Das im Norden der Niederlande gelegene Lager Westerbork war das zentrale Durchgangslager für die Deportation von Juden:Jüdinnen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager. Auch die wichtigsten Deportationen von Sinti:ze und Rom:nja aus den deutsch besetzten Niederlanden erfolgten über Westerbork.
Westerbork als Lager für jüdische Flüchtlinge
Als Adolf Hitler (1889–1945) und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei 1933 in Deutschland an die Macht kamen, flohen immer mehr Juden:Jüdinnen ins Ausland. Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 gab es einen großen Zustrom von Flüchtlingen in die Niederlande. Die niederländische Gastfreundschaft war nicht besonders groß. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden 10 000 jüdische Flüchtlinge aufgenommen, während andere illegal ins Land kamen. Die niederländische Regierung beabsichtigte nicht, in die Betreuung dieser Menschen zu investieren; alle Hilfsmaßnahmen wurden von Privatpersonen ergriffen.
Als die Regierung erkannte, dass dieser Umgang nicht länger tragbar war, meinte sie, mit der Errichtung eines zentralen Flüchtlingslagers an der Veluwe in der Nähe von Elspeet eine Lösung herbeiführen zu können. Sowohl die Anwohner:innen als auch der Koninklijke Nederlandse Toeristenbond ANWB [Königlich Niederländischer Touring Club ANBW] protestierten, aber entscheidend war der Einspruch von Königin Wilhelmina (1880–1962). Ihr Sekretär teilte dem Innenminister mit, dass ein Flüchtlingslager in der Nähe von Schloss ’t Loo keine königliche Genehmigung erhalten könne. Das Kabinett richtete daraufhin sein Augenmerk auf Drenthe, wo es am Rande der Gemeinde Westerbork ein großes Gebiet mit unbebautem Land gab.
Die Bauarbeiten begannen im August 1939, und am 9. Oktober 1939 kamen die ersten jüdischen Flüchtlinge im Zentralen Flüchtlingslager Westerbork an. Diese ersten Bewohner:innen mussten bei der Einrichtung des Lagers mithelfen. Anfangs lebten nur wenige Menschen in dem Lager. Ende Januar 1940 zählte es 167 Bewohner:innen. Ab Februar 1940 stieg die Zahl rasch an: Ende April lebten bereits 749 Flüchtlinge in Westerbork.
Nach dem deutschen Einmarsch im Mai 1940 wurde das Reglement im Flüchtlingslager verschärft, die Disziplin wurde strenger. Unter der Leitung des neuen Kommandanten wurde die Sicherheit verstärkt. Anstelle einiger Wachposten war nun eine Abteilung von 15 Marechaussee-Offizieren (niederländische Gendarmerie) zuständig. Morgens und nachmittags wurden Appelle abgehalten, die Briefzensur verschärft und das Fahrradfahren verboten.
Durchgangslager Westerbork
Als die Nationalsozialisten Anfang 1942 mit der systematischen Ermordung der Juden:Jüdinnen begannen, hatte dies auch Auswirkungen auf Westerbork. Das Lager wurde durch den Bau einer großen Anzahl von Baracken und kleineren Gebäuden erweitert. Am 1. Juli 1942 wurde es als Durchgangslager ausgewiesen. Der niederländische Kommandant des Flüchtlingslagers blieb zwar bis Januar 1943 im Amt, doch übernahm ein Kommandeur des Sicherheitsdienstes (SD) die Leitung.
Nach der Übernahme wurden Stacheldrahtzäune und sieben Wachtürme errichtet. Ein SS-Wachbataillonstellte bis Anfang 1943 die Außenüberwachung sicher. Für die Ordnung innerhalb des Lagers sorgten die jüdische Polizei (Ordnungsdienst) und niederländische Marechaussee-Beamte, die später auch für die Außenüberwachung zuständig waren. Im Sommer 1944 wurden sie durch eine Kompanie des Amsterdamer Polizeibataillons abgelöst. Diese Polizeitruppe bestand größtenteils aus in Schalkhaar ausgebildeten Beamten.
Ab Oktober 1942 wurde das Lager Westerbork von SS-Obersturmführer Albert Konrad Gemmeker (1907–1982) geleitet. Seine Vorgänger waren an ihrer Aufgabe gescheitert, weil sie in ihrem Bemühen, die Häftlinge so schnell und geräuschlos wie möglich zu deportieren, zu viel Widerstand und Unruhe im Lager hervorgerufen hatten. Gemmeker erwies sich als geschickter, wenn es darum ging, die Pläne umzusetzen. Er war stolz darauf, dass das Durchgangslager perfekt funktionierte, ohne Probleme und Zwischenfälle. Im Lager gab es keine brüllenden und mordenden SS-Männer, und Gemmeker wirkte im Allgemeinen wie ein „anständiger Herr“, der die Häftlinge gut behandelte.
Als Westerbork noch als Flüchtlingslager diente, wurde von deutschen und österreichischen Juden:Jüdinnen eine Lagerorganisation gegründet. Viele von ihnen waren bereits in den 1930er-Jahren in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen. Sie wussten, dass die Bedingungen in einem Lager besser waren, wenn die Menschen versuchten, die Dinge so weit wie möglich selbst in die Hand zu nehmen, anstatt dies den Nationalsozialisten zu überlassen. Nachdem Westerbork zu einem Durchgangslager geworden war, dominierten sie weiterhin die innere Lagerorganisation. Obwohl die Aussichten für die Häftlinge düster waren, wurde vor allem in den Jahren 1943 und 1944 alles getan, um Westerbork nicht als letzte Station auf dem Weg ins Verderben erscheinen zu lassen. Die Menschen konnten Kurse besuchen und Sport treiben. Sogar Einkaufen war möglich. Im Lager gab es eigenes Geld, das im Lagerladen und in der Kantine ausgegeben werden konnte. In einer Wechselstube konnte das letzte „normale“ Geld in Westerborker Scheine umgetauscht werden. Und in der Registrierungsbaracke wurden regelmäßig Revuen, Konzerte und Theaterstücke aufgeführt.
Dennoch war der Alltag in Westerbork hart. In den meisten Baracken gab es nur wenig Platz und keine Privatsphäre. Die sanitären Bedingungen ließen zu wünschen übrig. Und es gab die ständige Angst vor dem wöchentlichen Transport.
Deportationen
Mehr als 100 Züge verließen Westerbork in Richtung der Konzentrations- und Vernichtungslager in Mittel- und Osteuropa. Am 15. und 16. Juli 1942 wurden die ersten Häftlinge in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert: 2 030 Juden:Jüdinnen, darunter einige Waisenkinder. Die Westerborker Häftlinge lebten von Transport zu Transport. So blieb es bis zum 13. September 1944, als der letzte Zug mit 279 Menschen nach Bergen-Belsen abfuhr. Unter ihnen befanden sich 77 Kinder, die in ihren Verstecken gefangen genommen worden waren.
Mehr als 100 000 Männer, Frauen und Kinder wurden über Westerbork „in den Osten“ deportiert; das bekannteste Opfer war das jüdische Mädchen Anne Frank (1929–1945). Die meisten Züge fuhren nach Auschwitz. Andere Transporte hatten Sobibor, Theresienstadt und Bergen-Belsen als Ziel. Wenige fuhren in die Lager Buchenwald und Ravensbrück. Insgesamt kehrten nur 5 000 Menschen zurück.
Sinti:ze und Rom:nja
Unter den deportierten Männern, Frauen und Kindern befanden sich auch mehrere Hundert Sinti:ze und Rom:nja. Ihre Inhaftierung im Lager Westerbork begann im Sommer 1943. Am 1. Juli 1943 verhängten die Nationalsozialisten eine Festsetzung [trekverbod] für Personen, die in Wohnwagen lebten, wovon auch die in den Niederlanden ansässigen Sinti:ze und Rom:nja betroffen waren. Von den rund 2 700 Wohnwagen in den Niederlanden mussten 1 163 in große Sammellager gebracht werden. Ein Teil der Sinti:ze und Rom:nja tauchte unter, zog in leer stehende Häuser oder versteckte sich in Wäldern oder Höhlen. Mehrere Hundert Familien entschieden sich, in den Sammellagern zu leben. Verlassene Wohnwagen wurden auf Lagerplätze gebracht. Das Lager Westerbork in Drenthe diente dabei als Lagerplatz. Die Wohnwagen wurden auf der Müllhalde des Lagers abgestellt, wo sie unter anderem als Arbeitsschuppen genutzt wurden.
Ankunft und Selektion
Am 14. Mai 1944 wurde in den Niederlanden die landesweite Razzia gegen Sinti:ze und Rom:nja angeordnet. Daraufhin wurden am 16. Mai 1944 578 Sinti:ze, Rom:nja und Reisende von überwiegend niederländischen Polizeibeamten verhaftet und nach Westerbork gebracht. Nach ihrer Ankunft im Lager wurden die Sinti:ze und Rom:nja in die Registrierungshalle gebracht. Alle Wertsachen wurden registriert, beschlagnahmt und eingelagert; anderes Eigentum wurde verbrannt. Anschließend wurden die neuen Häftlinge rasiert und entlaust, ein Verfahren, das mehrere Stunden dauerte.
Bei der Registrierung wurde festgestellt, dass 60 Personen italienische, guatemaltekische oder schweizerische Pässe besaßen. Die Konsul:innen der genannten Länder wurden gefragt, wie mit diesen Sinti:ze und Rom:nja umgegangen werden solle. Die italienischen und guatemaltekischen Vertreter:innen setzten sich erfolgreich für die Freilassung ein. Der italienische Konsul kam sogar persönlich nach Westerbork, um die Angelegenheit zu besprechen. Das Schicksal der Schweizer war zwiespältig: Sechs wurden trotzdem abgeschoben. Die Bürgermeister von Utrecht, Zutphen und IJsselstein, alle Mitglieder der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), gehörten zu denjenigen, die das Telegramm vom 14. Mai zum Anlass genommen hatten, alle „asozialen Elemente“ aus ihren Gemeinden zu entfernen. Dies entsprach jedoch nicht der Deportationspolitik der deutschen Besatzungsmacht, und so wurden 279 Reisende nach einigen Tagen in Westerbork wieder freigelassen.
Die verbleibende Gruppe von 245 Sinti:ze und Rom:nja wurde in Baracke 69 eingesperrt, einer 1942 errichteten großen Wohnbaracke mit einer Gesamtgröße von 80 mal 10 Metern. Zu dieser Gruppe von 245 Personen gehörten 71 Männer, 63 Frauen und 111 Kinder unter 18 Jahren. Fünfundvierzig von ihnen hatten niederländische Pässe, 190 waren staatenlos. Von den zehn anderen Sinti:ze und Rom:nja beriefen sich sechs auf eine schweizerische Staatsangehörigkeit, drei waren Deutsche und eine Frau besaß einen spanischen Pass.
In der Baracke 69 befanden sich zwei große Schlafsäle mit dreistöckigen Etagenbetten. Während ihres Aufenthalts in dieser Baracke wurden die Sinti:ze und Rom:nja von Angehörigen der jüdischen Polizei des Lagers bewacht. Sie wurden von den Sinti:ze und Rom:nja gefragt, was mit ihnen geschehen werde, eine Frage, auf die auch diese jüdischen Mitgefangenen keine Antwort hatten.
Deportation am 19. Mai 1944
Am 19. Mai 1944 wurden die 245 Sinti:ze und Rom:nja in die letzten Waggons eines wartenden Zuges im Lager Westerbork geleitet. Kurze Zeit später fuhr dieser Transport – mit einem Zwischenstopp auf dem Bahnhof in Assen, wo ein Zug mit jüdischen Häftlingen aus Mechelen (Kaserne Dossin) angekoppelt wurde – nach Auschwitz-Birkenau. Die große Mehrheit der deportierten Sinti:ze und Rom:nja war noch keine 18 Jahre alt.
Die Abfahrt des Zuges mit den 245 Sinti:ze und Rom:nja wurde von dem deutsch-jüdischen Filmemacher Rudolf Breslauer (1903–1945) im Auftrag des Lagerkommandanten Gemmeker gefilmt. Kurz nach seiner Ankunft in Westerbork im Jahr 1942 war Breslauer zum „offiziellen Lagerfotografen“ ernannt worden. Breslauer hatte viele verschiedene Aspekte des Lebens in Westerbork fotografiert, und Anfang 1944 beauftragte ihn Gemmeker, Westerbork „in all seinen Tätigkeiten“ mit der Kamera festzuhalten. Mit dem Film wollte Gemmeker seine Vorgesetzten von der Rolle überzeugen, die das Lager in der Kriegsproduktion spielen könnte. Solange Westerbork als kriegswichtig angesehen wurde, so argumentieren die meisten Historiker:innen, glaubte Gemmeker, dass er eine Versetzung an die Ostfront vermeiden konnte. Von Februar bis Mai 1944 fanden in Westerbork umfangreiche Dreharbeiten statt. Im Frühsommer 1944 kamen die Dreharbeiten abrupt zum Stillstand: Gemmeker verbot weitere Dreharbeiten wegen eines angeblichen Konflikts. Zurück blieben Hunderte von Metern unbearbeitetes Filmmaterial, das heute als Westerbork-Film bekannt ist. Diese Filmbilder, die zu einem umfangreichen, zweistündigen Film über das Leben in Westerbork gehören, wurden nach dem Krieg zu einer wichtigen Quelle für die historische Forschung und die visuelle Repräsentation des Lagers. Sie wurden in NS-Prozessen als Beweismittel verwendet, in Dokumentarfilmen und Ausstellungen gezeigt und waren Gegenstand wissenschaftlicher Debatten.
Vor allem die Bilder der abfahrenden Transporte wurden weltweit zu einem Symbol der Shoah. Das berühmteste Bild zeigt ein Mädchen, das durch die Waggontüren hinausschaut. Sie wurde erst in den 1990er-Jahren als Anna Maria „Settela“ Steinbach (1934–1944) identifiziert, eine junge Sinteza, die im August 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Nur 31 der am 19. Mai 1944 deportierten Sinti:ze und Rom:nja überlebten den Krieg.
Befreiung und Nachkriegsgeschichte
Am 12. April 1945 wurden mehr als 850 jüdische Gefangene im Lager Westerbork von kanadischen Soldaten befreit. Westerbork wurde später noch für andere Zwecke genutzt. Es diente nacheinander als Internierungslager für Niederländer:innen, die der Kollaboration verdächtigt wurden (1945–1948), als militärisches Ausbildungslager für junge niederländische Soldaten (1949), als vorübergehender Aufenthaltsort für aus Indonesien repatriierte Niederländer:innen (1950–1951) und als Wohngebiet für mehrere Tausend Molukker:innen (1951–1971). Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden die meisten Gebäude des Lagers Westerbork abgerissen und/oder verkauft, und das Niederländische Institut für Radioastronomie errichtete auf dem ehemaligen Lagergelände Radioteleskope.
Seit 1983 befindet sich in der Nähe des Ortes die Gedenkstätte Kamp Westerbork. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte von Westerbork lebendig zu halten, indem sie unter anderem Gedenkveranstaltungen organisiert, als Museum dient und Bildungsangebote bereithält. Auch an die deportierten Sinti:ze und Rom:nja wird erinnert. So wurde Anfang der 1990er-Jahre auf dem Gelände das Denkmal De 102 000 Stenen [Die 102 000 Steine] aufgestellt, ein Mahnmal mit einem Stein für jeden aus dem Lager Westerbork deportierten und ermordeten Mann, jede Frau und jedes Kind. Die Community der Sinti:ze und Rom:nja war an der Gestaltung und Ausführung beteiligt. Auf ihren Wunsch hin wurde auf 245 Steinen eine Flamme aufgebracht, um an die deportierten Sinti:ze und Rom:nja zu erinnern. Seit 1994 findet hier mindestens alle fünf Jahre eine eigene (nationale) Gedenkveranstaltung für die deportierten und ermordeten Sinti:ze und Rom:nja statt.