Im Konzentrationslager Auschwitz existierte von 1940 bis 1944 eine sogenannte Maurerschule, in der jugendliche männliche Häftlinge ausgebildet wurden, um sie zu Zwangsarbeiten einzusetzen. Namentlich bekannt sind 305 jugendliche Sinti und Roma, die aus dem Lagerbereich BIIe in Auschwitz-Birkenau dorthin überstellt wurden.
Einrichtung
Der sogenannten Maurerschule in Auschwitz ist bislang in der Literatur insbesondere im Zusammenhang mit der Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja relativ wenig Beachtung geschenkt worden.1Zu den Maurerschulen insbesondere: Buser, Überleben, 165–179. Jastrzębska, Die Maurerschule; Steinert, Holocaust, 216–227. Angeordnet wurde sie am 1. November 1940 durch ein Schreiben des Inspekteurs der Konzentrationslager Richard Glücks (1889–1945), der für lagerinterne Bauarbeiten „eine möglichst schnelle Schulung einer großen Zahl von Häftlingen im Maurerberuf“ forderte, wobei bei der Auswahl der Häftlinge darauf zu achten war, dass sie „voraussichtlich längere Zeit im Lager bleiben“ würden.2Zitiert nach: Jastrzębska, Maurerschule, 310. Ähnliche Einrichtungen gab es in anderen Konzentrationslagern. So wurden in Buchenwald ebenfalls Maurer ausgebildet,3Albertus, Verbrechen, 29–33. in Mauthausen Steinmetze,4Perz, Kinder und Jugendliche, 79f. in Majdanek Dachdecker.5Arolsen Archives (ITS), 82115889, WVHA an KGL Lublin, Häftlingsausbildung – Häftlingsausbilder, 4.3.1943. Die Ausbildung sollte der SS (Schutzstaffel) langfristig auch dazu dienen, über eine genügend große Anzahl an qualifizierten Zwangsarbeitern für die nach dem Ende des Krieges geplanten Großbauten im Deutschen Reich sowie in den besetzten Gebieten der Sowjetunion verfügen zu können.6Buser, Überleben, 166.
Untergebracht waren die ersten auszubildenden Häftlinge, bei denen es sich überwiegend (vielleicht sogar ausschließlich) um polnische Jugendliche handelte, zunächst in Block 3, später in Block 5 des Stammlagers, während auf dem Platz vor Block 4 die praktischen Übungen stattfanden. Daneben erhielten die Häftlinge theoretischen Unterricht in deutscher Sprache. Nach Aussage eines Überlebenden wurden zunächst 300 Jugendliche geschult.7Zum folgenden: Jastrzębska, Maurerschule, 309–317. Der erste Ausbildungskurs endete im Frühjahr 1941, ohne dass zunächst weitere Lehrgänge folgten. Im Stammlager hatten die neuen Maurer unter anderem beim Umbau eines Munitionsmagazins zu einem Krematorium zu helfen, das auch für Exekutionen und als Gaskammer genutzt wurde; ferner mussten sie beim Bau der Gaskammern und Krematorien in Birkenau arbeiten.
Die zweite nachweisbare Maurerschule wurde am 16. Juli 1942 für zunächst 302 Auszubildende in Birkenau gegründet. Die Zahl der „Schüler“ wuchs bis August 1942 auf 712 an, ehe die Einrichtung am 29. September wieder in das Stammlager verlegt wurde. Von den 522 Häftlingen, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Maurerschule befanden, blieben allerdings 321 zur Zwangsarbeit in Birkenau, während 201 in Block 7a des Stammlagers umzogen. Der Unterricht erfolgte nun in geschlossenen Räumen; die praktischen Übungen fanden auf dem Dachboden statt.
Die Häftlinge der Maurerschule
Für die folgenden Monate hat sich ein Register der Schule erhalten, das vom ehemaligen Häftling Louis Posner (geb. 1926) nach der Befreiung im Konzentrationslager Monowitz gefunden und mitgenommen wurde, ehe er es 1976 dem Simon Wiesenthal Zentrum in Los Angeles, USA, übergab.8Vgl. die Katalogbeschreibung des Simon Wiesenthal Zentrums, wiedergegeben auf der Website des United States Holocaust Memorial Museum: https://www.ushmm.org/online/hsv/source_view.php?SourceId=33030 [Zugriff: 13.6.2024]. Die Eintragungen umfassen den Zeitraum vom 3. Oktober 1942 bis 1. Juni 1943 mit einer Lücke zwischen dem 5. und dem 15. März 1943. Sie enthalten Angaben über 974 Häftlinge, die zum Teil mehrfach verzeichnet wurden, so dass das Buch insgesamt 1 510 Eintragungen aufweist. Die meisten waren 16 bis 19 Jahre alt, ferner gab es 52 Häftlinge im Alter von zwölf bis 15 Jahren. Bei 622 handelte es sich um Juden, bei 305 um Sinti und Roma. Der erste Jugendliche aus der Minderheit der Sinti und Roma, der 1925 geborene Johann Waszkowski (auch Jan Wackowski), wurde am 7. April 1943 in der Maurerschule registriert. Den höchsten Stand erreichte die Schule am 14. April 1943 mit 452 Häftlingen. Von den 974 Jugendlichen wurden mindestens 202 in Auschwitz ermordet; 79 von ihnen während ihrer Ausbildungszeit.
Lehrgänge wurden bis gegen Ende 1944 durchgeführt, ehe die Häftlinge der letzten Ausbildungsgruppe (nun in Block 13 untergebracht) in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert wurden, wo sie am 27. November 1944 eintrafen.
Der Historikerin Halina Jastrzębska folgend, die die Maurerschulen in Auschwitz in einem 2009 veröffentlichten Aufsatz eingehend statistisch analysiert hat, kamen von den 305 Sinti und Roma 196 (64 %) aus dem Deutschen Reich (einschließlich Österreich) und 81 (26 %) aus dem Protektorat Böhmen und Mähren. Bei den übrigen zehn Prozent handelte es sich um als staatenlos geführte Sinti und Roma, um Roma mit polnischer oder kroatischer Nationalität sowie um Roma, deren Staatsangehörigkeit als nicht feststellbar vermerkt wurde.9Jastrzębska, Maurerschule, 320. Da das überlieferte Register nur wenige Monate umfasst und zudem lückenhaft ist, ist zu vermuten, dass insgesamt mehr als die 305 namentlich bekannten Sinti und Roma die Maurerschule durchlaufen haben.
Überlebensbedingungen
Ohne Zweifel trugen die Überstellung in die Maurerschule (was mit einem Entkommen der entsetzlichen Bedingungen im Lagerbereich BIIe verbunden war) und die darin vermittelten theoretischen und praktischen Kenntnisse zum Überleben der jungen Sinti und Roma bei. Dennoch scheint das Bild, das in der Literatur lange Zeit von der Maurerschule herrschte, allzu euphorisch zu sein. Geprägt wurde es durch die überwiegend positiven Beschreibungen des 1929 geborenen Thomas Geve (alias Stefan Cohn), dessen autobiographische Schriften ab Ende der 1950er Jahre erschienen. Bemerkungen wie „einzigartige Schutzinsel der Jugend“, „Zufluchtsort“ oder „Asyl für die Jungen, wo man einige Wochen in Sicherheit verbringen und das Handwerk erlernen konnte“, haben die von Geve ebenfalls erwähnten Selektionen sowie die mitunter brutale Behandlung der Kinder und Jugendlichen in den Hintergrund treten lassen.10Geve, Geraubte Kindheit, 68, 71, 90f. Zudem wurden einige jüdische Häftlinge während ihrer Zeit in der Maurerschule Opfer von Sterilisationsexperimenten.11Steinert, Holocaust, 223–227.
Die Kurse dauerten offenbar unterschiedlich lang. Einige Überlebende berichteten von einigen Monaten, andere von lediglich einigen Wochen, in denen Grundkenntnisse vermittelt wurden, einschließlich Maß nehmen, Skizzen und Pläne lesen und anfertigen, Fundamente graben und mauern. Geschlafen wurde in dreistöckigen Etagenbetten, von denen jeder Häftling eine Pritsche sowie eine (saubere) Decke zugewiesen bekam. Auch erhielt jeder einen Löffel und ein Essgeschirr, aus dem die Mahlzeiten auf Bänken sitzend an Tischen eingenommen wurden.
Diese in der Literatur allgemein beschriebenen Lebens- und Arbeitsbedingungen12Siehe Anm. 1. finden sich in den Zeugnissen einiger Sinti und Roma wieder. Rudolf W. (geb. 1927) beispielsweise, der zusammen mit seinem Bruder in die Maurerschule kam, berichtete über besseres Essen als in Birkenau. Er erinnerte sich an das Holzbett, in dem er schlief, aber auch daran, dass viel geschlagen wurde,13Gedenkstätte Bergen-Belsen, Interview mit Rudolf W., 26.3.2003. während Antonin Hlaváček (geb. 1926) hervorhob, dass er zusammen mit 20 anderen in einem Raum in einem dreistöckigen Bett mit Strohmatratze unter einer Decke schlafen musste.14US Holocaust Memorial Museum (USHMM), RG-50.444.0017, Interview mit Antonin Hlaváček, 20.6.1997. Jan Holomek (geb. 1928) hingegen betonte, dass die hygienischen Bedingungen und die Waschgelegenheiten wesentlich besser als in Birkenau waren. Als er sich am Auge verletzte, wurde er medizinisch versorgt und durfte für einige Zeit den anderen bei der Ausbildung zuschauen.15USHMM, RG-50.444.0004, Interview mit Jan Holomek, 8.3.1997.
Otto Rosenberg (1927–2001) war lediglich für kurze Zeit in der Maurerschule, wo er auf einige Häftlinge traf, die er bereits aus dem Zwangslager Berlin-Marzahn kannte. In seiner autobiografischen Schrift „Das Brennglas“ beschrieb er die Ausbildung folgendermaßen: „Wir karrten Sand, lernten, Speis einzurühren und die Kelle zu führen, wie man sich die Steine zurechtlegt, wie man den Eimer stellt, damit das ein Bild gibt, einige Handgriffe. Seither kann ich mauern.“16Rosenberg, Das Brennglas, 49f.
Ähnlich äußerte sich Sebastian Daniel (geb. 1922), der sich zudem daran erinnerte, dass bei seiner Ankunft eine gerade von anderen Schülern fertiggestellte Mauer wieder eingerissen wurde und von seiner Gruppe wieder aufgebaut werden musste. Er lernte den Umgang mit Ziegeln und mit Steinen. Danach arbeitete er außerhalb des Konzentrationslagers zusammen mit polnischen Zivilisten, denen es streng verboten war, den Häftlingen irgendetwas zukommen zu lassen. Einige missachteten jedoch das Verbot und warfen den Jugendlichen Brotstücke zu, die sie sofort hinunterschlangen. Ferner half er beim Bau von Krematorien und Wachtürmen. Schlimmer noch als die Bewacher der SS seien die Kapos der Maurerschule gewesen, erinnerte er sich, die mit Gürteln zuschlugen und sich am Essen der Mithäftlinge bereicherten.17USHMM, RG-50.444.0013, Interview mit Sebastian Daniel, 18.6.1997.
Wie andere Häftlinge der Maurerschule musste Karl C. (geb. 1927) während der Ausbildungszeit außerhalb des Geländes, auf dem die Schule untergebracht war, arbeiten. Unter anderem half er, die Waschräume im Lagerbereich BIIe zu betonieren.18Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Celle, Sammlung ZNW, Interview mit Karl C., 27.1.1989. Rudolf W. wurde beim Bau von Kasernengebäuden eingesetzt;19Gedenkstätte Bergen-Belsen, Interview mit Rudolf W., 26.3.2003. Jan Holomek musste unter anderem Dächer reparieren.20USHMM, RG-50.444.0004, Interview mit Jan Holomek, 8.3.1997. Gemeinsam ist allen Überlebenden, dass sie nach kurzer oder längerer Zeit in andere Lager deportiert wurden, unter anderem nach Buchenwald, in die Lager Dora und Ellrich, die zum Konzentrationslager Mittelbau-Dora gehörten, sowie nach Bergen-Belsen.
Überlebenschancen
Hat die Ausbildung in der Maurerschule beim Überleben geholfen? Im Rahmen einer Studie über Kinderzwangsarbeiter wurden die Namen der 162 Sinti und Roma, die im oben genannten Register enthalten waren und 1925 oder später geboren wurden, an die Bundeszentralkartei bei der Bezirksregierung Düsseldorf geschickt, wo ein Register aller Entschädigungsverfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz geführt wird. Nach Auskunft dieser Stelle haben von diesen 162 Sinti und Roma, deren Namen im Register der Maurerschule Auschwitz aufgeführt wurden, 66 persönlich eine Entschädigung beantragt, was bedeutet, dass sie Auschwitz und den Genozid überlebt haben.21Korrespondenz des Autors mit der Bundeszentralkartei im November und Dezember 2022. Die Zahl der Überlebenden unter den 162 Sinti und Roma war jedoch höher, da lediglich 64 Prozent der Sinti und Roma im Register der Maurerschule aus dem Deutschen Reich, einschließlich Österreich, stammten. Diejenigen aus Österreich konnten in der Bundesrepublik keine Anträge auf Entschädigung stellen, ebenso die rund 36 Prozent Sinti und Roma, die außerhalb der Grenzen des Deutschlands von 1937 lebten. Und schließlich enthält die Bundeszentralkartei keine Informationen über Sinti und Roma, die nach 1945 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gelebt haben. Zieht man dies in Betracht, so dürfte eine Schätzung nicht unbegründet sein, dass vielleicht 70 Prozent der in der Maurerschule ausgebildeten Häftlinge überlebt haben, während die Mehrzahl der nach Auschwitz-Birkenau deportierten Sinti und Roma ermordet wurde. Unter letzteren befanden sich Eduard Rose (1930–1943), einer der jüngsten Maurerschüler, sowie die beiden 1924 geborenen Maurerschüler Albert Bernhardt und Rudolf Stein, die eine Flucht aus Auschwitz wagten, aber ergriffen wurden. Sie wurden anschließend im gefürchteten Bunker von Block 11 inhaftiert und am 22. Mai 1943 an der „Todeswand“ zwischen Block 10 und 11 erschossen.22Jastrzębska, Maurerschule, 336.