Den Haag

Logo
Suche
Den Haag
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 4. März 2025

Den Haag, Regierungssitz der Niederlande und Residenz des niederländischen Königshauses, hat in Bezug auf Sinti:ze und Rom:nja eine lange Geschichte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts zogen kleine Gruppen von Sinti:ze und Rom:nja in die Stadt. Sie übernachteten in Zelten am Stadtrand von Den Haag und stellten später ihre Wohnwagen an Plätzen wie dem Laakkwartier, der Binckhorstlaan, den Loosduinen, der Slachthuiskade und dem Rijswijkseweg ab. Einige von ihnen waren Kalderaš, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf und der Reparatur von Töpfen und Pfannen verdienten, andere waren Lovara. In den 1930er-Jahren ließen sich vor allem Sinti:ze in Den Haag nieder. Für einige dieser Sinti:ze war die Stadt ihr ständiger Wohnsitz, während andere, die im Sommer mit ihren Wohnwagen das Land bereisten, nur im Winter in Den Haag wohnten.

Viele Sinti:ze in Den Haag arbeiteten als Musiker:innen. Dies war auch einer der Hauptgründe, in die Stadt zu ziehen, in der es ein umfangreiches Nachtleben gab, vor allem in den umliegenden Orten wie Scheveningen und Noordwijk. Ein weiteres wichtiges Argument für den Aufenthalt in Den Haag war der gute Ruf, den die Stadt in der Gemeinschaft der Sinti:ze hatte: Nicht nur war die Verwaltung relative tolerant gegenüber der Gruppe, sondern es wurde auch ein bohemehafter Lebensstil gepflegt, vor allem in den höheren Schichten des Haager Bürgertums.

Nach der deutschen Besetzung

In den ersten beiden Jahren nach dem deutschen Einmarsch 1940 blieb Den Haag ein relativ gastfreundlicher Ort für Sinti:ze und Rom:nja. Es war immer noch möglich, in die Stadt zu reisen und sie zu verlassen, und die Menschen, die dort lebten, wurden weniger schikaniert als anderswo. Die Haager Polizei hoffte, so Ruhe und Ordnung zu wahren; auf diese Weise konnten die Sinti:ze und Rom:nja unter Aufsicht und Kontrolle gehalten werden, argumentierte sie. Wenn eine Panik ausbräche, bestünde die Möglichkeit, dass die Menschen in der Anonymität verschwänden. Zumindest eine Zeit lang folgten die deutschen Besatzer dieser Argumentation.

Ab 1942 wurde das Reisen für Sinti:ze und Rom:nja in den Niederlanden immer schwieriger. Etwa hundert Sinti:ze und Rom:nja beschlossen daraufhin, Häuser in Den Haag zu beziehen. Einige von ihnen lebten bereits vor dem Krieg in der Stadt, andere zogen als Neuankömmlinge nach Den Haag. Die meisten Sinti:ze und Rom:nja lebten im Viertel rund um die Veenkade, die Brouwersgracht und die Hoefkade, einem Viertel, das von den Nationalsozialisten auch als „Zigeunerghetto bezeichnet wurde, so der Historiker Leo Lucassen (geb. 1959) und der Anthropologe Peter Jorna (geb. 1959).1 Lucassen, „En men noemde hen zigeuners“, 220; Jorna, Sinti en Roma in Den Haag, 9. Hier war ausreichend Wohnraum vorhanden, und die Menschen konnten in der Anonymität der Stadt leben und gleichzeitig ein gewisses Maß an Solidarität genießen. Dieses Nachbarschaftsgefühl zog auch neue Sinti:ze und Rom:nja an: 1943 erhielten einige Familien die Erlaubnis, mit ihren Wohnwagen einen kleinen Wohnwagenplatz an der Veenkade einzurichten, um in der Nähe von Verwandten leben zu können. Insgesamt gab es dort zehn Wohnwagen. Es wurde ein spezieller Gemeindepolizist ernannt, der mit der Überwachung der Sinti:ze und Rom:nja beauftragt war, Arie Vlak (1903–unbekannt). Darüber hinaus waren die Sinti:ze und Rom:nja verpflichtet, sich registrieren zu lassen.

Die landesweite Razzia am 16. Mai 1944

Am frühen Morgen des 16. Mai 1944 begann die Haager Polizei mit der Verhaftung der Sinti:ze und Rom:nja, die in der Gegend um die Veenkade, die Brouwersgracht und die Hoefkade wohnten. Die Menschen wurden unter Lärm aus ihren Häusern geholt und anschließend zur Polizeistation an der Mauritskade gebracht. Hier wurden sie von Arie Vlak beruhigt: Das Ganze sei nur von kurzer Dauer, sie würden bald nach Hause zurückkehren können. Gegen acht Uhr wurden 85 verhaftete Sinti:ze und Rom:nja in mit Planen abgedeckten Lastwagen zum Bahnhof Staatsspoor gefahren. Sie wurden in separate Waggons gesetzt, die an den regulären Personenzug gekoppelt und von jeweils vier Polizisten bewacht wurden. Als der Zug abfahrbereit war, fuhr er in das Durchgangslager Westerbork. An den Zwischenstationen blieben die Fenster geschlossen und mussten verhängt werden. Während der etwa vierstündigen Razzia hatte es nach Aussagen von Überlebenden und Augenzeug:innen Fluchtmöglichkeiten gegeben, insbesondere für Kinder. Niemand entschied sich dafür, diese Gelegenheit zu nutzen, nicht zuletzt aus Angst davor, Familienmitglieder zurückzulassen. Von den 85 Sinti:ze und Rom:nja, die in Den Haag verhaftet wurden, wurden 75 drei Tage später in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Unter ihnen befanden sich 37 Kinder im Alter von bis zu 17 Jahren.

Nach der Razzia wurden die Häuser versiegelt, in denen die Sinti:ze und Rom:nja gelebt hatten, und die Wohnwagen beschlagnahmt und auf städtischem Grund abgestellt. Fünf Wohnwagen wurden in den darauffolgenden Wochen von Sinti:ze und Rom:nja abgeholt, die aus Westerbork entlassen worden waren. Die betroffenen Sinti:ze und Rom:nja waren freigelassen worden, weil sie offenbar im Besitz guatemaltekischer Pässe waren. In den Wohnungen gefundene Gegenstände wie Musikinstrumente, Schmuck, Geld, Bettzeug und Kleidung wurden beschlagnahmt. Bargeld musste an den Kommandanten der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD) in Den Haag überwiesen werden, und Wertgegenstände mussten per Einschreiben mit dem Vermerk „Zigeunererfassung“ an dieselbe Adresse geschickt werden. Zu den Empfänger:innen von „verwertbaren“ Gegenständen gehörte die „Winterhulp“ (Winterhilfe), eine Organisation, die während der Kriegsjahre die zuvor von staatlichen, privaten und kirchlichen Organisationen in den Niederlanden geleistete Sozialhilfe übernommen hatte. Ende Juli 1944 wurden die beschlagnahmten Häuser entsiegelt, und von da an von anderen Personen bewohnt.

Nachwirkungen

Die wenigen Sinti:ze und Rom:nja, die es geschafft hatten, die Konzentrations- und Vernichtungslager zu überleben, oder die der Razzia im Mai 1944 entkommen waren, hatten es in Den Haag kurz nach der Befreiung nicht leicht. So erwies sich beispielsweise ihre Aufnahme und Unterbringung, obwohl sie eine Priorität darstellte, als ein großes Problem. Sinti:ze und Rom:nja sowie Reisende blieben bis Ende der 1960er-Jahre auf die begrenzten und veralteten Wohnwagenplätze aus den Vorkriegsjahren an der Slachthuiskade und der Binckhorstlaan angewiesen. Darüber hinaus mangelte es den Sinti:ze und Rom:nja kurz nach der Befreiung an Kleidung, Lebensmitteln und Medikamenten. Nur wenige kirchliche Einrichtungen, wie die 1946 gegründete Sint Vincentius Vereinigung, boten Unterstützung an. Zudem hatten viele Überlebende Krankheiten wie Tuberkulose, an denen einige von ihnen Monate oder sogar Jahre nach dem Krieg starben.

Zum Gedenken an die deportierten und ermordeten Sinti:ze und Rom:nja wurde 1990 das „Denkmal für Sinti und Roma“ in der Bilderdijkstraat in der Nähe des Ortes enthüllt, an dem die Sinti-Familie Berger zur Zeit ihrer Deportation gelebt hatte. Das von der örtlichen Gemeinschaft der Sinti:ze und Rom:nja initiierte Denkmal besteht aus einem mit Bronzetafeln verkleideten Kubus mit einer Tafel, die die Geschichte und die Bedeutung des Ortes erläutert. Im Jahr 2020 wurde von Peter Jorna eine umfassende Studie über die Geschichte der Sinti:ze und Rom:nja in Den Haag veröffentlicht.

Einzelnachweise

  • 1
    Lucassen, „En men noemde hen zigeuners“, 220; Jorna, Sinti en Roma in Den Haag, 9.

Zitierweise

Bas Kortholt: Den Haag, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 4. März 2025.-

1940
10. Mai 1940Deutschland erweitert den Krieg auf den Westen Europas; die Wehrmacht marschiert in Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden ein.
1944
16. Mai 1944In den deutsch besetzten Niederlanden findet eine landesweite Razzia gegen Sinti:ze und Rom:nja statt. 578 Sinti:ze, Rom:nja und Fahrende werden in das Durchgangslager Westerbork gebracht.
19. Mai 1944In den deutsch besetzten Niederlanden werden 245 Sinti:ze und Rom:nja sowie 208 Juden:Jüdinnen vom Durchgangslager Westerbork in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. In Assen, deutsch besetzte Niederlande, werden zwölf Sinti:ze und Rom:nja in diesen Zug verladen. Dank der Hilfe eines Polizisten kann Zoni Weisz mit Tante und Cousins dieser Deportation entkommen. Ein Deportationszug aus Mechelen (Dossin-Kaserne), deutsch besetztes Belgien, wird unterwegs an den Zug aus Westerbork gekoppelt; in diesem Zug befindet sich Stevo Karoli.
1990
5. Mai 1990In den Niederlanden wird in Den Haag ein Denkmal für die verfolgten und ermordeten Sinti:ze und Rom:nja enthüllt.