Das Konzentrationslager Niederhagen im ostwestfälischen Wewelsburg, Deutschland, das als selbstständiges Hauptlager vom 1. September 1941 bis zum 5. April 1943 existierte, war das kleinste Konzentrationslager (KZ) im deutschen Reichsgebiet. Bis heute sind 43 Namen von Sinti und Roma bekannt, die in dem Lager für männliche Häftlinge inhaftiert waren – 28 von ihnen überlebten das Konzentrationslager in Wewelsburg nicht.
Errichtung des Lagers
Anlass zu der Errichtung war ein umfangreiches Bauprojekt des Reichsführers-SS Heinrich Himmler (1900–1945). Dieser hatte das gleichnamige Renaissance-Schloss Wewelsburg vom Kreis Büren 1934 angemietet, um es zu einer zentralen Versammlungsstätte für die Schutzstaffel (SS) ausbauen zu lassen. Zu diesem Zweck wurde in der Wewelsburg ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen gegründet. Die ersten Häftlinge kamen im Mai 1939 an und arbeiteten am Schloss, in Steinbrüchen und im Straßenbau. Zunächst handelte es sich um Häftlinge der Kategorie „Berufsverbrecher“ (BV), die 1940 gegen „Ernste Bibelforscher“ (Zeugen Jehovas) ausgetauscht wurden. Mit dem Umzug in ein größeres Barackenlager in der Gemarkung Niederhagen im August 1940 kamen weitere Häftlingstransporte an. Der erste Transport aus Sachsenhausen, der politische und BV-Häftlinge sowie als „asozial“ bezeichnete Häftlinge umfasste, erreichte Wewelsburg am 22. September 1940. Darunter befanden sich bereits auch Sinti und Roma.
Sinti und Roma im Lager
Am 1. September 1941 wurde das bisherige Außenlager Wewelsburg zu einem selbstständigen Hauptlager mit dem Namen Konzentrationslager Niederhagen/Wewelsburg1Arolsen Archives, Copy of 1.1.381 Archivnr. 2687, Nummernliste vom 1.9.1941. ernannt. Unter den 480 Insassen befanden sich 159 als „asozial“ bezeichnete Häftlinge, von denen sieben in der Häftlingskartei explizit als „Zig.“ (‚Zigeuner‘) gekennzeichnet waren. In den folgenden Monaten folgten weitere Häftlingstransporte und -einweisungen. Insgesamt lassen sich mittels der 2008 erstellten Häftlingsdatenbank für Niederhagen 295 Häftlinge nachweisen, die als „asozial“ klassifiziert wurden. Von diesen konnten 41 Häftlinge recherchiert werden, die in den SS-Quellen oder Sterbeurkunden als „Zigeuner“ gekennzeichnet wurden, zwei weitere Sinti finden sich unter den BV-Häftlingen. Es ist davon auszugehen, dass sich unter den insgesamt rund 3 900 Häftlingen, die das Lager durchliefen, weitere Sinti und Roma befanden.2An dieser Stelle sei vor allem Andreas Pflock, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg, für seine akribische Recherche und Verena Meier, Forschungsstelle Antiziganismus, gedankt, die beide wichtige Hinweise auf die Häftlingsgruppe der Sinti und Roma im KZ Niederhagen gaben. Vgl. auch Sinti und Roma im KZ Niederhagen/Wewelsburg, https://verortungen.de/tatorte/konzentrationslager-niederhagen-wewelsburg/#sinti-und-roma-in-wewelsburg [Zugriff: 29.01.2024]. Die Altersstruktur der nachzuweisenden Sinti und Roma im Konzentrationslager Niederhagen ist heterogen und umfasst die Geburtsjahrgänge 1890 bis 1923. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen dort wurden durch den enormen Anstieg der Häftlingsbelegschaft im Jahr 1942 zunehmend schlechter. Von den 43 namentlich bekannten Sinti und Roma starben nachweislich 27 allein im Jahr 1942. Als häufigste offizielle Todesursachen wurden Lungenentzündungen, Körper- oder Kreislaufschwächen angegeben. Dabei ist anzumerken, dass die SS die Todesursachen auch fälschte, um gewaltsame Fremdeinwirkungen zu tarnen. Unter den Verstorbenen befand sich auch Alman Rose (1922–1942), der als 18-Jähriger in Stettin verhaftet, nach Sachsenhausen und von dort am 22. oder 23. Oktober 1941 in das Konzentrationslager Niederhagen deportiert worden war, wo er am 5. Februar 1942 angeblich an „akuter Herzschwäche“ starb.
Alman Rose (1922–1942), ermordet im Konzentrationslager Niederhagen/Wewelsburg. Alman Rose, geboren in Paradies, Kreis Meseritz, Deutschland, wurde 1941 in Stettin verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Am 22. oder 23. Oktober 1941 wurde er nach Niederhagen/Wewelsburg überstellt. Seinen Eltern schrieb er regelmäßig Briefe, in denen er unter anderem um warme Kleidung bat. Im Dezember 1941 erhielten sie ein letztes Lebenszeichen von ihm. Die letzte Nachricht war ein Telegramm des Lagerkommandanten, in dem es hieß, Alman Rose sei am 5. Februar 1942 an „akuter Herzschwäche“ verstorben.
Die Fotografie stammt aus einem Ausweis, Anfang der 1930er-Jahre, den seine Schwester Adelgunde Rose der Gedenkstätte Wewelsburg zur Verfügung gestellt hat. Sie war eine Überlende der Konzentrationslager Ravensbrück und Buchenwald.
Fotograf:in: unbekannt
Kreismuseum Wewelsburg, Inv. Nr. 17454
Bemühungen der Angehörigen, die Inhaftierten im Lager zu besuchen oder ihre Freilassung zu erwirken, blieben in der Regel erfolglos. So richtete beispielsweise die Ehefrau Auguste Petermann (1894–unbekannt) des im Lager inhaftierten Max Anton (1893–unbekannt) vergeblich mehrere Entlassungsgesuche an den Polizeipräsidenten Magdeburg.3Landesarchiv Sachsen-Anhalt, C29 Anh. II Nr. 223_2_7. Elf Sinti und Roma, darunter auch Max Anton und seine beiden Pflegesöhne, überlebten die KZ-Haft in Wewelsburg und wurden mit Auflösung des Konzentrationslagers Niederhagen im April 1943 zusammen mit den übrigen rund 1 500 Häftlingen in andere Lager überstellt. 40 Zeugen Jehovas und zwei politische Häftlinge verblieben bis zur Befreiung am 2. April 1945 in Wewelsburg.
Morde im Rahmen der „Aktion 14f13“
Das Konzentrationslager Niederhagen war eines der Konzentrationslager, die an der „Aktion 14f13“ beteiligt waren, bei der psychisch und körperlich kranke oder arbeitsunfähige Häftlinge in den Konzentrationslagern selektiert und in verschiedenen Anstalten durch Giftgas ermordet wurden. Der ehemalige Lagerarzt Dr. Franz Metzger (1911–unbekannt) bestätigte die Selektionen in einer zeugenschaftlichen Vernehmung 1969 zum 2. Wewelsburg-Prozess.4John-Stucke, „Mein Vater wird gesucht …“, 105 f. Unter den 46 Häftlingen, die im Rahmen dieser Maßnahmen im Frühjahr 1942 im Konzentrationslager Niederhagen selektiert wurden, lassen sich auch Juden sowie fünf Sinti nachweisen. Bei den Sinti handelt es sich um Felix Adler (1906–1942), Hermann Broschinski (1899–1942), Franz Lursky (1916–1942), Paul Morgenstern (1918–1942) und Janko Weiss(1920–1942). Allen 46 Häftlingen ist gemeinsam, dass auf den Karten, auf denen jeweils die Habe der Häftlinge bei Einlieferung aufgeführt wurde (Effektenkarten), vermerkt ist: „Entlassen am: 10.4.42 nach Überstellt [sic]“. Ein Überstellungsort wurde nicht genannt, stattdessen Todesdaten im Zeitraum von April und Mai 1942 eingetragen.5Kreismuseum Wewelsburg, Archivalische Sammlung, Abschlussbericht. Recherche zu „Aktion 14f13“ im KZ Niederhagen von Oliver Nickel, 2016 (unveröffentlichtes Manuskript). Auch gibt es keine Nachweise für die Einäscherung der Leichen in den Krematorien Bielefeld oder Dortmund, in denen damals sämtliche Leichen des Konzentrationslagers eingeäschert wurden.6Beck, Der Weg der Toten, 4. Mehrere Überlebende des Konzentrationslagers Niederhagen verwiesen in ihren zeugenschaftlichen Vernehmungen in den Nachkriegsprozessen auf diesen Transport im Rahmen der Aktion 14f13. Wenzel Duchan (1918–unbekannt), der sich selbst als „Halbzigeuner“ bezeichnete und in Wewelsburg inhaftiert war, berichtete davon, dass sein Cousin für den Transport in eine Tötungsanstalt ausgesucht worden sei.7Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland (LAV NRW R), Rep. 118-855, Zeugenschaftliche Vernehmung vom 14.09.1967. Ebenfalls erinnerte sich Albert Heinze (1894-1970) daran, dass der junge Sinto Janko Weiss, den er aus Berlin kannte, mit im Transport gewesen sei.8LAV NRW R, Rep. 118-921, Zeugenschaftliche Vernehmung vom 29.09.1967; siehe auch „Haftgrund: § 175“. Genauere Angaben, in welcher Tötungsanstalt die 46 Häftlinge ermordet wurden, konnten bisher nicht ermittelt werden, da die Morde systematisch vertuscht und geheim gehalten wurden. Anfragen an die Archive der Gedenkstätten in Hadamar, Hartheim und Bernburg ergaben keine weiteren Aufschlüsse.
Nachkriegsprozesse und Aufarbeitung
Nach dem Krieg fanden zwei Gerichtsprozesse statt, die sich mit den im Konzentrationslager Niederhagen/Wewelsburg begangenen Verbrechen befassten. Der erste Prozess wurde 1952 gegen Otto Schmidt (1905–1971) geführt. Der als „asozial“ klassifizierte ehemalige ‚Kapo‘, der wegen seiner Brutalität bei den Mithäftlingen gefürchtet war, wurde wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Körperverletzung mit Todesfolge“ zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Revision der Staatsanwaltschaft wurde das Strafmaß auf fünf Jahre und acht Monate Gefängnis erhöht. Im zweiten Wewelsburg-Prozess wurden zwei SS-Führer der Wachmannschaften sowie zwei ehemalige ‚Kapos‘ wegen Mordes und versuchten Mordes angeklagt, da andere Straftaten bereits verjährt waren. Trotz fünfjähriger Ermittlungszeit konnte den Angeklagten keine individuelle Schuld an den Verbrechen nachgewiesen werden, sodass sie freigesprochen werden mussten.
Eine Gedenkstätte des Kreismuseums Wewelsburg dokumentiert seit 1982 die Verbrechen der SS und gedenkt aller Opfer des Konzentrationslagers Niederhagen. Auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers erinnert seit dem Jahr 2000 ein dem Häftlingswinkel nachempfundenes Mahnmal aus Bruchstein an die Opfer der SS-Gewalt in Wewelsburg.
Intensivere Recherchen zur Geschichte der Opfergruppe der Sinti und Roma begannen mit der Neukonzeption der „Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg 1933–1945“, die im April 2010 eröffnet wurde. Seitdem werden einzelne Schicksale der Opfergruppe in der Dauerausstellung „Ideologie und Terror der SS“ vorgestellt und in Publikationen dokumentiert. Eine systematische wissenschaftliche Recherche zu der Häftlingsgruppe der Sinti und Roma im Konzentrationslager Niederhagen lässt aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse noch weitere Erkenntnisse erwarten.