Margarete „Ceija“ Stojka, geboren am 23. Mai 1933 in Kraubath an der Mur, Österreich, war eine herausragende Romani-Autorin und Künstlerin. In ihren biografischen Prosatexten, Gedichten und Bildern veröffentlichte sie als eine der ersten österreichischen Romnja ihre Erfahrungen als Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung und trug damit maßgeblich zur Sichtbarkeit und Anerkennung des Völkermords an Rom:nja und Sinti:ze bei. Sie wurde zu einer zentralen Stimme der europäischen Romani-Geschichtsschreibung und hinterließ mit ihrem künstlerischen Schaffen ein bedeutendes erinnerungskulturelles Erbe. Ceija Stojka engagierte sich außerdem in der historisch-politischen Bildungsarbeit und in Selbstorganisationen der Rom:nja und Sinti:ze. 2009 wurde sie mit dem Berufstitel Professorin durch das österreichische Ministerium für Unterricht, Kunst und Kultur geehrt.
Kindheit, Familie und NS-Verfolgung
Ceija Stojka wuchs mit ihren fünf Geschwistern Marija „Mitzi“ (geb. 1926), Katharina „Kathi“ (geb. 1927), Johann „Hansi“ (auch „Mongo“ genannt) (1929–2014), Karl „Karli“ (1931–2003) und Josef „Ossi“ (1935–1943) in einer fahrenden und handeltreibenden Lovara-Familie auf. In ihren Darstellungen der Zeit vor der Verfolgung entfaltet sie Bilderwelten von Natur und Naturverbundenheit, Humor und Freude sowie dem fahrenden Alltagsleben und der Zusammengehörigkeit, die sie in ihrer Romani-Familie und Gemeinschaft erlebt hatte. Sie schildert eine friedliche Zeit und glückliche Kindheit.1Stojka, Auschwitz ist mein Mantel, 11–18; Stojka et. al., Meine Wahl zu schreiben.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 und dem Beginn der direkten Verfolgung änderte sich die Lebenssituation der Familie Stojka grundlegend.2Stojka, Wir leben im Verborgenen. Die zunehmende Entrechtung spiegelte sich auch im alltäglichen Umgang der Menschen mit Rom:nja und Sinti:ze wider; die Familie war nicht mehr in der Lage, durch das reisende Gewerbe ihre Lebensgrundlage zu sichern. Daher musste sie 1939 nach Wien ziehen und ihren Wagen zu einer Holzhütte umbauen, in der sie fortan lebte. Als erstes Familienmitglied wurde Karl „Wakar“ (oder „Wacker“) Horvath (1908–1942), der Vater von Ceija Stojka, im Januar 1941 in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Nach mehrwöchigen Haftzeiten in den Konzentrationslagern Neuengamme und Sachsenhausen wurde er am 28. November 1942 von Dachau aus im Rahmen der Mordaktion „14f13“ in die Tötungsanstalt Hartheim verbracht und dort am selben Tag ermordet.3Vgl. Danckwortt, Der Boden unter unseren Füßen, 36f.
Nach Erinnerungen von Ceija Stojka umstellte die Gestapo bald nach der Deportation des Vaters ihr Häuschen mit einem Drahtzaun und verbot ihnen, sich außerhalb der Umzäunung aufzuhalten. Eines Tages wurde Ceijas Großmutter väterlicherseits, Helene „Baranka“ Huber (1874–ca. 1941/42), als sie sich aus dem Haus schlich, um für die Familie Lebensmittel zu beschaffen, von der Gestapo gefasst. Sie überlebte nicht.4Die Großmutter wurde vermutlich – wie die Großeltern mütterlicherseits – im November 1941 in das Getto Litzmannstadt deportiert, und starb entweder im Getto oder wurde im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Vgl. ebd., 23. Kurz darauf wurde auch Ceija Stojkas ältere Schwester Kathi Horvath verhaftet und in das Zwangslager Lackenbach eingewiesen. Um den regelmäßigen Razzien und einer Verhaftung zu entgehen, versteckte sich Ceija Stojkas Mutter Maria „Sidonie“ Stojka (1906–1972) mit den verbliebenen Kindern wochenlang unter Laubdecken im nahegelegenen Kongresspark.
Deportation nach Auschwitz
Im März 1943 wurde die 10-Jährige Ceija Stojka mit ihrer Mutter und den Geschwistern in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Hier begegnete sie ihrer Schwester Kathi wieder. Im Steinbruch des Lagers leistete Ceija Stojka mit ihrem jüngsten Bruder Ossi Stojka schwere Zwangsarbeit. Der Lageralltag war von Gewalt, Hunger und Entwürdigung bestimmt; auch grassierten Seuchen wie die Noma-Krankheit, Typhus, Fleckfieber und Krätze. Ossi Stojka erkrankte an Typhus und überlebte die Infektion nicht.
Nachdem die Auflösung des Lagerabschnitts BIIe, in dem Rom:nja und Sinti:ze inhaftiert waren, beschlossen worden war, selektierte die SS (Schutzstaffel) arbeitsfähige von nicht arbeitsfähigen Menschen und brachte sie vor ihrer Verbringung in andere Lager für eine kurze Zeit im Stammlager Auschwitz unter, bevor die Zurückgebliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 ermordet wurden. Sidonie Stojka rettete ihrer Tochter Ceija das Leben, indem sie ihr riet, sich als 16-Jährige auszugeben. Ceija Stojka erinnerte sich in ihrer Autobiografie: „Der kurze Aufenthalt in Auschwitz war grauenvoll, wir hörten von den anderen, dass die in Birkenau Zurückgebliebenen noch am selben Tag vergast wurden. Der Wind brachte den Geruch bis zu uns herüber. Tränen flossen in Strömen.“5Stojka, Wir leben im Verborgenen, 31. Als arbeitsfähig eingestuft wurden Ceijas Brüder Mongo und Karli Stojka nach Buchenwald und Flossenbürg deportiert und Ceija Stojka, ihre Schwester Kathi und ihre Mutter in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verbracht. In Ravensbrück musste Ceija Stojka unter anderem in der Nähstube arbeiten und entging dank eines Stromausfalls knapp der Zwangssterilisation.
Anfang 1945 wurden Sidonie und Ceija Stojka in das Konzentrationslager Bergen-Belsen verlegt.6Ceija Stojka nannte in Träume ich, dass ich lebe den Januar 1945 als den Zeitpunkt der Verlegung; vermutlich war es der März 1945, vgl. Danckwortt, Der Boden unter unseren Füßen, 39. In diesem Lager herrschten verheerende Zustände, die zu massenhaftem Sterben durch Unterernährung und Krankheiten führten. In Bergen-Belsen linderte Ceija Stojka ihren qualvollen Hunger dank der Blätter und des Harzes ihres „Lebensbaums“. Der Baum taucht in ihren Schriften und Gemälden wiederholt als Symbol des Überlebens auf. Später zeichnete sie in ihrer persönlichen Signatur der Kunstwerke zumeist einen kleinen Ast über ihren Namen und setzte so auf das dargestellte Grauen die Kraft und Hoffnung des Lebens. Am 15. April 1945 wurden Ceija Stojka und ihre Mutter durch britische Truppen aus Bergen-Belsen befreit. Nach viermonatigem Fußweg erreichten sie Wien. Dort trafen sie auf Kathi, Mitzi und später Hansi und Karli Stoijka. Von der einst 200-köpfigen Großfamilie überlebten nur Sidonie Stojka und fünf ihrer sechs Kinder den Genozid. Diese Erfahrungen prägten Stojkas weiteres Leben und künstlerisches Schaffen tiefgreifend.
Autorin und Künstlerin
Im Alter von 55 Jahren veröffentlichte Ceija Stojka 1988 ihre Autobiografie „Wir leben im Verborgenen“ als eines der ersten Zeugnisse über das Leid der Rom:nja und Sinti:ze während des NS-Regimes.7Die Vorstellung des Buches fand am 8.12.1988 in Oberwart statt. Vgl. Die Burgenlandwoche, 58 Jg., Nr. 50, 14.12.1988, 30. Für den Hinweis danke ich Gerhard Baumgartner. Dieses Werk zeichnete sich literarisch durch eine ergreifende, eigensinnige, detailreiche und bildreiche Sprache aus. 1992 veröffentlichte sie mit „Reisende auf dieser Welt“ eine Fortsetzung ihrer Autobiografie. In ihren Schilderungen geht Ceija Stojka auf die Schwierigkeiten des Nachkriegsalltags ein. Sie berichtet von anhaltendem Rassismus und ihren verschiedenen Tätigkeiten zum Broterwerb, wie dem Hausierhandel mit Stoffen und dem Verkauf von Teppichen. Zudem beschreibt sie die Herausforderungen, die sie als alleinerziehende Mutter von drei Kindern zu bewältigen hatte. In einem weiteren 2005 erschienenen autobiografischen Werk („Träume ich, dass ich lebe“) verarbeitete Ceija Stojka ihre Erfahrungen aus der Zeit im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Durch Übersetzungen ins Englische, Französische, Niederländische, Romanes und Tschechische wurden ihre Bücher einem internationalen Publikum bekannt.
Die Überlebende Ceija Stojka (1933–2013) in ihrer Wohnung in Wien, Österreich, 1999. Ceija Stojka, eine Lowara, wuchs in einer Familie auf, die vom Pferdehandel lebte. Sie wurde 1943 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Der Vater war schon 1941 nach Dachau verschleppt und in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet worden.
Ceija Stojka überlebte Auschwitz-Birkenau sowie die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. Seit der Veröffentlichung ihres ersten autobiografischen Buches im Jahr 1988 zählte sie zu den wichtigsten Stimmen der Überlebenden. Fortan machte sie sich als Aktivistin, Künstlerin und Schriftstellerin einen Namen. 2009 ernannte das österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur Ceija Stojka zur Professorin.
Fotograf:in: Navigator Film
Navigator Film: Ceija Stojka, AT 1999
Kurz nach der Veröffentlichung ihres ersten Buches entdeckte Ceija Stojka auch die Malerei als Ausdrucksform. Ihre Bilder sind ein kraftvolles Mittel der Vergangenheitsbewältigung und entfalten zugleich dokumentarischen Charakter durch die Kombination von Zeichnungen und Texten. Ihre Kunst ist geprägt von ausdrucksstarken Motiven, die aus kindlicher Perspektive die Schrecken der Konzentrationslager, das Leiden und die Scham der Gefangenen, die Gewalt der Täter:innen und die Architektur der Lager darstellen. Zugleich arbeitete sie mit intensiven Farben und fröhlichen Motiven, welche die Schönheit der Natur und des Zusammenlebens in Romani-Gemeinschaften veranschaulichen. Sie hinterließ über 1 000 Werke, die sowohl in Österreich als auch international ausgestellt wurden.
Ceija Stojka war eine vielseitige Künstlerin, die sich in verschiedenen kreativen Bereichen ausdrückte. So widmete sie sich auch der Lyrik. Ihre Gedichte wurden in mehreren Sammlungen veröffentlicht: im Bildband „Auschwitz ist mein Mantel“ (2008) sowie in der Publikation: „Meine Wahl zu schreiben – Ich kann es nicht / O fallo de isgiri – me tschichanaf les“ (2003). Über ihre literarischen Werke hinaus wirkte Ceija Stojka auch als Musikerin und brachte 2000 das Album „Me Diklem Suno“ heraus.
Für ihr Schaffen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, darunter den Bruno-Kreisky-Preis für das „Politische Buch“ (1993), das Goldene Verdienstkreuz des Landes Wien (2003) und den Fernsehpreis für Erwachsenenbildung (2006). 2014 wurde ein Platz in Wien als Ceija-Stojka-Platz benannt.
Ihr Leben und Werk wurden in mehreren Dokumentarfilmen porträtiert, darunter „Ceija Stojka – das Porträt einer Romni“ (1999) und „Unter den Brettern hellgrünes Gras“ (2005). Karin Berger (geb. 1953) verwebt in den Dokumentarfilmen als ihre langjährige Freundin und Begleiterin einfühlsam und eindringlich die Vergangenheitsreflexionen Ceija Stojkas und ihr künstlerisches Schaffen mit historischem Material und mit Fragen der Gegenwart.
Neben der künstlerischen Arbeit hielt Ceija Stojka zahlreiche Vorträge und führte Workshops und Lesungen ihrer Bücher, regelmäßig mit ihrer Schwiegertochter Gabrielle „Nuna“ Stojka (geb. 1960), durch. Sie kooperierte mit Selbstorganisationen der Rom:nja und Sinti:ze und war Teilnehmerin der ersten Romnja- und Sintiza-Frauenkonferenz in Deutschland (Köln 1996).
Leider erlebte Ceija Stojka ihren internationalen Durchbruch als Künstlerin, etwa die Großausstellungen im Maison Rouge in Paris (2018) sowie im Prado in Madrid (2020), nicht mehr. Sie starb am 28. Januar 2013 in Wien. Ihr Nachlass wird von ihrem Sohn Willibald „Hojda“ Stojka (geb. 1949) verwaltet. 2018 gründete sich die Ceija Stojka International Association,8Vgl. https://www.ceijastojka.org/theassociation. um die Rechteinhaber:innen zu unterstützen, ihr Werk zu schützen sowie dessen Bekanntheit durch Ausstellungen, Publikationen und andere Aktivitäten zu fördern.