Die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, 1938 im Berliner Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) gegründet und zusammen mit diesem seit 1939 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eingegliedert, war die zentrale Instanz zur Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja im Deutschen Reich.
Gründung und zentrale Aufgaben
Institutioneller Vorläufer der Reichszentrale war der 1899 bei der Polizeidirektion München eingerichtete „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner“, der in den folgenden Jahren faktisch eine reichsweite Zuständigkeit als eine überregionale Datensammel- und Auskunftstelle erlangt hatte, die von allen Ländern und Provinzen des Reiches finanziert wurde. Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler (1900–1945), ordnete am 16. Mai 1938 die Angliederung der Münchner „Zigeunerpolizeistelle“ an das Reichskriminalpolizeiamt als „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ mit Wirkung vom 1. Oktober 1938 an. In der Anordnung wurde das Aufgabenfeld wie folgt definiert: „Sie hat die Aufgabe, sämtliche sich im Deutschen Reich aufhaltenden Zigeuner zu erfassen und alle auf dem Gebiete der Zigeunerbekämpfung sich ergebenden geltenden Bestimmungen zu treffen. Sie hat insbesondere die bei der Bekämpfung der Zigeunerplage gesammelten Erfahrungen und die durch die rassenbiologischen Forschungen gewonnenen Erkenntnisse auszuwerten.“1Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA), C 20 Ib, Nr. 1809, Runderlass des Rf.-SS u. Ch. d Dt. Pol. im RMdI vom 16.05.1938, S-Kr 1 Nr. 794/38-2005-11, Bl. 220. Zu den Aufgaben der Reichszentrale zählte vor allem das Sammeln und Auswerten der Meldungen aller nachgeordneten Kriminalpolizei- beziehungsweise Kriminalpolizeileitstellen und das Erteilen von Direktiven an diese Dienststellen. Bei den Kriminalpolizeileitstellen, deren Zuständigkeitsbereich sich meist auf die Regierungsbezirke erstreckte, wurden ‚Dienststellen für Zigeunerfragen‘ eingerichtet, die eine regionale Koordinierungsfunktionen wahrnahmen.
Mit der Überführung der Münchner ‚Zigeunerpolizeistelle‘ gelangten rund 18 000 kriminalpolizeiliche Akten mit Daten zu rund 33 500 Personen in die neue Reichszentrale; mehrere Beamte aus München, darunter Kriminalinspektor Josef Eichberger (1896–1978), wechselten nach Berlin. Die Aufgabenfelder und Ziele der Reichszentrale waren bestimmt von rassenbiologischen Paradigmen, mit denen seit Mitte der 1930er-Jahre auch der Polizeiapparat im Reich durchdrungen wurde. Heinrich Himmlers Runderlass vom 8. Dezember 1938 markierte diesen Paradigmenwechsel. Ausdrückliches Ziel dieses Erlasses war die „Regelung der Zigeunerplage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“, wozu die „rassische Absonderung des Zigeunertums vom deutschen Volkstum, sodann die Verhinderung der Rassenmischung und schließlich die Regelung der Lebensverhältnisse der reinrassigen Zigeuner und Zigeunermischlinge“ gezählt wurden.2Bundesarchiv (BArch), R 58/9560, Rf.-SS u. Ch. d Dt. Pol. im RMdI, Runderlass S-Kr 1 Nr. 557 VIII/38-2026-8, betr. „Bekämpfung der Zigeunerplage“, 08.12.1938; LASA, C 20 Ib, Nr. 1809, Bl. 221; Reichskriminalpolizeiamt, Jahrbuch des Reichskriminalpolizeiamtes für das Jahr 1938, 27. Die Bestimmungen vom 8. Dezember sollten später auch in annektierten Gebieten Anwendung finden. So fanden beispielsweise im Sommer 1942 sowohl im Elsass als auch in Prag, Protektorat Böhmen und Mähren, entsprechende Erfassungen statt.
Als Grundlage für zukünftige Maßnahmen wurden die Totalerfassung der Minderheit und eine rassistische Kategorisierung jeder einzelnen erfassten Person angestrebt. Die Reichszentrale arbeitete dazu eng mit der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF) im Reichsgesundheitsamt zusammen, um die erkennungsdienstliche Erfassung mit einer rassenbiologischen Begutachtung zu verschränken. Das erkennungsdienstliche Material, das die Kripo(leit)stellen in großem Umfang insbesondere im Zuge des „Festsetzungserlasses“3RSHA, Schnellbrief Tgb No. RKPA. 149/1939-g, betr. „Zigeunerfassung“, 17.10.1939, in Reichssicherheitshauptamt, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, Bl. 156–156R. seit Herbst 1939 anlegten, wurde an das RKPA für die Sammlung der Reichszentrale entsandt. Diese Unterlagen dienten der RHF wiederum zur Erstellung von „Rassegutachten“, sodass der Reichszentrale hier eine zentrale Mittlerfunktion zwischen RHF und Kripo(leit)stellen zukam. Die RHF erstellte zwar Gutachten über die „Rassezugehörigkeit“, die letzte Entscheidung lag jedoch bei der Kriminalpolizei. Wie die Gutachten der RHF innerhalb der Kriminalpolizei zu verstehen waren und welche Handlungsanweisungen sich aus den Gutachten ergaben, regelte Himmlers Runderlass vom 7. August 1941 über die „Auswertung der rassenbiologischen Gutachten über zigeunerische Personen“.4LASA, C 30 Osterburg A, Nr. 161, Runderlass des Rf.-SS u. Ch. d Dt. Pol. im RMdI über die „Auswertung der rassenbiologischen Gutachten über zigeunerische Personen“ vom 07.08.1941, S V A 2 Nr. 452/11, Bl. 37.
Organisation und Personal
Organisatorisch war die Reichszentrale ab 1941 im Referat A 2 „Vorbeugung“ des Amtes V des RKPA im RSHA integriert. Dieses gliederte sich wiederum in a) „Vorbeugungsmaßnahmen gegen Berufsverbrecher, Gewohnheitsverbrecher und Gemeingefährliche“ und b) „Vorbeugungsmaßnahmen gegen Asoziale, Prostituierte, Zigeuner“.5BArch, R 58/1055, Organigramm Amt V des RSHA nach 1941, Bl. 1. Zu „vorbeugenden Maßnahmen“ gehörten die „polizeiliche planmäßige Überwachung“ und die „polizeiliche Vorbeugungshaft“, das heißt, die Einweisung in Konzentrationslager durch die Kriminalpolizeistellen.6Landesarchiv Berlin (LAB), B 057-01, Nr. 461, Vermerk Ermittlungsverfahren gegen Bruno Streckenbach u. a. (1 Js 13/65 [RSHA]) mit Aufstellung der Organisation des Amt V im RSHA, 17.04.1949, Bl. 100–117, hier Bl. 103. Neben der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ (V A 2b 5) gab es vier weitere Sachgebiete in der Gruppe b) des Vorbeugungsreferates. Das Sachgebiet V A 2b 1 beschäftigte sich mit grundsätzlichen Fragen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und der Mitwirkung bei gesetzgeberischen, organisatorischen und technischen Maßnahmen, mit der allgemeinen Betreuung der Angehörigen der Vorbeugungshäftlinge oder der Zusammenarbeit mit der Justiz in Fragen der Sicherungsverwahrung. V A 2b 2 hingegen oblag die Genehmigung der Vorbeugungshaft gegen „Asoziale“, also die Prüfung der Haftanträge der Kriminalpolizeistellen und die Organisation der Einweisung der Häftlinge in Konzentrationslager (KZ). Die Sachgebiete V A 2b 3 und V A 2b 4 befassten sich regional ausdifferenziert mit der Prüfung von Gesuchen oder Beschwerden im Hinblick auf Aufhebung oder Fortführung der KZ-Haft.7Ebd.
Leiter der Dienststelle V A 2b – „Vorbeugungsmaßnahmen gegen Asoziale, Prostituierte, Zigeuner“ – war bis 1941 Kriminalrat Dr. Richard Zaucke (1901–1980), gefolgt von Regierungs- und Kriminalrat SS-Sturmbannführer Heinrich Böhlhoff (1896–1962). Stellvertretende Leiter waren Kriminalrat Johannes Otto (1905–1961) und Kriminalrat und SS-Sturmbannführer Dr. Hans Maly (1907–1971), der von Anfang bis Ende 1943 in der Reichszentrale seinen Dienst versah. Als stellvertretende Leiter waren Otto und Maly gleichsam auch die leitenden Beamten der Reichszentrale, wobei die Sachgebietsleitung (V A 2b 5) zunächst bis 1941 von Kriminalinspektor Josef Schegg (1881–1951), von Februar 1941 bis November 1943 bei Kriminalkommissar und SS-Hauptsturmführer Wilhelm Supp (1906–nach 1966) und schließlich bei Kriminalkommissar Hans Sandner (1915–unbekannt) lag. Kriminalinspektor Josef Eichberger fungierte seit Gründung der Reichszentrale bis Kriegsende als Sachbearbeiter und Vertreter des Sachgebietsleiters.
Organisation der Verfolgung
Die Reichszentrale ordnete auf der Grundlage des Erlasses zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vom 14. Dezember 1937 in mehreren Hundert Einzelfällen die Verschleppung von Sinti:ze und Rom:nja in Konzentrationslager an. In der Regel stellten die Kriminalpolizeistellen bei beabsichtigter KZ-Einweisung einen Antrag beim RKPA, worüber dann die Referats- bzw. Dienststellenleiter entschieden. Entwürfe für Entscheidungsverfügungen fertigten Beamte niederer Ränge und diese wurden von ihren Vorgesetzten zum Teil in abgeänderter Form unterzeichnet.
Aufgrund ihrer zentralen Zuständigkeit trat die Reichszentrale bei den Deportationen im Mai 1940 aus dem Reich in das Generalgouvernement sowie ab März 1943 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besonders hervor. Als Referatsleiter war Dr. Richard Zaucke qua Funktion einer der hauptverantwortlichen Akteure der Mai-Deportation im Jahr 1940. Er leitete die Deportationen aus dem Bereich der Kriminalpolizeileitstelle Hamburg, während Josef Eichberger sie für Stuttgart und Dr. Josef Ochs (1905–1987) jene für Köln organisierte.
Nachweislich waren Beamte der Reichszentrale – Heinrich Böhlhoff, Josef Eichberger, Wilhelm Supp und Albert Wiszinsky (1913–unbekannt) – an der Konferenz vom 15. Januar 1943 beteiligt, auf der auf höchster Ebene Details zu den bevorstehenden Deportationen nach Auschwitz besprochen wurden. Die Umsetzung und Selektion von zu Deportierenden oblag laut den Bestimmungen des Schnellbriefs vom RSHA vom 29. Januar 1943 den Kriminalpolizeileitstellen.8RSHA, Schnellbrief V A 2 Nr. 59/43 g, betr. „Einweisung von Zigeunermischlingen, Ròm-Zigeunern und balkanischen Zigeunern in ein Konzentrationslager“, 29.01.1943, in Reichssicherheitshauptamt, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, Bl. 322–327. Die Reichszentrale war ebenfalls für die Weiterleitung der Rassegutachten der RHF an die Kriminalpolizeileitstellen verantwortlich, auf deren Grundlage die Deportationslisten erstellt wurden. Heinrich Böhlhoff, Johannes Otto und Wilhelm Supp suchten darüber hinaus 1943 persönlich den Lagerbereich BIIe in Auschwitz-Birkenau auf, um die Haft derjenigen Sinti:ze und Rom:nja zu überprüfen, die unter die Ausnahmebestimmungen des Auschwitz-Erlasses fielen, darunter insbesondere ehemalige Soldaten, die militärische Auszeichnungen erhalten hatten.
Für jene Sinti:ze und Rom:nja, die aufgrund der Ausnahmebestimmungen nicht nach Auschwitz deportiert worden waren, ordneten Beamte der Reichszentrale in Absprache mit den Kriminalpolizei(leit)stellen und dem Innenministerium beziehungsweise dem Reichsausschuss für erb- und anlagebedingte Leiden die Zwangssterilisation an. Darüber hinaus entschieden Beamte der Reichszentrale auch über die Genehmigungen von Eheschließungen entsprechend der Richtlinien des § 6 der 1. Ausführungsverordnung zum „Blutschutzgesetz“ (Nürnberger Gesetze) und unterstützten die Kriminalpolizei(leit)stellen bei Fällen von ‚Rassenschande‘ oder dem Versuch, die Partner:innen sogenannter „Mischehen“ zu trennen.
Nachkriegszeit
Viele der leitenden Beamten der Reichszentrale waren nach 1945 wieder im Polizeidienst tätig, oft in leitenden Funktionen. Heinrich Böhlhoff war von April 1945 bis Ende 1945 Leiter der Kriminalpolizei in Flensburg und in gleicher Funktion ab dem 1. Juni 1948 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1956 bei der Kriminalpolizei in Dortmund. Johannes Otto war von Anfang 1946 bis Juni 1946 in Neumünster tätig, ab dem 1. Juni 1946 als Leiter der Kriminalpolizei für den Regierungsbezirk Münster und ab 1953 als Leiter der Kripo in Recklinghausen. Dr. Hans Maly kehrte 1948 mit seinem alten Dienstgrad zur Kripo in Köln zurück und wurde im Anschluss nach Bonn versetzt, wo er 1953 als Kriminaloberrat seinen Dienst ausübte.
In Bayern gab es nicht nur personelle, sondern auch strukturelle Kontinuitäten. Die Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus wurden ebenso weitergeführt wie die Sondererfassung der Sinti:ze und Rom:nja. 1946 wurde Eichberger wieder in den Polizeidienst eingestellt und Leiter der „Zigeuner-Zentrale“ im Bayerischen Landeskriminalamt in München (später: „Bayerische Landfahrerzentrale“). Eichbergers Fokus lag auf der „Landfahrerermittlung“. Wilhelm Supp wurde im August 1950 als Obersekretär bei der Bayrischen Grenzpolizei eingestellt, wo er ein halbes Jahr später in den Rang eines Inspektors aufstieg. Am 7. April 1952 wurde er zum Bayerischen Landeskriminalamt abgeordnet und war zunächst bis November 1953 Sachgebietsleiter der „Nachrichtensammel- und Auskunftstelle über Landfahrer“. Zum 1. Juli 1960 wurde er zum Leiter der Fahndungsabteilung ernannt, der die „Nachrichtensammel- und Auskunftstelle über Landfahrer“ unterstand.
Ermittlungsverfahren und Prozesse gegen diese Täter der Reichszentrale, die zum Teil von Überlebenden selbst durch Strafanzeigen eingeleitet worden waren, wurden größtenteils frühzeitig ohne Urteil eingestellt. Gründe dafür war unter anderem das stabile Netzwerk der Beschuldigten, die sich gegenseitig entlasteten und die Glaubwürdigkeit von überlebenden Sinti:ze und Rom:nja aufgrund antiziganistischer Kontinuitäten herabzusetzen vermochten. Ein Verfahren gegen ehemalige Angestellte aus dem RKPA und der RHF, das 1958 in Frankfurt am Main zunächst nur gegen Eva Justin (1909–1966) gerichtet gewesen war, bezog eine Vielzahl der Täter:innen ein, wurde jedoch 1971 eingestellt, ohne dass es zu einer einzigen Verurteilung gekommen wäre.