Am 2. November 1942 setzte das Präsidium des Obersten Sowjets der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) die „Außerordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung der von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Komplizen begangenen Gräueltaten sowie des Schadens, den sie den Bürgern, Kolchosen, gesellschaftlichen Organisationen, staatlichen Betrieben und Einrichtungen der UdSSR zugefügt haben“[Črezvyčajnaja gosudarstvennaja komissija po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fašistskich zachvatčikov i ich soobščnikov i pričinёnnogo imi uščerba graždanam, kolchozam, obščestvennym organizacijam, gosudarstvennym predprijatijam i učreždenijam SSSR, russisch mit ČGK abgekürzt, im Folgenden ASK] ein.
Die Kommission hatte die Aufgabe, Kriegsverbrechen an Kriegsgefangenen und Zivilist:innen zu untersuchen und zu erfassen, Listen von ermordeten Opfern und zur Zwangsarbeit deportierten Menschen zu erstellen, Täter:innen und „Mutterlandsverräter“ zu identifizieren und den während der Besatzung entstandenen materiellen Schaden zu beziffern. Die Ergebnisse wurden zur Strafverfolgung, für Propagandazwecke und für Entschädigungsforderungen verwendet. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam die Ermittlungstätigkeit zum Erliegen und die Arbeit beschränkte sich fortan auf die Auswertung und Verarbeitung des Materials. Im Sommer 1951 wurde die ASK aufgelöst und ihre Unterlagen wurden vom Innenministerium der UdSSR übernommen. Die Sammlung der ASK diente jedoch bis 1991 und in vielerlei Hinsicht auch in den Jahren danach als wichtigste Referenz für die offizielle Darstellung der Kriegsgräuel in der Sowjetunion.
Aufbau und Arbeitsweise
Die ASK hatte eine pyramidenförmige Struktur. Dem Vorsitzenden Nikolaj Michajlovič Švernik (1888–1970) standen in Moskau neun weitere Mitglieder zur Seite, die in der sowjetischen Gesellschaft eine prominente Rolle spielten, wie der Chirurg Nikolaj Nilovič Burdenko (1876–1946) und der Schriftsteller Aleksej Nikolaevič Tolstoj (1883–1945). Die zentrale ASK wurde von einem Netz von Republikkommissionen unterstützt, die ihrerseits auf die Beiträge von Hilfskommissionen auf den Kraj-, Oblast- und Rajon-Ebenen angewiesen waren, was die Mitarbeit einfacher Bürger:innen vor Ort voraussetzte. So sollen Berichten zufolge allein in der ukrainischen Oblast Žytomyr [russisch: Žitomir], dem Sitz einer der 98 regionalen und speziellen Hilfskommissionen, die im Laufe des Krieges eingerichtet wurden, bis zu 5 000 Personen an der Untersuchung von Gewaltverbrechen beteiligt gewesen sein. Im Gegensatz dazu arbeiteten in der zentralen Archivabteilung der ASK nie mehr als 14 Mitarbeiter:innen, die dafür zuständig waren, all die Unterlagen, die nach Moskau strömten, irgendwie zusammenzufügen. Infolgedessen war die ASK ein Projekt, das die sowjetischen Beamt:innen nie vollständig unter Kontrolle hatten.
Švernik informierte im Dezember 1945 Iosif Vissarionovič Stalin (1878–1953), dass sieben Millionen Menschen insgesamt 54 000 offizielle Berichte und 250 000 Aussagen von Augenzeug:innen gesammelt hatten.
Die Ergebnisse wurden von der Zentralkommission zusammengefasst und für die Veröffentlichung aufbereitet, wobei auch vor erheblichen Manipulationen nicht zurückgeschreckt wurde, um den gewünschten Propagandaeffekt zu erzielen. Die ethnische Identität der Opfer wurde manchmal entfernt. Ermordete Juden:Jüdinnen und Rom:nja, die von lokalen Kommissionen als solche benannt worden waren, wurden zu „friedlichen Sowjetbürgern“. Die bekannteste Manipulation war der Bericht der Katyn-Kommission, in dem die Ermordung Tausender polnischer Offiziere in der Nähe von Smolensk durch den sowjetischen NKVD im Jahr 1940 absichtlich in ein Verbrechen umgedeutet wurde, das von den deutschen Besatzern nach Juni 1941 begangen worden sein soll. Bis fast zum Ende ihrer Existenz beharrte die UdSSR auf dieser Version. Erst 1990 erkannte Michail Gorbatschow [russisch: Michail Sergeevič Gorbačёv] (1931–2022) die sowjetische Verantwortung an.
Die propagandistische Instrumentalisierung durch die Zentral- und Oblastkommissionen führte unter Historiker:innen zu großer Skepsis gegenüber dem Quellenwert des ASK-Materials. Tatsächlich können Forscher:innen die wechselnden politischen Motivationen umgehen, indem sie direkt auf das Rohmaterial der ASK zurückgreifen. Doch auch dieser ungefilterte Quellentyp verursacht Probleme, die in der Geschichtsschreibung diskutiert werden. Neben Ungenauigkeiten in Bezug auf Zeit, Ort und Täter:innen von Massenverbrechen bestand ein Hauptproblem darin, dass manche Rajonkommissionen dazu tendierten, die Zahl der Opfer zu hoch anzusetzen. Die Heterogenität der ASK-Kommissionen erlaubt indes keine pauschale Bewertung. Eine kritische Analyse des Materials unter Einbeziehung weiterer Quellen ermöglicht es, zahlreiche lokale Kommissionsergebnisse zu verifizieren, wie juristische Untersuchungen und historiographische Beiträge der Nachkriegszeit gezeigt haben. Die französische Organisation Yahad-In Unum nutzte das ASK-Material als Ausgangspunkt für ihre Feldforschungen und Befragungen in Osteuropa, bei denen sie sogar Massengräber identifizieren konnte, die bis dahin nicht gekennzeichnet oder gar unbekannt waren.
Dokumentierung der Verfolgung und Ermordung von Rom:nja
Das ASK-Rohmaterial ist auch in Bezug auf die nationalsozialistischen Gräueltaten an sowjetischen Rom:nja von Bedeutung, auch wenn nicht alle Rajonkommissionen dieser Opfergruppe größere Aufmerksamkeit schenkten. So wurden beispielsweise die ASK-Opferlisten sämtlicher Rajons in der Oblast Voronež, Russland, ohne Angabe der Nationalität erstellt, sodass Informationen über die Verfolgung der dortigen Rom:nja ausschließlich aus anderen Quellen stammen, wie im Fall von Šeljakino. Insofern ist generell davon auszugehen, dass sich unter den namentlich bekannten Opfern weitere Rom:nja befinden.
In deutlichem Kontrast dazu führte die ASK in der Oblast Smolensk intensive Untersuchungen über den Völkermord an den Rom:nja durch. Dies könnte damit zusammenhängen, dass hier vor dem Krieg mehrere „nationale Zigeunerkolchosen“ gegründet worden waren. Die bei weitem umfangreichste Untersuchung wurde in Aleksandrovka bei Smolensk durchgeführt, wo überlebende Rom:nja, die Mitglieder der Kolchose waren, selbst den Antrag auf eine Untersuchung des Massakers bei der ASK eingereicht hatten. Durch Aussagen von Angehörigen und Augenzeug:innen sowie die Exhumierung der beiden Massengräber durch die ASK konnten die meisten der 176 ermordeten Rom:nja identifiziert werden.
Ähnlich intensiv war die ASK-Untersuchung des deutschen Massenmordes an Rom:nja in Novoržev und Puškinskie Gory, beide in der heutigen Oblast Pskov. Im Fall von Novoržev wird die Tatsache der Massenerschießung durch Wehrmachtberichte bestätigt, wenngleich sich die Angaben über den Ablauf der Ereignisse, das Motiv und die Opferzahl unterscheiden. In anderen Fällen belegen so genannte Trophäendokumente deutscher Herkunft die Richtigkeit von ASK-Zeugenaussagen. Mehrere Überlebende aus verschiedenen Teilen der ehemals deutsch besetzten Gebiete beschrieben Plakate, auf denen „Zigeuner“ aufgefordert wurden, sich zum Zwecke ihrer angeblichen „Umsiedlung“ zu registrieren. Die wahre Bedeutung solcher Befehle, die auf die vollständige Fortschaffung zur Vernichtung abzielten, ist aus der nationalsozialistischen Verfolgung sowjetischer Juden:Jüdinnen bekannt. Im Fall von Černihiv [russisch: Černigov], Ukraine, ist einer dieser Aufrufe an die Rom:nja der Stadt und Umgebung, der vom örtlichen Chef der Sicherheitspolizei im Juni 1942 unterzeichnet wurde, als Beweisstück erhalten geblieben.
In vielen Fällen sind die ASK-Dokumente die einzige Quelle, die Massenerschießungen von Rom:nja in bestimmten Gebieten erwähnt. Aber auch das Gegenteil ist anzutreffen. Im Fall von Demidov wird die Deportation und Ermordung von Juden:Jüdinnen und Rom:nja im April 1942 nur in den Berichten der deutschen Täter erwähnt, während weder die ASK noch andere sowjetische Behörden dieses Verbrechen anschließend untersuchten. Ähnliche Beispiele finden sich in Kuščëvskaja, Krasnogvardejsk und anderen Orten.
In offiziellen sowjetischen Erklärungen werden die chaotischen Elemente der ASK-Arbeit deutlich, wenn es um die Opfergruppe der Rom:nja geht. Im Kraj Stavropol‘ beispielsweise ist in mehreren Zeugenaussagen von Massakern an Rom:nja die Rede, wie in Vorošilovsk. Im Kommuniqué, das am 5. August 1943 in den Zeitungen Pravda, Izvestija und Krasnaja zvezda veröffentlicht und zwei Tage später in englischer Sprache verbreitet wurde, werden diese Morde jedoch mit keinem Wort erwähnt. Das nächste ASK-Kommuniqué über die Oblast Orël bietet einen interessanten Kontrast. Hier wird in Zeugenaussagen und forensischen Berichten die Vernichtung von Rom:nja detailliert beschrieben, wobei die Gerichtsmediziner die bei den Leichen entdeckten Passdaten dokumentieren. In diesem Fall wurden die ermordeten Rom:nja, die in einer zitierten Zeugenaussage Erwähnung fanden, in dem am 7. September 1943 auf Russisch und Englisch veröffentlichten Kommuniqué thematisiert. Das ein Jahr später veröffentlichte ASK-Kommuniqué über die Oblast Pskov war sogar noch deutlicher. „Mit besonderem Sadismus und Brutalität hat die deutsche Militärkommandantur Zigeuner, darunter auch Frauen und Kinder, erschossen”, heißt es in dieser Veröffentlichung. „Sie wurden nur deshalb erschossen, weil sie Zigeuner waren“.1„Soobščenie Črezvyčajnoj gosudarstvennoj komissii“, Izvestija/Krasnaja zvezda, 29. August 1944, 3; Pravda, 30. August 1944, 3; „Statement of the Extraordinary State Committee”, Embassy of the Union of Soviet Socialist Republics Information Bulletin, 6. September 1944, 4. In Bezug auf Lettland, wozu die ASK-Dokumentation auch Aussagen überlebender Rom:nja enthält, schweigt das veröffentlichte Kommuniqué jedoch erneut über die Verfolgung der Rom:nja. Letztlich wird in den ASK-Veröffentlichungen aus der Kriegszeit nur zweimal ausdrücklich auf Rom:nja eingegangen. Angesichts des Befundes, dass in 13 der insgesamt 27 Kommuniqués, die zwischen 1943 und 1945 herausgegeben wurden, Juden:Jüdinnen in irgendeiner Weise Erwähnung finden, widmete die ASK dieser Opfergruppe eindeutig mehr Aufmerksamkeit als den ermordeten Rom:nja. In beiden Fällen sah die ASK indes die Gefahr, dass die Fokussierung auf die Verfolgung bestimmter Opfergruppen von den Narrativen über das gesamtsowjetische Leid ablenkte, mit denen die Kriegsanstrengungen gesteigert werden sollten. Zudem gab es keine einflussreichen Communitys der Rom:nja oder Vertretungen im Ausland, an die sich Stalins Regierung hätte wenden können, und somit auch kein Pendant zum Jüdischen Antifaschistischen Komitee.
Nürnberger Prozesse
Wie sehr sich die sowjetischen Narrative, ähnlich wie die Kriegsgeschichten in anderen Teilen der Welt, im Fluss befanden, wurde beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg deutlich. Bei der Ausarbeitung der Anklageschrift bestanden die sowjetischen Vertreter darauf, neben „Juden, Polen und Zigeunern“ auch „Slawen“ in die Liste der von Massenvernichtung betroffenen Gruppen aufzunehmen. Zu Beginn des Prozesses forderte Raphael Lemkin (1900–1959) eine ähnlich weitreichende Charakterisierung des Begriffs „Völkermord“.2Hirsch, Soviet Judgment at Nuremberg, 101, 318, 340. Im Gerichtssaal legte ein sowjetischer Ankläger deutsche, von der ASK beglaubigte Unterlagen vor, die die Zwangssterilisation einer Romni in Lettland behandelten.
Im Nürnberger Einsatzgruppenprozess (Fall 9) von 1947/48 spielten ASK-Materialien – neben erbeuteten deutschen Täterdokumenten – erneut eine entscheidende Rolle. Otto Ohlendorf (1907–1951), der ehemalige Chef der Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD, wurde unter anderem über die Massenvernichtung von Rom:nja im Allgemeinen und in Simferopol‘ auf der Krim im Besonderen verhört. Dieser Aspekt hatte jedoch keinen direkten Einfluss auf das endgültige Urteil des Gerichts.
Aufbewahrung und Zugänglichkeit der Akten
Ungeachtet der Tatsache, dass die ASK-Materialien während der Nürnberger Prozesse den Kern der sowjetischen Anklage gebildet hatten, blieben sie bis zum Zusammenbruch der UdSSR für die unabhängige Forschung unzugänglich. Ab den späten 1960er Jahren entstand jedoch eine relativ umfangreiche westdeutsche Parallelsammlung, als die Sowjetunion einem Rechtshilfeersuchen zustimmte und der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg Einsicht in die Ermittlungsergebnisse der ASK und sogar des Komitees für staatliche Sicherheit [Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti, KGB] gewährte. In einigen Fällen dienten ehemalige ASK-Zeug:innen als Belastungszeug:innen in bundesdeutschen Verfahren gegen ehemalige NS-Täter:innen.
Mit der Öffnung der osteuropäischen Archive nach dem Ende des Kalten Krieges wurden die ASK-Dokumente über Gewaltverbrechen vollständig zugänglich. Heute werden die Materialien der zentralen ASK im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation [Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii, GARF] in Moskau aufbewahrt; parallele Sammlungen und zusätzliches Material werden in Staats-, Oblast- und Kommunalarchiven der Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR aufbewahrt. Umfangreiche Kopien-Sammlungen von ASK-Dokumenten finden sich im World Holocaust Remembrance Center Yad Vashem in Jerusalem, Israel, und im United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC, USA.