lagers unter dem Vichy-Regime geriet allmählich in Vergessenheit, bis in den 1990er Jahren eine lokale Zeitung über die Entdeckung von Archivmaterial der Lagerverwaltung berichtete, das sich mit der Deportation der jüdischen Familien befasste. Das ehemalige Gelände des Lagers Rivesaltes, das bis 2007 als Verwaltungsgefängnis für illegale Einwanderer genutzt wurde, zog zunehmend das Interesse von Politikern, Gedenkvereinen und Überlebenden der Deportation auf sich. Im Jahr 1994 wurde auf Initiative von Serge Klarsfeld (geb. 1935) eine erste Stele zum Gedenken an die vom Lager Rivesaltes nach Auschwitz deportierten Jüdinnen:Juden aufgestellt. Aufgrund seiner besonderen Geschichte ist das Lager Rivesaltes ein Ort, an dem mehrere kollektive Erinnerungen zusammenlaufen, und verschiedene Gedenkinitiativen folgten, darunter ein Projekt von 1999 für ein Denkmal zur Erinnerung an die spanischen Republikaner und eines für ein Denkmal für die Harkis im Jahr 2019. Im Jahr 2009 wurde ein Denkmal zur Erinnerung an die Internierung der ‚Nomades‘ errichtet. Im Jahr 2015 wurde die Gedenkstätte des Lagers Rivesaltes eingeweiht, die der Bewahrung und Verbreitung dieser vielfältigen kollektiven Erinnerungen gewidmet ist. Für die künftige historische Forschung über das Schicksal der internierten ‚Nomades‘ wurde 2020 ein entscheidender Meilenstein erreicht, als das Departementsarchiv der Pyrénées-Orientales eine Online-Datenbank über die 94 000 Internierten veröffentlichte, die während des Zweiten Weltkrieges die Lager Rivesaltes und Argelès durchlaufen haben.

Zitierweise

Théophile Leroy: Rivesaltes, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 11. Februar 2025.-

1941
14. Januar 1941Eröffnung des Lagers Rivesaltes in Vichy-Frankreich. Während seines Bestehens durchlaufen fast 1400 „Nomades“ dieses Lager.
20. Juni 1941Das Eingangsregister des Lagers Rivesaltes in Vichy-Frankreich verzeichnet die Ankunft von 448 „Nomades“ aus dem Internierungslager in Argelès-sur-Mer.
1942
22. November 1942Das Lager Rivesaltes in Vichy-Frankreich wird geschlossen und 299 „Nomades“ werden in das Lager Saliers verlegt.