Dänemark

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  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 6. Februar 2024

Im Gegenzug für eine Garantie der territorialen Integrität des Königreichs entschied sich die dänische Regierung zur sofortigen Kapitulation, als am 9. April 1940 deutsche Truppen die Grenze überquerten. Der Besatzungsstatus Dänemarks bildete einen europäischen Sonderfall: Die dänische Regierung, das Parlament und die Zivilverwaltung blieben im Amt und akzeptierten eine „friedliche Besetzung“ durch das Deutsche Reich. Völkerrechtlich befanden sich beide Länder daher nicht im Krieg. Der amtierende deutsche Botschafter Cécil von Renthe-Fink (1885–1964) wurde zum „Reichsbevollmächtigen“ ernannt.

Am 29. August 1943 scheiterte jedoch die Illusion eines Musterprotektorats. Die dänische Regierung wurde abgesetzt und unter Ausnutzung des Ausnahmezustands sollte die Deportation der etwa 6 000 jüdischen Dän:innen sowie der knapp 2 000 jüdischen Emigrant:innen aus Deutschland und Österreich auf Vorschlag des seit 1942 amtierenden deutschen Reichsbevollmächtigten Werner Best (1903–1989) durchgeführt werden. Mit einer beispiellosen, von breiten Bevölkerungskreisen getragenen Rettungsaktion konnte dies weitgehend verhindert werden. Rund 7 200 Juden:Jüdinnen und etwa 700 nicht jüdische Verwandte wurden binnen dreier Wochen nach Schweden in Sicherheit gebracht. Trotz der Weigerung der dänischen Polizei, an Deportationen mitzuwirken, wurden etwa 500 Juden:Jüdinnen verhaftet und in das Getto Theresienstadt deportiert.

Eine koordinierte Registrierung oder gar Deportation der im Land befindlichen Sinti:ze und Rom:nja durch die deutschen Instanzen blieb aus. Auch wenn einige Ursachen hierfür angeführt werden können, war dies keinesfalls zu erwarten. Wie in anderen europäischen Ländern waren Sinti:ze und Rom:nja während der Zwischenkriegszeit auch in Dänemark polizeilicher Verfolgung ausgesetzt. Ein seit 1875 geltendes Fremdengesetz verbot die Einreise ausländischer „Tatere“ (eine damals gebräuchliche Bezeichnung für Sinti:ze und Rom:nja, Zirkusartist:innen und andere Reisende) ins Königreich und ermöglichte die Abschiebung bereits im Land befindlicher Angehöriger dieser Gruppen ohne dänische Staatsbürgerschaft. Die restriktive dänische Einwanderungspolitik wurde unter anderem einer Gruppe von 68 norwegischen Rom:nja zum Verhängnis, die 1934 an der deutsch-dänischen Grenze zurückgewiesen und von denen später viele insbesondere über das Lager Mechelen im deutsch besetzten Belgien in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Im Vergleich zum Deutschen Reich und den skandinavischen Nachbarländern fanden Sinti:ze, Rom:nja und andere als „Zigeuner“ titulierte Bevölkerungsgruppen in Dänemark jedoch lange nur geringe staatliche Beachtung und waren eher ein Thema für lokale Amateurforscher:innen.

Rassenbiologische Studie am Institut für Erbbiologie und Eugenik

Dies änderte sich 1938, als das kurz zuvor gegründete Kopenhagener Universitätsinstitut für Erbbiologie und Eugenik eine wissenschaftliche Untersuchung der „Zigeuner in Dänemark“ begann. Der Auftrag kam von der kommunalen Sozialbehörde in Kopenhagen, nachdem dortigen Sachbearbeiter:innen einige Familien aufgefallen waren, deren Mitglieder im Sommer oft auf Reisen seien, ein „südländisches Erscheinungsbild“ besäßen und im Winter überdurchschnittlich viele Sozialleistungen beantragen würden. Das Universitätsinstitut sollte abklären, ob es sich um eine „rassisch“ abgrenzbare Gruppe handelte und ob von dieser Gruppe eine sozialpolitische Gefahr ausging. Das sozialdemokratisch regierte Dänemark galt seit den 1920er-Jahren als Vorreiter bei der Umsetzung eugenischer Maßnahmen, welche finanzielle Nachhaltigkeit beim Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen sicherstellen sollten: Hilfe für unverschuldet in Not Geratene könne nur geleistet werden, so waren führende Sozialdemokrat:innen überzeugt, wenn gleichzeitig verhindert werde, dass vermeintlich „erblich Belastete“ sich durch die Segnungen des Wohlfahrtsstaates weiter vermehrten.

Obwohl die offizielle Anfrage sich auf eine Kommune bezog, wurde beschlossen, die „Zigeunerbevölkerung“ des ganzen Landes und ihr Verhältnis zum Sozialstaat zu untersuchen, wobei lediglich Familien mit dänischer Staatsbürgerschaft berücksichtigt werden sollten.

Durch den deutschen Einmarsch wurde die laufende Studie lediglich verzögert, jedoch keinesfalls gestoppt. Ihre Veröffentlichung erfolgte im Frühjahr 1943 unter dem Titel „Gypsies in Denmark. A socio-biological study“, also in englischer Sprache und in der offiziellen Buchreihe des Kopenhagener Universitätsinstituts für Erbbiologie und Eugenik. Dänemark war zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren besetzt. Die beiden Autor:innen, der Arzt Erik D. Bartels (1912–1981) und die Ärztin und Psychiaterin Gudrun Brun (1906–1993) orientierten sich methodisch am nationalsozialistischen deutschen „ZigeunerforscherRobert Ritter (1901–1951). Den Hauptteil ihrer Studie bildet eine systematische und detaillierte Untersuchung von acht identifizierten Familien, jeweils begleitet von einer ausfaltbaren, anonymisierten genealogischen Stammtafel mit Angaben zu Erwerbstätigkeit, erhaltener Sozialhilfe und Verwandtschaftsverhältnissen. Bartels und Brun schätzten die Gruppe der „dänischen Zigeuner“ auf circa 700 bis 800 Personen. Auch die von Ritter aufgestellte „rassische“ Definition übernahmen sie: Nach dieser galten 80 Prozent der untersuchten Familienmitglieder als „Zigeunermischlinge“. Die mutmaßlich über den Zweck der Untersuchung nicht vollständig aufgeklärten Interviewten selbst verwendeten meist die Eigenbezeichnung „Reisende“.

Ein dänischer Sonderweg?

Trotz einer oft unkritischen Übernahme und Wiedergabe von Ritters Vokabular verwarfen Bartels und Brun dessen These einer über Generationen entstandenen Klasse von „asozialen Vagabunden“ und kritisierten seine negative Beurteilung vermeintlicher „Zigeunermischlinge“. Die von Ritter eingeführte Diagnose des „getarnten Schwachsinns“ – die im Deutschen Reich zu Zwangssterilisationen führen konnte – erkannten sie ebenfalls nicht an. Stattdessen führten sie Milieu, Armut und mangelnde Bildung als erklärende Faktoren für ökonomische Notlagen an und gingen davon aus, dass „Mischehen“ mit ethnischen Dänen die Familien sozial stabilisieren würden. Zwangsmaßnahmen wie Kindesentzug, Sterilisation oder gar Deportation lehnten sie ausdrücklich ab.

Dass die untersuchten Familien sich „rassisch“ von der übrigen Bevölkerung unterschieden, bezweifelten Bartels und Brun jedoch nicht. Wie Ritter sahen sie ein „Zigeunerproblem“, welches sie jedoch nicht durch Zwangsmaßnahmen, sondern durch Assimilation, also durch „Mischehen“, zu lösen gedachten. Voraussetzung hierfür sei allerdings, so betonten sie, eine strikte Einhaltung des dänischen Fremdengesetzes, um eine erneute Einwanderung von Sinti:ze und Rom:nja zu verhindern.

Wenn Bartels und Brun ausdrücklich eine weitere „rassische Vermischung“ befürworteten, strebten sie also – und das gaben sie offen zu – letztlich dasselbe Ziel wie Ritter an: Eine homogene Gesellschaft ohne „Zigeuner“. Der dänische Sonderweg manifestierte sich hier also weniger in den formulierten bevölkerungspolitischen Zielen oder gar einem antirassistischen Kurs, sondern in der expliziten Ablehnung von Zwangsmaßnahmen und einer neutraleren Haltung gegenüber vermeintlichen „Mischlingen“, welche von Wissenschaftler:innen nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in Finnland, Norwegen und Schweden als „Hauptproblem“ ausgemacht wurden.

Zweifellos war es illegal und unethisch, Stammbäume dänischer Staatsbürger:innen zu erstellen, welche der nationalsozialistischen Rassenlehre zufolge als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ galten, also zu einer Bevölkerungsgruppe zählten, die zur gleichen Zeit in anderen Ländern deportiert und ermordet wurde. Ob die Autor:innen und andere Verantwortliche die Gefahr einer Anwendung der Forschungsdaten durch die Besatzungsbehörden lediglich als gering einschätzten oder sie schlicht ignorierten, ist schwierig zu beantworten. Trotz zahlreicher Rezensionen und Interviews nach Fertigstellung des Buches, unter anderem in der Zeitung der nationalsozialistischen Partei Dänemarks, interessierten sich die deutschen Besatzungsbehörden scheinbar weder für die Ergebnisse noch für die gesammelten Unterlagen, wie etwa die de-anonymisierten Stammbäume der Familien. Dass dieses Datenmaterial eine Gefahr für die Betroffenen darstellen konnte, zeigt der bereits erwähnte Versuch, alle jüdischen Dän:innen zu deportieren, sowie die tatsächlich erfolgte Deportation von über 400 Dänen als vermeintliche „Asoziale“ und „Gewohnheitsverbrecher“ in das Konzentrationslager Neuengamme ab September 1944. In beiden Fällen war auf Polizeiregister zurückgegriffen worden.

Seit 2003 wird in Dänemark der 27. Januar als offizieller Gedenktag („Auschwitz-dag“) in Erinnerung an die Opfer von Holocaust und Genozid begangen. Spezifische Gedenkinitiativen zur Erinnerung an den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja existieren nicht.

Zitierweise

Steffen Werther: Dänemark, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 6. Februar 2024. -

1934
20. – 21. Januar 1934Im Bahnhof von Padborg (Pattburg), Dänemark, gelegen an der deutsch-dänischen Grenze, scheitert der Versuch von 68 Rom:nja, in ihr Heimatland Norwegen zurückzukehren.
1938
14. Oktober 1938Gründung des Universitätsinstituts für Erbbiologie und Eugenik in Kopenhagen, Dänemark. Kurz darauf beginnt das Institut mit einer Untersuchung der „Zigeunerbevölkerung“.
1940
9. April 1940Deutsche Truppen marschieren in Dänemark ein. Regierung und Parlament bleiben trotz Besatzung bestehen.
1943
28. April 1943In Dänemark erscheint eine auf Englisch verfasste, an rassenbiologischen Kriterien orientierte Studie über dänische „Zigeuner“.
29. August 1943Die dänische Regierung tritt zurück, das seit 1940 deutsch besetzte Land wird danach von einer deutschen Militärverwaltung regiert.